Kurzgeschichte
Der letzte Dienstag

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"Der letzte Dienstag"
Veröffentlicht am 09. Februar 2011, 12 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Ich bin am Niederrhein geboren, aufgewachsen und lebe heute noch dort - wenn auch nicht in der selben Stadt. Das Wichtigste in meinem Leben - auch wenn es mancher nicht glauben mag - ist meine Familie. In meinen Werken ist Zusammenhalt und Konflikte zwischen Familienmitgliedern immer wieder ein Thema. Meine engste Familie, jene mit denen ich zusammenlebe, besteht aktuell aus meiner Frau Veronika, unserem Hund Xanadu, unsere Katze Trixi, sowie ...
Der letzte Dienstag

Der letzte Dienstag

Beschreibung

Nach Jahren der Arbeitslosigkeit ging Martin hochmotoiviert zur Arbeit, bis er in das Fadenkreuz seines Vorgesetzten geriet. Cover: © Pixelbube@fotolia.de & © edK@fotolia.de & © Aggerstern

Der letzte Dienstag

"Wenn du nicht tust, was ich sage, schick  ich dich zurück in HARTZ IV!"
Seit Tagen hörte Martin diesen Satz, der nur ein einziges Mal ausgesprochen worden war. Nein, nicht gesprochen, dachte er bitter. Regelrecht gebrüllt hatte der Grobrichter. Der ganze Laden hatte es mitbekommen, alle Kollegen, Untergebenen und sogar ein paar Kunden.
Martin - eigentlich war er ein stattlicher Mann von beinahe zwei Metern Körperlänge mit breitem Kreuz. Als Jugendlicher hatte er Rugby gespielt. Fremde wurden in seiner Gegenwart vorsichtig mit dem, was sie sagten. Lediglich in der Familie und bei guten Freunden konnte er mit seinem Erscheinungsbild keinen Eindruck mehr schinden. Allerdings wussten auch die neuen Kollegen sein sanftmütiges Wesen inzwischen zu schätzen. An seinem 40. Geburtstag, da arbeitete er gerade einmal neun Wochen im Betrieb, hatte die gesamte Belegschaft für ein Geschenk zusammengelegt. Martin hätte es ja für eine Art angeordnete Pflichtgeste gehalten, hätte er an diesem Tag nicht so viele Hände geschüttelt und in ein Meer von lachenden Gesichtern geschaut. Einige hatten ihm bei einer Zigarette oder einem kurzen Gespräch zwischen Tür und Angel offenbart, wie zufrieden sie mit seinem Führungsstil waren - von beiden Seiten.
Als Abteilungsleiter stand man schließlich immer zwischen den Stühlen. Auf dem einen saßen die eigenen Vorgesetzten - der Projektleiter und die Fillialleitung. Auf dem anderen quetschten sich alle Mitarbeiter mit ihren Arbeitsleistungen, persönlichen Anliegen und auch Fehlern. Vom ersten Tag an hatte Martin versucht fair zu bleiben. Er wollte die Anforderungen seines Projektleiters erfüllen, ohne sein Team auszubeuten. Er hatte einige Gelegenheiten genutzt, eigene Ideen eingebracht und war damit offenbar gut gefahren. Natürlich hatte es das eine oder andere ernste Gespräch gegeben. Doch die Leute hatten es verstanden und akzeptiert. Immerhin wollten sie geführt werden, klare Ansagen erhalten.
Die Erfolge während der Arbeit wirkten sich auch auf das Privatleben des Abteilungsleiters aus. Überhaupt - er hatte wieder Arbeit! Nach vier Jahren Arbeitslosigkeit hatte es nur noch bergauf gehen können. Die finanziellen Reserven waren aufgebraucht gewesen. Mit drei Kindern zwischen vier und elf lebte man praktisch unter dem Existenzminimum, als 'Hartzi'. Selbst als Linda stundenweise Putzen ging, kamen sie kaum über die Runden. Bastians Klassenfahrt hatten sie sich praktisch vom Mund abgespart. War es ein Wunder, dass Martin die ganze Zeit hoch motoviert zur Arbeit ging? Das Leben hatte wieder einen Sinn! Obwohl er jetzt weniger Zuhause war, hatte sich der Umgang mit seinen Kindern wesentlich verbessert. Vielleicht bildete Martin es sich nur ein, aber neulich hatte er gegenüber seinem besten Kumpel behauptet, auch der Sex wäre besser. Und das alles nur, weil er einen Job hatte, bei dem er bewies, was in ihm steckte. Ein produktives Mitglied der Gesellschaft, geachtet von Kollegen, Freunden und der Familie. Bis letzten Dienstag.

