Romane & Erzählungen
Das Verschwinden von Rebecca

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"Das Verschwinden von Rebecca"
Veröffentlicht am 31. Januar 2007, 172 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Das Verschwinden von Rebecca

Das Verschwinden von Rebecca

Beschreibung

Was passiert, wenn eines Tages die Liebe des Lebens einfach so verschwindet und der Schmerz, die Trauer darüber so groß ist, dass man alle Erinnerung an diesen Menschen verliert? Was ist, wenn man dannach wie betäubt existiert, mit einem weißen Fleck im Herzen? Was ist, wenn einem dann plötzlich aus einem Buch, das man aus der Bibliothek entliehen hat, Fotos von einem fremden Mädchen entgegenfallen und man wieder Hoffnung schöpft und sich auf die Suche begibt?

1.

Ein grauer nasser Regen hat sich in der Stadt zwischen den Häuserschluchten festgesetzt. Er gleicht einer trüben Brühe, die über den Straßen schwimmt und in den Anorak sickert. Der Himmel ist weiß wie Milch, mit schmutzigen Flecken darauf. Braunes, feuchtes Laub schwimmt in den Pfützen oder klebt auf dem Asphalt. Die Äste der Bäume ragen schwarz, nackt und glitzernd in die Milchsuppe, in den trüben Himmel hinein. Gleich einer Dunstglocke hängt der Nebel über dem Szenario. Ich laufe schnell, weil ich merke, wie die kalte Feuchtigkeit in meine Glieder dringt. Feiner Nieselregen perlt von meinen Wangen ab. Ein Wind weht unangenehm von der Seite, zischt in meine Hosenbeine und kriecht in meine Jackenärmel.
Dann schließe ich endlich die Tür auf und bin in meiner Wohnung. Ich werfe die Schuhe ab, pelle mich aus meiner Jacke, gehe in die Küche, setze Wasser auf und drehe die Heizung an, wobei ich das ätzende Quietschen des Gasboilers vernehme. Einige Minuten später sitze ich an meinem Schreibtisch. Ich blicke aus dem Fenster und registriere, dass sich die milchige Suppe von vorhin bereits in Schwärze verwandelt hat. Das Licht der Schreibtischlampe strahlt hell. Ich blicke auf das weiße Blatt, das vor mir liegt. Dann nehme ich den Stift und beginne zu schreiben, das Blatt mit Worten zu füllen. Am Anfang langsam und zögerlich, dann immer schneller. Die Wörter verwandeln sich in Zeilen und die Zeilen zu Absätzen. Schließlich ist das erste Blatt gefüllt und ich beginne mit dem Zweiten.
Schreiben als Ventil, als Fluchttür, als Möglichkeit Welten zu erschaffen: Berge, Sonne, Meer und Abenteuer, als Möglichkeit um der Schwärze, der Milchsuppe und dem nassen Laub zu entfliehen. Schreiben, um sich selbst existent zu machen, über die Existenz als solche hinaus: ‚Ich schreibe also bin ich.’ Schreiben, um jeden Atemzug, jeden Augenblick auszunutzen und umzuwandeln, in Worte, in Sprache zu gießen. Sprache erschaffen, um sich selbst zu befreien, aus der Sprachlosigkeit zu katapultieren und in die Welt zu werfen, um erst wirklich zu existieren. Schreiben als Neuerschaffung des eigenen Ich, als eine zweite Geburt, eine zweite Existenzwerdung, mit dem Zweck, etwas zurückzulassen, nämlich Worte auf Papier, als Beweiß, so als würde man sagen: ‚Hier! Ich habe existiert.’ Um dem Vergessen, der Angst zu entkommen, die einem befällt, angesichts der Fluktuation, des Vergehens, des ‚In-das-Nichts’-‚ des ‚Dem-Tode-entgegen-Strebens’. Diesem etwas entgegensetzen, in der Hoffnung, dass etwas bleibt, wenn auch nicht für immer, dann zumindest für ein kleines Weilchen, in der Hoffnung, dass jemand es liest, dass ein Gedanke, der einem selbst entsprungen, woanders fortlebt, auf Resonanz stößt, etwas bewirkt, verändert, haften bleibt.
Dann kommt Rebecca. Ich höre, wie das Türschloss aufgesperrt wird. Wie sich die Tür öffnet. Ihre Schritte auf dem Fußboden. Wie sich die Tür wieder schließt. Wie sie ihre Tasche abstellt. Ihren Mantel aufhängt. Wie sie zu mir kommt. Ihren Atem. Ihre, sich nähernden Schritte und das leichte, kaum vernehmbare Knacken der Dielen. Ich spüre, wie sie hinter mir ist. Ihre physische Präsenz. Wie sich ihr Brustkorb hebt und senkt. Ich rieche ihren Geruch, nach frisch gewaschenem Haar, nach Wärme, nach Vertrautheit. Ich spüre ihre Hand auf meiner Schulter, auf meinem Arm, meinem Kopf, in meinem Haar, auf meiner Wange. Wie sie sich hinüberbeugt, ihren Kopf neben meinem, ihre Haare auf dem beschriebenen Papier. Ihr Atem. Ihre Stimme, sanft gehaucht, in meinem Ohr.
„Wie geht es dir?“, fragt sie mich.
Ich ziehe ihren Kopf näher an meinen heran und drehe mich ihr entgegen. Sie ist ganz nah. Ihre Nähe. Ihre Wärme. Ihre Augen. Ein kurzer Blick. Ihr Mund. Ein Kuss, nicht schnell, nicht kurz, dafür warm, vertraut, wohltuend.
