Onkel Max.
Mein schönstes Kleid hat die Mama mir angezogen und dazu neue weiße selbstgestrickten Kniestrümpfe. Eine große rosa Schmetterlingsschleife sitzt oben auf meinen Haaren und ich bin ganz, ganz schön. Das hat auf jeden Fall der Vati gesagt. Ganz oben, hoch über mir sitzt mein kleiner Bruder, auf Papas Schultern. Mami hat ihn extra für heute so richtig fein gemacht und ihm den guten Matrosenanzug angelegt. Gerdchen darf ihn nur zu besonderen Anlässen tragen. Die kleinen Hände, klopfen im Takt auf Vaters Hut. Normalerweise würde Papi, jetzt schimpfen, aber heute ist ein ganz besonderer Tag. Wir bekommen Besuch.
Nein nicht so einen normalen Besuch, wie Onkel Gerhard, das ist der Patenonkel von meinem kleinen Bruder, sondern so ganz fremder Besuch kommt. Naja das ist auch wieder falsch, fremd ist er nur für Mama, Gerdchen und mich. Papa kennt ihn aus dem Krieg. Mein Kriegskamerad aus dem Rheinland kommt, hat Papa allen ganz stolz erzählt.
Nun stehen wir drei am Bahnhof und warten. Ich war noch nie auf so einem großen Bahnhof. Es riecht komisch und da es ein Sack-Bahnhof ist, sausen die Züge bis fast an die Tische, an denen man sitzen kann, wenn man warten muss, entweder weil man Besuch kommt, so wie wir jetzt oder aber weil man verreisen will und der Zug ist noch nicht abfahrtbereit. Es zischt ganz schrecklich und alles ist voll Rauch. Unheimlich ist das und eigentlich habe ich richtig viel Angst, doch Papas Hand ist so groß und warm, dass ich sehr mutig bin. „Gleich“ sagt Vati „Gleich kommt der Zug, mit Onkel Max“.
Der Bahnsteig ist voller Menschen, alle reden durcheinander und dann höre ich einen ganz lauten Seufzer von Papa, mit komischer Stimme sagt er „Mensch, Kerl, Max“ und dann nimmt er den fremden großen Mann in die Arme. Ich halte Gerdchens Hand ganz fest, denn die Leute sehen uns gar nicht, beinahe wären wir hingefallen. Ich mag den Bahnhof nicht, es ist so grau und unheimlich hier.
Der große Mann beugt sich herunter und nimmt mich, ohne zu fragen auf den Arm, dann schluchzt er in meine Haare und hält mich ganz fest. Das ist es also dein Töchterchen, das wir so lange geplant haben. Dann lacht er merkwürdig klucksend, es hört sich genau so an, wie bei Papa. Die weinen wirklich. Papa hat noch nie geweint. Männer weinen nicht, hat er gesagt, als ich ihn mal fragte „Papa weinst du?“ damals hat er nämlich genau so laut gekluckst wie jetzt.
Nun stehen da zwei Männer mit Hut und Kleppermantel, drücken und schmusen sich und sie weinen. Aber ich sage nichts. Und weil heute ein besonderer Tag ist, fahren wir sogar mit der Straßenbahn Nummer Drei nach Hause. Mama hat eine Kirschtorte gebacken und es gibt sogar Schlagsahne. Lauter weiße Klecksen hat Mutti, mit einer komischen Tüte auf die Torte gespritzt und ich durfte den Rest sogar auslecken. Ich liebe Schlagsahne, von mir aus könnte es sie jeden Tag geben.
Wir Kinder sitzen mit an dem Kaffeetisch und können uns nicht satt sehen an dem fremden Onkel. „Ich muss mich mal ein bisschen befreien“, sagt er zu Papa, dann zieht er sein Hosenbein ganz hoch und!!!…… so etwas habe ich noch nie gesehen! Und dann stellt er sein Bein neben sich. Ein ganzes Bein, mit einem braunen Strumpf und einem schwarzen Schuh. Ehrlich !!! Onkel Max lacht schallend, als er mich in den Backen kneift und sagt „Gell Utchen, so was tolles hat dein Papa nicht?“ „Mensch Max, was haben wir für eine Scheiße hinter uns, aber wir haben überlebt. Du nicht ganz so gut wie ich“. Dann geht Vati aus dem Zimmer und ich höre ihn ganz laut in ein Taschentuch schnäuzen. Schrecklich hört sich das an.