Martin hatte gezittert. Er hatte Angst. Am Dienstag, während er seinem Abteilungsleiter gegenüberstand - und auch heute noch, eine Woche später. Dabei gab es eigentlich absolut keinen Grund, sich vor dem Grobrichter zu fürchten. Er war ein kleiner Mann, reichte Martin gerade einmal bis zur Brust. Der Grobrichter sah aus wie ein Zweig, den ein kräftiger Windstoß zerbrechen mochte. Doch mit seiner Stimme war er ganz groß. Wenn der Grobrichter los legte, hörten ihn selbst die Raucher auf dem Hinterhof und die Passanten in der Fußgängerzone. Es war vollkommen egal, ob sein Organ möglicher Weise geschäftsschädigend war. Die Fillialleitung stand in jedem Fall hinter ihm. Martin wusste, dass einige Kollegen vor dem Vorgesetzten zitterten. Inoffiziell trug er den Titel "König der Abmahnungen". Der Grobrichter fand immer einen Grund, wenn er einen suchte.
Schon kurz nach Antritt seiner Stelle hatte Martin dies bemerkt und sich ganz selbstverständlich als Prellbock zwischen sein Team und der Führungsebene gestellt. Immerhin hatte er eine Statur, wie ein Fels in der Brandung. An ihm prallten einige verbale Orkane ab, ohne dass Martin mit der Wimper zuckte. Er besaß das Talent, Gespräche wieder auf eine menschliche und zivilisierte Ebene zu bringen. Bis letzten Dienstag.

Der Grobrichter hatte ihm aufgetragen eine Abmahnung zu schreiben. Grundsätzlich hatte Martin überhaupt kein Problem mit Abmahnungen - wenn diese gerechtfertigt waren. Er hatte ziemlich schnell einen eigenen Sinn dafür entwickelt. Den Grobrichter-Abmahnungs-Sinn. Martin spürte regelrecht, wenn sein Cheff jemanden auf dem Kieker hatte, sprach dann rechtzeitig mit dem Betroffenen und konnte so das Schlimmste verhindern. In diesem Quartal hatte es in seiner Abteilung noch nicht eine Abmahnung gegeben. Bis letzten Dienstag.

Herr Wiesbach, einer von Martins Leuten, kam seit einigen Wochen regelmäßig so gerade eben mit Dienstbeginn an. Höchst wahrscheinlich war die Baustelle am Rande der Fußgängerzone verantwortlich. Vielleicht war es auch der Zirkus, der für einige Tage einen Großteil der nächstgelegenen Parkfläche beanspruchte. Was es auch war, Herr Wiesbach stand nicht jeden Tag pünktlich an seiner Kasse. Und wenn er pünktlich an der Kasse stand, hatte er sich nicht rechtzeitig im Buchungssystem eingestempelt. Und genau da lag das Problem. Nach welchem System wurde die Pünktlichkeit eines Mitarbeiters gemessen? War es die Kasse? Dort musste er zu Arbeitsbeginn eine Identifikationsnummer eingeben. Dort arbeitete er produktiv, indem er die Kunden bediente und Waren ausgab. Oder war es das Buchungssystem? Dieses lag als Software auf einem zentralen Rechner in einem Mitarbeiterraum. Herr Wiesbach konnte unmöglich morgens um acht Uhr zugleich am Buchungsrechner und an der Kasse stehen.
Die Kollegen, auch die anderen Abteilungsleiter, hatten auf diese Fragen leider keine zufriedenstellenden Antworten geben können. Eine Kollegin hatte in der Mittagspause mit einem bitteren Lachen erklärt: "Das läuft ganz so, wie der Grobrichter es richtet."
Also war Martin zu seinem Vorgesetzten gegangen, hatte diesen gefragt, nach welchem System er die Verspätungen bemesse. Doch ehe er hatte aussprechen können, war der Grobrichter dazwischen gefahren: "Ich hab gesagt, schreib dem die Abmahnung! Wenn du nicht tust, was ich sage, schick  ich dich zurück in HARTZ IV!" Orkanstärke 4. Laut genug, dass es alle Anwesenden im Raum hatten hören können. Am letzten Dienstag.