Rebecca geht in die Küche. Ich höre einige Töpfe klappern, wie das Wasser in der Spüle an und wieder zugedreht wird. Wie sie das Radio anschaltet. Popmusik, Reklame. Ich wende mich wieder meinem Blatt, meinen Wörtern zu und lese sie. Verstehe sie nicht. Lese sie nochmals. Egal. Ich gehe in die Küche.
„Na was machst du?“, frage ich.
„Spaghetti.“
„Brauchst du Hilfe?“
„Nein, ist eine Fertigsoße. Aber wenn du magst, kannst du ja den Tisch decken!“
Ich gehe zum Schrank, nehme zwei Teller und zwei Gläser heraus und stelle sie auf den Tisch. Dann hole ich das Besteck aus der Schublade und aus dem Kühlschrank Orangensaft und Parmesan. Dann hole ich noch zwei Untersetzer für die Töpfe, verteile das Geschirr und betrachte kritisch für einen Moment mein Werk. Das Salz fehlt. Ich hole es und setze mich dann an den fertig gedeckten Tisch. Rebecca kommt mit einem dampfenden Topf roter Soße. Dann bringt sie ein Sieb mit den abgegossenen, ebenfalls dampfenden Nudeln und verteilt diese gerecht auf unseren beiden Tellern. Ich beobachte sie dabei und fühle mich plötzlich glücklich. Ich blicke in dieses, mir so vertraute Gesicht mit der, mir so vertrauten Nase, dem, mir so vertrauten Mund, den, mir so vertrauten dunklen Augen. Ihr langes braunes Haar.
Am darauf folgenden Tag war sie spurlos verschwunden. Es ist schwer zu erklären. Ich weiß noch, wie wir unsere Spaghetti aßen. Wie wir uns unterhielten, über ihre Arbeit und über das, was ich geschrieben hatte, welches zu lesen sie mir versprach. Ich weiß auch noch, wie wir nach dem Essen das Geschirr in das Spülbecken legten, ohne es abzuwaschen. Wie wir uns vor dem Fernseher, auf dem Sofa in eine Decke kuschelten und einen Film sahen. Wie wir danach ins Bett gingen, ich mich an sie schmiegte, ihre warme weiche Haut an meiner spürte und wie wir einschliefen. Und wie ich nachts plötzlich erwachte, weil ich dachte, dass Rebecca verschwunden war und wie ich beruhigt feststellte, dass sie an meiner Seite schlief, so das auch ich wieder in das Reich der Träume zurücksinken konnte.
Als ich dann am nächsten Morgen erwachte und Rebecca nicht da war, dachte ich mir nichts weiter dabei. Es kam öfters vor, dass sie früh raus musste, zur Arbeit. Mir nichts dabei denkend, ging ich unter die Dusche, zog mich an, frühstückte und fuhr danach in die Bibliothek, um wieder zu schreiben. Abends kam ich nach Hause und stellte fest, dass Rebecca noch nicht da war. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und begann ein Buch zu lesen. Rebecca kam nicht. Ich beschloss sie auf ihrem Handy anzurufen. Sie ging nicht ran. Ich ließ es solange klingeln, bis sich die Mailbox einschaltete, legte dann jedoch auf und hinterließ keine Nachricht, sie würde ja meine Nummer auf ihrem Display haben. Ich entscheid mich, mit dem Abendbrot, das wir sonst immer gemeinsam einnahmen, nicht mehr zu warten. Mein Magen knurrte, also schob ich einen Auflauf in die Röhre. Nachdem ich gegessen hatte, versuchte ich Rebecca nochmals zu erreichen. Wieder die Mailbox. Diesmal sprach ich drauf: „ Hi Rebecca, ich binÂ’s. ich hoffe dir gehtÂ’s gut. Meld dich doch, wenn du das hier hörst und sag mir wo du bist. Ich vermiss dich. Okay, Ciau Geliebte!“ Ich schaute noch etwas fern. Einen Film, doch ich war unkonzentriert und folgte nicht der Handlung, nahm nur verschwommen irgendwelche Schießereien, Autoverfolgungsjagden und Explosionen wahr. Mitten im Film stellte ich den Fernseher aus und ging ins Bett. Schmerzlich spürte ich die Leere an meiner Seite, ein Loch, dass etwas fehlte. Die Abwesenheit von Rebecca hatte fast schon eine physische Präsenz und streckte gierig ihre Tentakeln nach mir aus, die mich fest umschlungen hielten und würgten.
Am nächsten Morgen, ich fühlte mich leer und taub, beschloss ich, nach wiederholtem, ergebnislosen Anrufen auf ihrem Handy, ihre beste Freundin Moni anzurufen. Doch auch Moni hatte keine Ahnung wo Rebecca steckte. Sie versprach mir, sich zu melden, sobald sie was wüsste. Ich versuchte abermals Rebeccas Handy. Es war wieder die Mailbox, die selbe monotone, automatische Ansagenstimme. Verzweifelt legte ich auf. Was war nur zu tun? Was hatte das zu bedeuten? Ich versuchte zu begreifen. Versuchte zu verstehen, dass der Mensch, den man liebt und der gerade noch bei einem war, plötzlich, wie vom Erdboden verschwunden war. Einfach so. Einfach nicht da. Da ich dieses zu begreifen nicht in der Lage war, flüchtete sich mein Verstand in die Vergangenheit.