Als auch Mama aus dem Zimmer geht, nimmt der Onkel das Bein und hält es Gerdchen und mir hin, „Kinder, das ist doch kein echtes Bein, das ist doch nur aus Holz. Komm Bübchen hau mal dran. Gerdchen rennt raus und holt seinen kleinen Holzhammer, mit dem er sonst kleine Dreiecke auf eine Platte klopft. Mir ist das sehr unheimlich, bestimmt ist dieser Onkel Max ein Zauberer aus dem Zirkus. Mit Papa habe ich mal einen besucht und damals ist sogar ein Häschen verschwunden und dann sind Tauben aus einem Hut gekommen. Meine Bewunderung hat der Onkel auf jeden Fall.
Onkel Max bleibt ein paar Tage bei uns. Jeden Abend, wenn er ins Bett geht, stellt er sein Bein, neben die beiden Stöcke. Wir Kinder dürfen mit den Krücken, so heißen die Dinger, spielen und wenn wir sie umdrehen, als Stelzen benützen. Der Abschied wird genauso wie das Ankommen, die Männer sind wieder am Weinen. Paps muss versprechen, dass wir nach Langenberg kommen und Tante Klärchen, Christa und Karl-Horst kennen lernen.
Im Jahr darauf fahren wir wirklich nach Langenberg. Onkel Gerhard, der Patenonkel von Gerdchen, fährt uns mit seinem neuen Mercedes hin. Als wir aussteigen staunen wir nicht schlecht. Onkel Max hat ein eigenes Haus und jedes Kind besitzt ein eigenes Zimmer. Wir schlafen zu Hause bei meinen Eltern im Zimmer. Gerhard im Kinderbett und ich mal in der Mitte, zwischen Vati und Mutti oder neben Mutti. Ein ganzes Zimmer für mich alleine? Ein komischer Gedanke, ich glaube, ich hätte schreckliche Angst in so einem großen Bett allein zu schlafen.
Christa, das ist die Tochter von Onkel Max und Tante Klärchen, ist schon eine ganz wilde und der Kalle, o man, der ist auch nicht ohne. Die stellen so viel Unsinn an…unglaublich…. Aber noch viel unglaublicher ist, wie sie bestraft werden.
Onkel Max’s Stimme dröhnt sehr oft durch das ganze Haus: „Karl-Horst der Führer ruft, fünf Streiche auf den Nackten!!!“ Er ruft nur einmal, mehr muss nicht sein. Kalle kommt ins Zimmer, zieht seine Hose runter und legt sich bei seinem Vater über das richtige Bein. Das Holzbein steht im Schlafzimmer. Dann nimmt Onkel Max seinen breiten dicken Gürtel und schlägt fünfmal auf den nackten Popo. Danach stellt sich Karl-Horst wieder hin, reibt sich den Po zieht die Hose wieder hoch und geht aus dem Zimmer. Auch Christa folgt ohne zu Murren, wenn der Vater, das heißt, wenn der Führer ruft.
„Warum rennst du nicht weg oder gehst erst gar nicht hin“ sage ich zu Christa „dein Vater kann doch gar nicht hinter dir her rennen, du bist doch viel schneller.
„Eben drum“ sagt Christa, "und weil er nicht hinter mir her laufen kann, muss ich mir meine Hiebe selbst abholen“.
Echt doof waren die Zwei. Ich hätte mich nie und nimmer auf Papas Knie gelegt, um mich schlagen zu lassen.
Aber wenn ich heute darüber nachdenke, so wirklich weggelaufen bin ich ja auch nicht.
Was mein Vater aber nie hatte, war einen *Führer*, er trug Hosenträger.
© Ute AnneMarie Schuster 28.2.2011