Kapitel 4
„Du  verdammter Narr, willst du uns alle in Gefahr bringen?“ Chorm konnte  sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben so wütend gewesen zu sein.  „Es ist viel zu gefährlich, alleine durch ein Gebirge zu laufen, das wir  selber nicht ansatzweise kennen.“ Palos starrte seinen Bruder  selbstsicher an. In seinen Augen blitze der Hass. Hatte er eben noch,  auf dem Weg zurück zu seinem Rudel, Bedenken und Zweifel an dem  Hinterhalt gehabt, waren die nun wie weg gewischt. Er war zu allem  Entschlossen. Sein Rudel hätte es bei Ihm besser, da war er sich sicher.  
 „Reg dich ab, Bruder. Es besteht kein Grund sich aufzuregen.“
 „Was soll das heißen?“ brummte Chorm.
 „Das heißt, dass ich es war, der die Quelle gefunden hat.“
 „Was, wo? Wo ist sie? Rede schon!“
 Palos flüsterte, so dass ihn nur sein Bruder hören konnte, die anderen  Wölfe befanden sich einige Schritte weiter und die meisten schliefen  bereits. 
 „Sie befindet sich den Pfad entlang, zischen den zwei gebogenen Felsen,  dort drüben. Du solltest gleich hingehen und das Gebiet auskundschaften,  ich wecke in der Zeit die anderen. 
 Chorm war verwundert, das Palos auf einmal so kooperativ agierte, dieser  Gedanke wurde aber schnell überschattet, von einem stechenden Durst,  der sich wie eine Kette um den Hals des Alpha-Tieres legte. 
 „Gut, Bruder, das war wirklich gute Arbeit, vielen Dank. Aber das  nächste Mal hörst du auf mich! Ich mache mich gleich auf den Weg, dir  übertrage ich die Verantwortung.“
 Das war es, das war der Moment. Palos konnte seine Freude kaum  unterdrücken. Schnellen Schrittes machte er sich auf, um es so aussehen  zu lassen, als würde er die anderen Wölfe wecken. Dann drehte er sich um  und sah, wie Chorm bereits zwischen den beiden Felsen verschwand. 
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 Die Dämmerung hatte mittlerweile eingesetzt. Cula war bereits ein paar  Stunden ununterbrochen geflogen. Er war erschöpft, versuchte aber mit  aller Kraft durchzuhalten, denn er war im Gebirge angelangt. Seine  Flughöhe hatte er mittlerweile gesenkt und seinen Flug deutlich  verlangsamt, um so nach den Tieren Ausschau zu halten. Die anderen  Vögel, die Löwenfamilie, die Hirsche, Rehe, Füchse und die meisten  anderen Tierarten des Tals hatte er bereits gefunden und nach langer  Überredung dazu gebracht, umzukehren und zu Ben zu gehen. Er hatte ihnen  einfach erzählt, Ben hätte einen Plan. Und er hoffte, dass dies  wirklich der Fall war, aber er kannte seinen besten Freund lange genug,  um zu wissen, dass dem König des Tals immer etwas eingefallen war. Die  Frage war: Wie lange würde seine Kraft noch reichen. Ihm war bereits am  Morgen aufgefallen, dass Ben geistesabwesend war, das seine Äste  vertrockneten. Er hatte sehr schwach gewirkt. Besorgt beschleunigte der  Paradiesvogel wieder ein wenig. Er wollte seinem Freund so schnell wie  möglich beistehen. Aber er musste erst Chorm und die Wölfe finden und  das ziemlich schnell, denn die Dunkelheit nahm rapide zu. 
 Doch da schimmerte etwas, direkt unter ihm. Langsam, so dass er nicht  entdeckt werden konnte, ließ er sich tief fallen, bis er das Gebiet  unter ihm genau überblicken konnte. Da war ein Tier. Ein sehr großes  Tier mit hellgrauem Fell. Es hatte ein beängstigende Statur, schien eine  unfassbare Kraft in sich zu haben. Dann flog er noch ein Stück näher  heran. Das war ein Panther. Ein riesiger grauer Panther. Das war das  Tier, das vor etlichen Jahren aus dem Tal geworfen wurde, weil es  gemordet hatte, andere Tiere nicht als Freunde, sondern als Beute  angesehen hatte. Dieses Tier war abgrundtief böse. Und jetzt befand es  sich hier im Gebirge auf einem großen Felsvorsprung, die Muskeln  gespannt, jederzeit zum Sprung bereit. Etwas tiefer war ein Pfad, da  bewegte sich auch etwas. „Wenn es nur nicht so dunkel wäre…….. Was ist  das?“ Dann durchfuhr den Vogel der Schreck wie ein Blitz. Das war Chorm!  Und der Panther war kurz davor ihn anzufallen. 