2.

Es war vor zwei Jahren, als ich Rebecca kennen lernte. Ich hatte damals gerade begonnen Germanistik und Politikwissenschaft in Berlin zu studieren. Alles war neu für mich gewesen. Ich war von zu Hause ausgezogen in eine andere Stadt. Ich kannte niemanden und sehnte mich zurück nach Kassel, zu meinen Freunden, meiner Familie und der vertrauten Umgebung. Die ersten Wochen des ersten Semesters waren furchtbar in Berlin. Einsam wie ein Wolf schlich ich mich von Vorlesung zu Vorlesung, von Seminar zu Seminar, von der Wohnung in die Uni und von der Uni wieder nach Haus. Ich fühlte mich so schrecklich verloren und die Großstadt drohte mich mit ihrer Anonymität zu verschlucken.
Es war in der Mensa. Ich saß schlecht gelaunt an einem Tisch und aß einen furchtbaren, versalzenden Linseneintopf, als plötzlich Rebecca kam, das Haar hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden, mit einem Tablett in der Hand und mich fragte, ob an dem Tisch noch Platz sei. Ich blickte kaum auf, sondern nickte nur kurz. Nachdem sie sich gesetzt hatte, fragte sie mich, ob ich Germanistik studieren würde. Ich blickte erstaunt auf und bejahte. Sie erzählte mir, dass sie mich in einer Vorlesung gesehen hatte. So gerieten wir ganz ungezwungen in eine lang andauernde Unterhaltung. Wir saßen den ganzen Tag in der Mensa ohne zu merken wie die Zeit verstrich. Unsere Teller waren längst gelehrt (zumindest ihrer, ich hatte mich nicht überwinden können, die furchtbare versalzende Suppe ganz aufzuessen). Wir holten uns Mensakaffe und unterhielten uns weiter. Sie fragte mich, warum ich Germanistik studiere und als ich antwortete, dass ich gern Autor werden würde und nur studierte, um mehr über Sprache zu lernen, um sozusagen die Substanz der Sprache zu ergründen, um dann später selbst in der Lage sein zu können, gleichwertige, qualitative Substanz zu erschaffen, da musste sie lachen. Ich fragte zurück, warum sie studierte. Sie antwortete, dass sie Lehrerin werden wollte. Ich lachte nicht. Auch als sie anderthalb Jahre später ihr Studium schmiss, um für eine Event-Firma zu jobben, lachte ich nicht. Dass wir dann schon zusammenleben würden, hätte ich mir damals nie träumen lassen. Auch, dass das Auslachen, das sie mir damals schenkte, nur das Erste, in einer unendlich langen Reihe von Auslachen sein würde, hatte ich damals nicht gewusst. Doch so war es bei uns. Rebecca nahm mich nie ernst. Immer wieder lachte sie über Äußerungen von mir, über Pläne und Ideen, die ich hatte. Mir machte es jedoch nichts aus, dass sie mich wie ein Kind behandelte. Wie ein dummes Kind, das Unsinn erzählte. Ich verübelte es ihr nicht, denn ich liebte sie dafür und nahm sie sehr ernst. Besonders wenn sie mich auslachte. Dies brachte mich dann stets dazu, meine eigenen Ideen und Gedanken zu hinterfragen und ich kam dann oftmals zu dem Schluss, dass sie wirklich lächerlich