Kapitel 2
„Was  sollen wir jetzt tun, Ben?“ Die Stimme des kleinen weiblichen  Paradiesvogel war es diesmal, die Ben aus seinen Gedanken reißen musste.  Mit dieser Frage war sein Selbstmitleid und seine Zweifel wie  weggewischt. Jetzt galt es, zu handeln. „Mihula, Cula, fliegt los,  fliegt, so schnell wie ihr noch nie geflogen seid. Trommelt alle Tiere  zusammen. Sie sollen sich hier vor mir versammeln..“ 
 „Und dann? Was ist, wenn sie nicht mit wollen, wenn sie schon zu schwach sind, weil sie Durst haben, wenn….“
 „Um so mehr ein Grund, sich zu beeilen, Cula.! Fliegt los, meine Freunde, wir haben keine Zeit!“ 
 Ohne ein weiteres Wort begannen die beiden Vögel wild mit den Flügeln zu  schlagen. Einen Augenschlag später hatten sie sich aus dem Blickwinkel  des Baumkönigs entfernt. 
 Der einst so mächtige Baum bemerkte, wie er aber selbst immer schwächer  wurde. Die untersten Äste seines riesigen Stammes hatten bereits ihr  sattes Grün verloren, waren kurz davor zu vertrocknen. Ben spürte, wie  auch er selber immer mehr Probleme hatte, sich zu konzentrieren, einen  klaren Gedanken zu fassen. Auch das Sprechen zu seinen Freunden war ihm  sehr schwer gefallen. Doch er wusste, er musste nun stark sein, seine  Freunde setzten so viel Vertrauen und Hoffnung in ihn, sie durften  nichts von seiner Verzweiflung mitbekommen. Seine Kehle wurde trocken.  Er brauchte Wasser und das so schnell wie möglich. 
 
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 Der Boden war auch im Gebirge sehr trocken und heiß. An den wenigen  bewachsenen Stellen und Felsvorsprüngen sammelte sich vertrocknetes Laub  und Geäst. Als die riesige Gestalt sich mit ihren gewaltigen Pranken  auf das hohe Felsplateu schlich, um das Wolfsrudel genau zu beobachten,  hatte die Sonne ihren höchsten Punkt bereits überschritten und näherte  sich langsam aber sicher dem Westen. Diese Gestalt war hasserfüllt,  böse, aggressiv. Aber das war ja auch kein Wunder, denn sie hatte  Hunger. Seit es im Tal nicht mehr geregnet hatte, war es auch für sie  immer schwieriger geworden, Beute zu reißen. Die Tiere flüchteten in  alle Himmelsrichtungen, waren verzweifelt. So hatte sie sich in die  Berge verzogen und gehofft, die Tiere aus dem friedlichen Tal hätten von  irgendwo her etwas von der Quelle, die nie versiegt, gehört. Sie  wusste, wo sie war, das hatte ihr das Leben gerettet, doch nun brauchte  sie Nahrung, frisches Fleisch. Ihr Jagdinstinkt war geweckt, als sie den  Blick vorsichtig und geräuschlos auf das Wolfsrudel richtete. Das  marschierte bereits den gesamten Tag in dieser Gluthitze. Irgendwann  werden sie eine Pause machen müssen. Dann war es wichtig, die einzelnen  Wölfe in eine Falle zu locken. So mächtig die Gestalt war, so geschwächt  war sie auch, mit einem ganzen Rudel würde sie es niemals aufnehmen  können. Das Gebirge war viel zu weitläufig, würde sie blind angreifen  und die Tiere aufschrecken, gäbe es kaum eine Chance, Beute zu machen.  Doch es gab, gar nicht weit von hier einen sehr schmalen Pfad, der  direkt in eine Sackgasse führte. Da musste sie zuschlagen. Ihre  Nackenhaare sträubten sich bei dem Gedanken ihre Zähne in das Fleisch  seines Opfers zu jagen. Alleine würde sie allerdings keinen Wolf auf  diesen Pfad lenken können. Doch sie hatte ja eine sehr zuverlässige  Hilfe, mitten im Wolfsrudel.
 
