Dringlichkeiten
Eigentlich gab es nichts ohne Dringlichkeit, weil es sonst nichts gab.
Trotzdem arbeitete die sozialistische Volkswirtschaft in den Jahren, in denen ich unmittelbar dabei war.
Problematisch war das Erhalten/Renovieren/Rekonstruieren bestehender Strukturen. Ein Haus zu modernisieren war ungeheuer kompliziert, weil alles, ob Kapazitäten, Material oder Leistungen, bilanziert wurde.
Da über allem unterschiedliche Gewichtungen standen, gab es eine Vielzahl von Dringlichkeiten.
Über allem thronte der PLAN.
Über alles gab es eine Statistik. Zur Statistik gehörte ein Amt, präsent und überwichtig bis in die kleinste Stadt, die simpelste Struktur.
Bilanzanteile – ohne sie gab es kein reales Leben.
Man plante Schrott, BOB (Berufsoffiziersbewerber) und BUB (Berufsunteroffiziersbewerber), man plante Import und Export ins SW(soz. Wirtschaftsgebiet) und NSW(Nichtsoz. Wirtschaftsgebiet).
Das „Statistische Jahrbuch der DDR“ war ein repräsentatives Druckwerk in Großauflage und im Leineneinband.
Doch zu Dringlichkeiten.
Wer neu baute, brauchte nicht nur Bilanzanteile und Kapazitäten (später auch Forumschecks oder D - Mark), man brauchte eine Dringlichkeit.
Höchste Form der Dringlichkeit war die LV Nummer – LV stand für Landesverteidigung.
Selbst Wurst – und Backwaren nebst ihrer Produktion liefen am Ende unter dieser Flagge, denn was wäre die „Friedenswacht“ ohne adäquate Wichtigkeit.
Und woher sollten Rohstoffe und Gewürze kommen, wenn man sie nur über streng zugeteilte Valuta bestellen konnte.
Leber aus Chikago und Rinder aus Brasilien habe ich schon in den Sechziger Jahren entladen.
Wer konnte, besser wer dabei war, hatte eine LV Nummer und war überdringlich.
Dinglichkeiten des Ministerrates, als ich vom Studium zum Aufbau eines Industriegeländes (IGI) kam, hatten wir eine solche Dringlichkeit, die wiederum auf die einzelnen Ministerien zugeschnitten war. Unser MfGK (Min. für Glas und Keramik; entstanden aus dem MfL – Min. für Leichtindustrie) war eher undringlich oder wenig wichtig.
Trotzdem musste auf jedem Vertrag diese Nummer stehen.
Aber es gab keinen Wettbewerb. Es gab zwar Liefertermine, aber keiner hielt sich daran. Es gab Firmen zu bestellen, nur der Wirtschaftsvertrag (es gab sogar ein Vertragsgericht beim Ministerrat) war das Papier nicht wert, auf das er geschrieben war. Ungezählte Durchschläge, original unterschrieben, mit Stempel gesiegelt und mit Dringlichkeit geadelt schlängelten sich von Büro zu Büro.
Der Leiter einer allgemeinen Verwaltung war damals echt wichtig, denn er organisierte den Postversand und den Posteingang.
Begann ein neues BV (Bauvorhaben), gab es eine GE (Grundsatzentscheidung) und Dringlichkeiten und Bilanzanteile.
Ende der Achtziger arbeitete ich in einem Kreisbaubüro, mit Kreisbilanzanteilen und ohne Dringlichkeiten.
Wir planten und bauten einen Großblock in schneesicherer Gegend.
Bis zum Baubeginn war nicht ganz klar, wie man den Block (32 WE – Wohnungseinheiten) beheizen sollte. Letzte Weisheit war ein Containerheizwerk, welches mit RBK (Rohbraunkohle) zu beheizen war.
Die Beschaffung EINES Containers war schier unmöglich und als nichts mehr ging fuhren Funktionäre vom Kreisrat und unser Direktor zum Hersteller und nahmen Relais aus dem ortsansässigen Herstellerbetrieb mit, in dem der Block gebaut wurde.
Noch wenige Tage davor rätselte man, wie und ob man sich eine LV – Nummer erschleichen könne.
Der 32 WE Block wurde gebaut und dann kam die „Wende“.
2011-03-01