und unausgereift waren. Sie hielt mich für einen Spinner, der ich zweifelsohne war/bin. Sie war meine beste Kritikerin, meine Zensur. Und sie hatte immer Recht. Es war so. Und ich empfand das nicht als schlimm. Sie half mir, mich selbst zu hinterfragen, mich selbst kritischer zu sehen. Denn sie lachte mich nicht aus Bosheit aus, weil sie mir etwa schlecht gesonnen war, sondern weil sie es gut mit mir meinte. Sie zeigte mir, wo ich falsch lag, wo meine Ideen unausgereift und in sich nicht kohärent waren.
Ich war ihr dankbar dafür. Sie ermöglichte mir, mich zu verbessern. Sie avancierte zu meiner Muse und unter ihrer Obhut verbesserte sich mein Schreiben. Ich fand Wege meine Gedanken klarer und prägnanter zu formulieren, sie in Sätze zu gießen, die kristallscharfen Gegenständen glichen, die darauf abzielten, tief in das Fleisch des Lesers, tief in seinen Kopf zu dringen und ihn aus der selbstgefälligen Gemütlichkeit seines Daseins zu schneiden. Meine Texte wurden unter ihrer Federführung zu Waffen des Verstandes, während sie davor noch fette, träge Traumtänzer und Schaumschläger gewesen waren, Müßiggänger und Verblendete, so waren sie jetzt zu hellhörigen und weitsichtigen Spähern geworden, die sich weit in das Feindesland, in die eigenen dunklen Geheimnise der Seele vorpirschten und mit erstaunlichem Beutegut zurückkehrten. Ich glich einem Baum und Rebecca war die Sonne und die Gärtnerin, die mich wässerte, zugleich und die mit Schrift gefüllten Seiten waren die Früchte, die der Baum trug. Sie hegte und pflegte mich, beschenkte mich reich mit Liebe und ich versuchte, so gut ich konnte zurückzugeben, doch ich hatte das Gefühl, dass sie, die mich auslachte, mir mehr gab und mehr für mich tat, als ich ihr durch all meine Liebesbeweise zu geben in der Lage war (ich weiß nicht, ob das stimmte, aber es war das unweigerliche Gefühl, dass ich immer hatte).
Dieses unser erste Gespräch zog sich über mehrere Stunden hin. Erst als die Putzfrau kam und uns sagte, dass die Mensa geschlossen werden würde, stellten wir erstaunt fest, das es bereits nach vier war und wir eine mehr als drei stundige Mittagspause gemacht und all unsere anschließenden Seminare verpasst hatten. Also entschlossen wir uns gemeinsam, durch den grauen Novembernachmittag zur U-Bahn zu gehen. Wir fuhren auch noch drei Stationen zusammen, dann trennten sich unsere Wege. Die darauf folgende Woche trafen wir uns in der Vorlesung über deutsche Romantiker. Rebecca kam zu spät und setzte sich neben mich. Nach der Vorlesung gingen wir zusammen Kaffee trinken. Von da an trafen wir uns öfter, besuchten zusammen Vorlesungen und Seminare, gingen ins Theater…. Wie es weiter ging mit uns beiden kann sich sicherlich jeder denken. Irgendwann kam der erste Kuss und der Rest ist Geschichte. Bis zu jenem denkwürdigen Morgen, an dem ich erwachte und Rebecca verschwunden war.