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 Chorm spürte den stechenden Durst. In seinem Eifer hatte er völlig  vergessen, dass er der Kräftigste des Rudels war. Wenn er schon  erschöpft war, würden die anderen Tiere bald völlig entkräftet sein. Er  blieb stehen und drehte sich zu den Anderen um. „Wir machen Rast!“ Die  Wölfe schauten dankbar, einige von Ihnen waren bereits kurz davor, dem  immensen Druck der Sonne nicht mehr stand halten zu können. Umgehend  löste sich die strenge Formation, in der marschiert wurde und jeder  einzelne suchte sich ein schattiges Plätzchen um zu verschnaufen.  „Vergesst nicht, etwas zu essen, ihr seht, die Pflanzen werden mehr, je  weiter wir vorstoßen. Weit kann es nicht mehr sein bis zur Quelle.“ 
 „Und woher willst du das wissen?“ Die Stimme kam wieder von Palos, der  sich mittlerweile wieder in die Nähe des Anführers begeben hatte. 
 „Wo Pflanzen sind, ist auch Wasser, du Narr“ Chorm war sichtlich wütend.  Palos war zwar sein Bruder und nächster Verwandter, ein sonderlich  gutes Verhältnis hatten die beiden aber nie gehabt. Palos war  eifersüchtig, war der Meinung, die Aufgabe ein Rudel zu führen, gebührte  allein ihm. Er war zwar etwas kleiner, dafür aber pfeilschnell und  listig im Kampf. Die beiden hatten viele Kämpfe gehabt in Ihrer Kindheit  und Jugend. Das war ein ganz normaler Vorgang unter den Wölfen, um die  Rangfolge zu bestimmen. Chorm war meist der Sieger gewesen, hatte aber,  je älter sein Bruder wurde, immer mehr Schwierigkeiten gehabt. Ob er  einen Kampf um Leben und Tod gewinnen würde, er war sich nicht sicher.  Aber soweit würde es nie kommen, denn er war ja sein Bruder.
 „Das sagst du uns bereits seit Stunden, Chorm. Warum haben wir dann immer noch Durst? „
 „Iss die Pflanzen, Palos, sie enthalten viel Wasser, das wird euch auf den Beinen halten, bis wir die Quelle gefunden haben.“
 „Ich werde nicht solange warten!“
 Mit diesen Worten drehte sich Palos um und schritt entschlossen auf einen Pfad zu.
 „Palos! Bleib hier, wir müssen zusammen bleiben!“
 „Ich werde nicht warten, bis der Durst mich getötet hat, ich werde die  Quelle höchstpersönlich suchen, während du hier tatenlos herumsitzt.“
 Ohne dass der oberste Wolf noch etwas erwidern konnte, war sein  hitzköpfiger Bruder auch bereits zwischen zwei Felsvorsprüngen  verschwunden. Chorm war wütend. „Dieser verdammte Dickkopf!“ fluchte er  leise vor sich hin. Die anderen Wölfe hatten von dem Streit nichts  mitbekommen, sie waren so erschöpft, dass sie auch nicht merkten, dass  sie nun ein Rudelmitglied verloren hatten.
 
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 Die riesige, düstere Gestalt hatte alles mit angesehen. Die Aussicht auf  reiche Beute gab ihr noch mal einen Kraftschub. Jeder einzelne Nerv,  jeder Muskel war angespannt. Am liebsten hätte sie sich sofort auf die  ruhenden Wölfe gestürzt und jeden einzelnen von ihnen verspeist. Aber  sie musste auf den richtigen Moment warten. Dann hörte sie hinter sich  Geäst zerbrechen. Jemand näherte sich ihr mit vorsichtigen Schritten.  „Du kommst spät.“ 
 „E-es tut mir leid, es g-ging nicht früher“ Palos Stimme zitterte. Er  hatte Angst vor diesem Ungetüm und er hatte ein schlechtes Gewissen,  aber das war die einzige Möglichkeit, seinen Bruder aus dem Weg zu  räumen und sein Nachfolger zu werden. „Sind sie erschöpft genug?“  donnerte das Ungetüm.
 „Ja, du wirst leichtes Spiel haben. Aber verschone bitte die anderen  Wölfe, sie sind dir nicht von Nutzen, so ausgezehrt wie sie sind. Denke  bitte an unsere Abmachung.“
 Die Gestalt lachte hämisch. „Mein lieber, getreuer Palos, habe ich mich jemals nicht an eine Absprache gehalten?
 Palos wollte erwidern, dass man sie nicht umsonst vor einigen Jahren des  Tales verwiesen hatte, schwieg aber. „Was willst du jetzt tun?“  fragte  er stattdessen.
 „Nicht: Was will ich tun? Was wirst DU tun, muss es heißen, mein liebes Wölflein.“
 „Ich? Warum ich?“ Damit hatte Palos nicht gerechnet, er sah seine  Aufgabe eigentlich als bereits erledigt an, wollte nachdem er die  Gestalt mit den nötigen Informationen versorgt hatte, zu seinem Rudel  zurückkehren, Chorm berichten, dass er die Quelle nicht gefunden hatte  und die Bestie den Rest erledigen lassen. 
 „Einfach, weil ich mir sonst nicht die Mühe mache, die Wölfe dort unten  zu reißen, wenn doch direkt vor mir saftiges Fleisch bereit steht.“
 Palos schluckte, er wusste, sie machte ernst.
 „Was soll ich tun?“
 „Du wirst jetzt wieder zu den anderen gehen und deinem Anführer Chorm  mitteilen, dass du die Quelle gefunden hast. Dann lockst du ihn auf den  Pfad zwischen den beiden Felsspalten dort drüben. Den Rest werde ich  erledigen.“
 „Gut, das werde ich tun, sei in einer Stunde da.“ Eine Mischung aus  Angst und Vorfreude überkam den Verräter. Er hasste Chorm. Er war der  einzige Rudelführer. Er war das Alphatier. Und nun war er seinem Ziel  greifbar nahe, näher als jemals zuvor.