 
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 Seine Wolfsaugen konnten zum Glück sehr gut sehen im Dunkeln, denn es  war mittlerweile beinahe die Sonne untergegangen. Chorm wusste, weit  kann es nun nicht mehr sein. Wie lange war Palos vorhin fort gewesen?  Eine Stunde? Zwei? Sein Zeitgefühl hatte er schon lange verloren. So  sehr er auch standhaft war, so mutig er sein Volk durch die Berge  führte, so schwach war auch er mittlerweile geworden. Auch ihm fiel das  Denken, das Überlegen bereits immens schwer. Doch seit sein Bruder, der  Hitzkopf, mit der Nachricht der nahen Rettung gekommen war, hatte das in  ihm noch einmal alle Kräfte mobilisiert. Seine Sinne waren wachsam wie  nie zuvor. Jeder Stein, jeder Felsvorsprung, jede Pflanze wurde genau  untersucht. Wo konnte diese vermaledeite Quelle nur sein? Er müsste  längst ein Plätschern hören. Die Pflanzen wurden zwar immer zahlreicher,  das hieß irgendwo in unmittelbarer Nähe musste Wasser sein, weit und  breit war jedoch nichts zu sehen, zu riechen, zu spüren. Er glaubte, ein  Knacken zu hören. Er sah sich um, erblickte jedoch nichts Verdächtiges.  Der Wolfsherr ärgerte sich immer noch über die Art seines Bruders. Auch  wenn sie sich nie sonderlich verstanden hatten, hatte er sich doch  Sorgen gemacht. Er hoffte, wenn auch schon sehr lange, dass Palos früher  oder später seine hitzköpfige Art ablegen und vernünftig werden würde. ´
 Die Suche des Rudelführers ging sehr langsam und gemächlich voran. Er  wollte unbedingt fündig werden, wollte nichts übersehen. Wenn es ihm  gelänge sein Volk zu retten, hätten sie vielleicht genug Kraft, das  Wasser irgendwie ins Tal umzuleiten, so auch ihre Heimat vor der  Katastrophe zu bewahren. Wie er das anstellen würde, wusste er selber  nicht, aber das war im Moment auch noch nicht von Belang. Wieder ein  Geräusch, diesmal schien es über ihm zu sein. Er blieb stehen, bewegte  sich keinen Meter. Langsam richtete er seinen Blick nach oben. Da war  nichts. Lediglich ein großer Felsen, der den gesamten Pfad an dieser  Stelle in einen großen Schatten tauchte. „Mir wird doch niemand gefolgt  sein?“ murmelte er vor sich hin. Dann durchfuhr ihn ein schrecklicher  Gedanke. Palos war die gesamte Zeit beim Rudel gewesen, war erschöpft,  hatte mindestens genauso viel Durst gehabt, wie alle anderen auch. Wenn  er also die Quelle gefunden hatte, warum hatte er sich offenbar nicht  gierig in sie gestürzt? Warum war sein Fell trocken und schmutzig? Nach  wie vor? Und warum war er so schnell wieder zurück gewesen? Das war eine  Falle, ein Hinterhalt. Ganz langsam bewegte sich Chorm, wollte  umdrehen, doch ein lautes, beängstigendes Fauchen beendete sämtliche  Hoffnungen auf einen Irrtum. Palos hatte ihn verraten. Und irgendwo über  ihm befand sich jetzt mindestens ein riesiges Irgendwas, bereit ihn zu  töten. Blitzschnell, ohne auch nur den Ansatz einer Bewegung setzte der  Wolf zum Hechtsprung an, wollte sich so dicht wie möglich an den Felsen  drängen, um dem Angreifer möglichst wenig Fläche zu bieten, ein  unglaublich fester Schlag in die Seite ließ ihn aber straucheln und warf  ihn ein paar Meter zurück. Für den Bruchteil einer Sekunde war er  benommen, versuchte sich zu orientieren, dann hob er den Kopf und konnte  für einen Moment den Angreifer sehen. Es war ein riesiger, grauer  Panther, viel größer, als er selber. Es war einer seiner erbittertsten  Feinde. Es war Neo, den er selber vor etlichen Jahren aus dem Tal  vertrieben hatte.