3.

Ich hatte mir aus der Bibliothek von Robert Musil ‚Der Mann ohne Eigenschaften’ entliehen. Als ich zu Hause, ich lag auf meinem Bett, zu lesen beginnen wollte, und ich das Buch aufklappte, fiel mir ein festes Blatt Papier entgegen. Es war 16 Mal dasselbe Foto von einem Mädchen. Es war so ein Fotobogen, wie man ihn in einer Passbildmaschine, die in Bahnhöfen und Einkaufspassagen stehen, machen kann. Doch es waren nicht mehr 16 Bilder. Drei waren bereits ausgeschnitten und fehlten rechts unten. Ich nahm das Blatt in die Hand und betrachtete das Mädchen genauer. Sie war schön. Zu allererst fielen mir ihre vollen Lippen auf. Doch ‚voll’ reicht nicht aus um ihre Lippen zu beschreiben. Sie waren wirklich groß und drall, doch irgendwie klingen diese Adjektive fast schon negativ, so sehr nach künstlich, nach unnatürlich, nach aufgespritzten, operierten Lippen. Doch so wirkten ihre Lippen ganz sicher nicht. Sie waren eher groß und verführerisch – sexy eben.
Ihre Nase war nicht schmal, aber sie als breit zu bezeichnen wäre auch falsch gewesen. Je länger ich ihre Nase betrachtete, desto mehr fand ich, dass sie ein wenig meiner Nase ähnelte, wenn auch ein wenig kleiner, mit runden Knopfnasenlöchern. Ihre Augen waren, soweit ich das auf den winzigen Bildchen ausmachen konnte, türkisgrün, so wie die Träger ihres Oberteiles, welche ebenfalls auf dem Foto zu sehen waren. Ihre Augen waren geschminkt. Sie trug Wimperntusche. Unter ihren Augen zeichneten sich ganz deutlich Augenringe ab. Sie wirkte so, als ob sie in den letzten Wochen wenig geschlafen hatte, als wäre sie zu oft und zu lang in der Disko gewesen. Es hätte aber auch sein können, dass ihr etwas Schreckliches widerfahren war und diese Ringe auf Trauer und leidvolle Tränen zurückzuführen waren.
Das Mädchen hatte aschblonde Haare, gefärbt, wie unweigerlich zu erkennen war und trug diese gescheitelt und halb offen. Am Scheitel und dem Haaransatz war bereits die dunklere echte Haarfarbe zu erkennen, die dunkelblond oder hellbraun zu sein schien.
Nachdem ich das Foto eingehend betrachtet hatte, legte ich es in das Blatt in das Buch ohne zurück und begann zu lesen. Doch ich kam nicht umhin, es nach einigen Seiten wieder zur Hand zu nehmen und es erneut zu mustern. Irgendwie ging von diesem Fotobogen eine unbestimmte Faszination aus, weil er so viele Fragen aufwarf, mich neugierig machte. Wer war nur diese ominöse Person?
Diese Faszination blieb in den nächsten Tagen so groß, dass ich jedes Mal, wenn ich in dem Buch zu lesen begann, zuvor die Fotos in die Hand nahm und eingehend betrachtete. Denn obwohl es sich 13 Mal um dasselbe Bild handelte, hatte ich trotzdem das Gefühl, dass jedes dieser Bilder anders war. Auf dem Einem schien ihr Haar ein wenig offener zu sein, auf dem Nächsten der Mund ein bisschen mehr geöffnet, auf wiederum dem Nächsten der Ausdruck in den Augen ein wenig anders. Dieser Effekt stellte sich jedoch nur ein, wenn man mit dem Auge langsam von einem Bild zum Nächsten wanderte. Entfernte man jedoch den Bogen etwas von den Augen und betrachtet alle 13 Bilder auf einmal, wirkten sie wieder identisch. Dieser Effekt war erstaunlich und fesselte mich ungemein, so das ich dieses Experiment öfters wiederholte.
Was mich jedoch noch viel mehr in seinen Bann zog und mich angestrengt rätseln ließ, war die Frage, wie dieser Bilderbogen in das Buch gelangt war. Das Mädchen auf dem Foto wirkte jung, wie Anfang zwanzig vielleicht. Hatte sie das Buch selbst gelesen? Und wenn ja, wie hat es ihr dann gefallen? Was denkt sie über Ulrich, über Diotima und die Parallelaktion, jener Festlichkeit die anlässlich des 70. Thronjubiläums von Kaiser Franz Josef geplant ist? Wie gerne würde ich ihr diese Fragen stellen, denn im Moment ist sie eine Frau ohne Eigenschaften für mich, ein erstarrtes Foto, ein zum Schweigen verurteiltes Ikon, ein einbalsamiertes Rätsel, dass auf etwas anderes, nicht für mich zugängliches, verweist. Wie alt das Foto wohl sein mag? Vielleicht befindet es sich schon seit mehr las zehn Jahren in dem Buch, vielleicht sieht die darauf abgebildete Person mittlerweile ganz anders aus arbeitet irgendwo als Blumenverkäuferin oder als Konzerthauspianistin, vielleicht hat sie geheiratet, hat mittlerweile schon Kinder, vielleicht lebt sie gar nicht mehr in Deutschland, sondern ist ausgewandert nach Australien oder Kanada. Es gibt endlose Möglichkeiten die sich öffnen, so dass mir ganz schwindlig davon wird und ich versuche an etwas anderes zu denken.
Vielleicht hat auch nicht sie selbst das Buch gelesen, sondern ihr Freund, oder ihre Mutter, oder ihr Vater, oder ihre Freundin, oder ihre Schwester. Oder sie hat sich einen Scherz erlaubt. Sie hat nur drei der Fotos von dem Fotobogen benötigt und die anderen 13 nicht mehr und daher hat sie sie vielleicht einfach in irgendein Buch in der Bücherei, so aus Jux, damit vielleicht jemand, wenn er es findet, sich wundert, woher es kommt und dann, genauso wie ich jetzt, Spekulationen darüber anstellt.

4.