Seit dem zitterte Martin. Er scherzte weiterhin mit seinen Kollegen und tat seine gewohnte Arbeit.
"Wenn du nicht tust, was ich sage, schick  ich dich zurück in HARTZ IV!"
Das Lächeln fehlte auf seinen Lippen. Er spürte die Blicke der Untergebenen in seinem Rücken. Sie waren voll Mitleid, als sagten sie: "Siehst du, nun hat er dich auch gebrochen." Martin wusste, dass bereits Wetten liefen, wie lange er noch durchhielt.
"Wenn du nicht tust, was ich sage, schick  ich dich zurück in HARTZ IV!"
Er MUSSTE durchhalten! Seine Probezeit lief noch zweieinhalb Monate. Wenn er in dieser Zeit irgendetwas sagte, kündigten sie ihm garantiert.
"Wenn du nicht tust, was ich sage, schick  ich dich zurück in HARTZ IV!"
Einem anderen Abteilungsleiter soll es im vergangenen Jahr so ergangen sein. Johannes, der das Lager unter sich hatte, der früher oft mit Martin die Mittagspausen verbracht hatte, der beinahe zeitgleich mit ihm im Betrieb angefangen hatte, mied in seit einigen Tagen. Vielleicht fürchtete er, der nächste zu sein, der dem Orkan-Organ stand halten musste.
"Wenn du nicht tust, was ich sage, schick  ich dich zurück in HARTZ IV!"
Martin hatte Bauchschmerzen. Sie begleiteten ihn beim Morgenkaffee, während der quälenden Stunden an seinem Schreibtisch und wenn er abends mit den Kindern spielte. Als Linda ihn beim Sonntagsfrühstück fragte, wie es auf der Arbeit liefe, hatte er sich zu einem Lächeln aufgerafft und geantwortet: "Alles wie immer. Könnte nicht besser sein." Er hatte sie ewig nicht derart belogen.
Er war blasser. Allein in der vergangenen Woche hatte er so viele Zigaretten geraucht, wie sonst in einem ganzen Monat. In einigen Wochen sollte Bastians jährliche Klassenfahrt bezahlt werden. Und Hannah brauchte nach dem Sommer ihre erste Schulausstattung. In den Ferien wollten sie zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder in den Urlaub fahren.
"Wenn du nicht tust, was ich sage, schick  ich dich zurück in HARTZ IV!"
Martin konnte nicht zurück, nicht nach knapp vier Monaten. Er stünde wieder mit weniger als dem Minimum da. Der Bedarfssatz war zuletzt so niedrig gewesen, dass die Familie mit drei mal Waisen- und einmal Witwenrente besser über die Runden käme. Immerhin gäbe es dann auch einen Esser weniger. Martin zog noch einmal an der Zigarette und sah der Bahn nach. Es durfte nicht wie Selbstmord aussehen. Dann würde die Versicherung nicht zahlen. Aber wenn er noch etwas näher an die Kante trat, wenn die nächste Bahn einfuhr-. Zu den Pendelzeiten wurden immer gedrängelt. Ein Fehltritt war schnell getan. Dann war es sein letzter Dienstag.

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Über den Autor

Sunnypluesch
Ich bin am Niederrhein geboren, aufgewachsen und lebe heute noch dort - wenn auch nicht in der selben Stadt. Das Wichtigste in meinem Leben - auch wenn es mancher nicht glauben mag - ist meine Familie. In meinen Werken ist Zusammenhalt und Konflikte zwischen Familienmitgliedern immer wieder ein Thema. Meine engste Familie, jene mit denen ich zusammenlebe, besteht aktuell aus meiner Frau Veronika, unserem Hund Xanadu, unsere Katze Trixi, sowie einem Aquarium voller Fische. Für Letzteres ist allerdings meine Frau verantwortlich.

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Milan01 Eine Situation die sehr verbreitet ist. Es gibt zuviel Missstände und auch Drohungen, die meisten geben klein bei. Selbstmorde sind da keine Seltenheit. Das Thema ist wichtig und du hast es gut geschrieben.
5 St. dafür
Lg Milan01
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