Rebeccas Verschwinden vor einem Jahr war so abrupt, so schlagartig, so unvermittelt, so plötzlich und wie sich dann herausstellte so konsequent, so dauerhaft und so scheinbar endgültig gewesen, dass ich damit nicht umgehen konnte, ganz einfach schon deshalb, weil es nicht fass-, nicht greifbar war. Es war so irreal, so vollkommen absurd, wie ein Mensch von einem Tag auf den Nächsten einfach verschwand, sich in Nichts, in Luft auflöste. So etwas gibt es freilich, aber wenn man davon jedoch selbst betroffen ist und der Mensch, den man liebt, plötzlich verschwindet, sich in Luft auflöst, dann ist das so, als würde jemand einem das Herz, ein Stückchen des innersten Selbst herausreißen. Und so war es wie ich mich fühlte; als wäre ein Teil meiner Selbst verschollen, aber nicht irgendein Teil meiner Selbst, sondern ein Überlebenswichtiger, gleich der Lunge im Organismus. Ich konnte nicht mehr atmen. Jeder Tag, den sie länger fort war, vergrößerte den Schmerz. In den ersten Wochen war immer noch Hoffnung gewesen, dass sie jeden Moment wieder auftauchen könnte. Doch dann wurde diese Hoffnung von brennender, glühender Verzweiflung verdrängt, die so sehr schmerzte, so sehr brannte, gleich einer Säure auf der Haut und sich so tief in mein Herz fraß, es in einen Würgegriff nahm und so sehr quälte, dass ich drohte daran kaputt zu gehen.
Doch der Mensch verfügt über einen unglaublichen Selbsterhaltungstrieb, der erstaunliches zu bewirken vermag. Und so war es auch bei mir: aus meiner Erinnerung verschwand Rebecca. Sie wurde von meinem Verstand ganz einfach restlos aus meinem Gedächtnis getilgt, gelöscht wie eine Computerdatei. Mein Schmerz, mein Leid war so groß, so unermesslich, dass dies der einzige Weg gewesen war, um zu überleben, nicht auf der Strecke zu bleiben. Über Nacht war Rebecca aus meinem Leben verschwunden und über Nacht verschwand auch jede Erinnerung an sie. Ich konnte mich danach beim Besten Willen nicht mehr an sie erinnern. So sehr sich mein Gehirn auch anstrengte, da war nicht der Hauch, nicht das Bruchstück einer Erinnerung: kein Bild, kein Detail, weder der Klang ihrer Stimme, noch wie sie roch oder wie sie sich anfühlte. Da war nichts. Einfach ein großer weißer Fleck. Gähnende Leere. Und das war auch das einzige, was ich die ganze Zeit spürte: dass etwas fehlte, dass ein Teil von mir nicht da, ich nicht komplett, vollständig war und ich immer noch das fehlende Stück suchte. Ich wusste nicht, wonach ich suchen musste, wer sie war. Alles was ich von ihr kannte war ihre Abwesenheit, ihre Nicht-Existenz, ihr Nicht-Vorhanden-Sein. Ich definierte sie über ihre Negation, darüber, dass sie nicht war. Doch das eigentlich Schlimme war nicht, zu wissen, dass etwas fehlte, sondern nicht zu wissen was fehlte, keine Vorstellung davon zu haben, was man eigentlich vermisste.
Und dann kam der Tag, an dem mir aus Robert Musil ‚Der Mann ohne Eigenschaften’ die Fotos von dieser fremden Frau entgegen fielen. Diese zogen mich auf unerklärliche Weise in ihren Bann. Ich konnte nicht aufhören, sie zu begutachten, dieses fremde Gesicht zu mustern. Irgendwann stand für mich fest, dass, wenn ich Rebecca finden wollte, ich diese Person ausfindig machen musste. Doch wie war das anzustellen? Was, wenn die Suche, die zu beginnen war, als einzigen Ansatzpunkt ein schweigendes, rätselhaftes Gesicht in dreizehnfacher Ausfertigung hatte?

5.

Der Tag, an dem mein Gedächtnis jegliche Erinnerung an Rebecca auslöschte, weil ich sonst an den Schmerzen zu Grunde gegangen wäre, war zugleich der Tag, an dem ich aufhörte Träume zu haben. Ich hatte in den Tagen, Wochen, Monaten nach Rebeccas Verschwinden entsetzliche Alpträume gehabt. In denen ich Rebecca sterben sah, ohne das ich es verhindern konnte. Ich sah sie auf den sicheren Tod zusteuern, doch es gelang mir nicht, sie zu erreichen, zu retten, ihren Tod zu verhindern, weil ich aus irgendwelchen Gründen nicht zu ihr gelangen und sie meine Warnrufe nicht hören konnte.
So sah ich sie beispielsweise durch nächtliche Straßen irren, mit langem Trenchcoat und ihre Haare vom Dunst der Nacht beschienen und hinter ihr, nur schatten-, schablonenhaft, jedoch immer näher an sie herankommend, eine Gestalt, mit erhobenem Arm und mit einem Messer in der Hand. Ich will sie rufen, sie vor der tödlichen Gefahr warnen, doch sie hört mich nicht, ich rufe immer lauter, und als sie mich endlich doch hört und sich zu mir umdreht, ist es bereits zu spät, die Gestalt stößt ihr das Messer in den Rücken und alles was ich sehe ist dieser Todesausdruck in ihrem Blick und dieses vor Entsetzten verzerrte Gesicht, dass mitten im Schock erstarrt und regungslos wird und das ist der Moment, in dem ich schreiend, schweißgebadet erwache.
Es waren diese grauenhaften Träume, die mich nach Rebeccas Verschwinden noch mehr leiden ließen, denn sie sorgten dafür, dass ich Angst vor dem Schlafen hatte. Ich hielt mich künstlich wach. Ich lag stundenlang im Bett und weinte. Auch tagsüber war ich nur ein Schatten meiner selbst: ich hatte keinen Hunger, versuchte nicht an das zu denken, was fehlte, bis mir das halbwegs gelang und ich an etwas anderes denken konnte, bis ich dann mit einem Mal zusammenschrak, weil ich plötzlich wieder wusste, was fehlte und dann kam ein Schmerz in mir hoch, der so war, als ob jeder Muskel brennen würde und ich keine Luft mehr bekäme. Ich magerte ab, dicke, schwarze Ringe entstanden unter meinen Augen und wenn mein Unterbewusstsein nicht diesen radikalen Schritt der Auslöschung begangen hätte, wäre ich an den Schmerzen zugrunde gegangen. So löschte also irgendetwas in mir, tief in meinem Innern, alles aus, jegliche Erinnerung an Rebecca und damit ihr Bild nicht plötzlich, durch einen Traum zum Beispiel, wiederkam, versiegten auch meine Träume. Ich hörte nicht nur auf, von Rebecca zu träumen, sondern hörte ganz auf damit. Die Träume erstarben in mir. Ich wurde zu einem Menschen ohne Träume und das in jeder Hinsicht, nicht nur in der Nacht, sondern auch mein Leben, meine Existenz betreffend.
Die Jahre darauf waren von einer Leere geprägt. Ich fühlte mich taub, fade und leer, bewegte mich traumgleich durch mein Leben, weil da immer das Gefühl war, dass etwas fehlte. Ich war über all die Zeit hinweg auf der Suche, nur das ich nicht die geringste Ahnung hatte, was es war. Ich suchte etwas, das mich wieder lebendig machen würde, das mich wach küssen würde, erlösen von den lebendigen Toten, denn das war es, was ich war: ein Zombie. Ich lebte und lebte zugleich nicht, es war als ob zwischen mir und meiner Umwelt ein Schleier war, denn ich nicht zu durchdringen vermochte, etwas, das mich zurück-, vom wahren Leben abhielt. Plötzlich begann ich Sylvia Plath zu verstehen, wenn sie schrieb: „Immer saß ich unter der gleichen Glasglocke in meinem eigenen sauren Dunst.“, denn so war es, wie ich mich fühlte. Die Auslöschung der Erinnerung und mein Zustand der Traumlosigkeit hatten einen Effekt der Betäubung, der lethargischen Gleichgültigkeit zur Folge, unter deren permanenten Einfluss ich stand.
Auf meiner Seele lag ein grauer Starr, der sie erblinden ließ, meine Empfindungen stumpften ab, ich wurde zu einem gleichgültigen, empfindungslosen Etwas, zu einem Boxsack, der in der Luft hing und auf den jeder einschlagen konnte. Ich saß morgens in der bahn und fühlte diese Sinnlosigkeit, diese Gräue, die sich von den anderen Passanten, von ihren Gesichtern, von überall zugleich ausbreitete und in mich eindrang. Eine schwarze Depression, die in meine Glieder drang und mich lähmte. Verzweifelt rang ich nach einem Ausweg, nach einer Antwort. Blickte mich ratlos nach allen Seiten um. Vermochte irgendjemand Antwort zu geben? Vermochte irgendwer mich zu ergreifen und aus der Schwärze, aus der Dunkelheit zu zerren und zurück ans Licht, an die Oberfläche zu befördern?
Ich spürte sehr deutlich, dass ein Stück in mir fehlte, dass ich einst besessen und dann verloren hatte. Und die Empfindungslosigkeit war mit am Schlimmsten, weil es so war, als würde man nicht lebendig sein, als wäre die Seele verstümmelt, gleich einem Engel, dem man die Flügel ausgerissen hatte und der nicht mehr zurück in den Himmel konnte und der daher zur irdischer Existenz verurteilt war. Ich war wie dieser Engel, nur das ich, anstatt in den Himmel, nicht mehr zurück zu mir selbst konnte, als wäre der Weg dahin abgeschnitten, als hätte ich den Schlüssel für jenen Schloss verloren, hinter dem sich die wahrhafte Empfindung, das wahrhafte Sein verbarg, welches man vielleicht auch kurz als ‚Leben’ bezeichnen könnte, als ‚wahrhaftiges Leben’, welches im scharfen Kontrast zu jenem schablonenhaften, matten Dasein, welches ich unter Betäubung führte, stand.

6.

Ich sitze auf meinem Bett und betrachte die fremde Frau auf dem Fotobogen. Ich werde daraus nicht schlau. ‚Zum Teufel damit!Â’, denke ich mir und stecke den Bogen in das Buch zurück. Ich schaue auf der ersten Seite, bis wann ich das Buch entliehen habe: bis zum 20. Januar. Heute ist der 20. Januar! Ich beschließe in der Bücherei anzurufen und das Buch, dass ich erst bis zur Hälfte gelesen hab, zu verlängern. Ich rufe an und trage der Bibliothekarin meine Bitte vor. Sie antwortet: „Es tut mir leid Herr Geradhand, aber gerade ist eine junge Dame hier, welche sich das Buch entleihen möchte. Sie können es daher leider nicht mehr verlängern.“ Ich muss schlucken. Ist diese junge Dame die Person von dem Fotobogen? Ich muss mich beherrschen, am liebsten würde ich die Bibliothekarin mit tausend Fragen auf einmal bombardieren, die mir alle durch den Kopf gehen: hat sie eine Nase mit runden Knopfnasenlöchern? Hat sie große, volle Lippen, hat sie blond gefärbte Haare mit einem dunklen Ansatz? Hat sie Ringe unter den Augen? Schließlich frage ich: „Hat diese Dame das Buch vielleicht schon einmal entliehen?“
„Diese Auskunft kann ich Ihnen leider nicht erteilen, Herr Geradhand!“
„Okay, dann fragen sie die Dame, ob sie fünf Minuten warten könnte, dann würde ich das Buch nämlich jetzt gleich vorbei bringen!“
„Ist in Ordnung, Herr Geradhand. Ich werde sie fragen. Einen Moment bitte.“
Ich warte einige Sekunden, die sich in die Ewigkeit zu erstrecken scheinen.
Dann: „Sie ist bereit auf sie kurz zu warten, Herr Geradhand.“
„Okay. Ich bin gleich da!“
Ich knalle den Hörer auf die Muschel, schlüpfe in meine Schuhe, werfe mir die Jacke über, schnapp mir den Schlüssel und renne los. Mitten auf der Treppe halte ich inne. Das Buch! Ich habe glatt das Buch vergessen! Also zurück in die Wohnung das Buch holen. Dann bin ich endlich auf der Strasse. Das Buch unterm Arm und den Wind in der Jacke, im Gesicht und im Haar. Ich renne. Ich fühle mich frei. Ich rempele versehentlich Passanten an, überquere eine Straße, ohne im Geringsten auf den Verkehr zu achten. Gleich werde ich bei der Bibliothek sein. Dort sehe ich sie bereits, auf der anderen Straßenseite: ‚Amerika GedenkbibliothekÂ’. Gleich werde ich dort sein und sie sehen. Nur noch wenige Meter trennen mich von ihr. Plötzlich vernehme ich neben mir das laute Quietschen von Autoreifen in Verbindung mit einem energischen Hupen. Dann spüre ich wie mich etwas von der Seite anstößt und zu Boden reißt. Dann wird mir schwarz vor Augen. Ich sinke in diese Schwärze. Es ist so warm und so friedlich…

Thomas Geradhand ist über eine rote Ampel gerannt und von einem Lastwagen, der nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte, erwischt worden. Jetzt liegt er bewusstlos auf der Strasse. Aus seinem Kopf sickert eine dunkle Flüssigkeit auf den Asphalt. Neben ihm liegt Robert Musil ‚Der Mann ohne Eigenschaften’. Ein Stück Papier ist halb aus dem Buch herausgerutscht und darauf sehen wir eine junge Frau in 13facher Ausfertigung, starr und kommentarlos nach oben in den grauen Novemberhimmel blicken.
Der Lastwagenfahrer öffnet die Tür der Fahrerkabine und kommt zu Thomas gestürzt, kniet sich neben ihn und fühlt seinen Puls. Rasendschnell versammeln sich andere Passanten um das Geschehen. Auch die Bibliothekarin und Hanna hören das Quietschen der Reifen und das Gehupe vor der Bibliothek und als sie herauslaufen, kniet der Fahrer bereits neben Thomas. Hanna sieht Thomas, die Blutlache neben seinem Kopf und ihr Foto, welches aus dem Buch herauslugt. Vor Entsetzten vergräbt sie ihr Gesicht tief in ihren Händen. Ungläubig blickt sie auf Thomas und wendet sich dann unter Schluchzen und Zittern von ihm ab.
Doch Thomas ist nicht tot. Sein Puls schlägt regelmäßig. Doch er ist in eine Art Koma gefallen. „Ein Krankenwagen! Kann jemand einen Krankenwagen rufen?“, ruft plötzlich der Fahrer, der immer noch neben Thomas kniet und gerade des schwachen Puls gemessen hat. Sofort greifen einige Passanten zu ihren Handys. Der Krankenwagen ist gerufen. Bereits nach kürzester Zeit kündigt er von weiter Entfernung, durch das laute, monotone Aufheulen der Sirene, welche durch die Straßen schallt, sein Kommen an. Dann ist er endlich da. Der Wagen hält direkt neben der Unfallstelle. Hinten öffnen sich zwei Türflügel und zwei Sanitäter kommen mit einer Trage heraus, auf welche Thomas verladen wird. Dann ist er im Inneren des Rettungswagens verschwunden. Einer der Sanitäter fragt die umstehenden Passanten, ob einer von ihnen den Verletzten kennt, ein Familienmitglied oder ein Bekannter ist und in das Krankenhausmitfahren will. Schließlich meldet sich Hanna und sagt, dass sie den Verunglückten kennt. Während der Krankentransporter mit Blaulicht und rasender Geschwindigkeit ins Krankenhaus eilt, sitzt Hanna neben der Barre, neben dem unmächtigen Thomas.

Als Thomas die Augen aufschlägt, sieht er Hanna und er weiß sofort: Hanna ist nicht Rebecca. Das wird ihm mit einem Mal so schlagartig bewusst, dass er am liebsten wieder zurück ins Koma sinken würde. Er beschließt die Augen wieder zu schließen, doch da hat Hanna bereits bemerkt, dass er erwacht ist.
„Du bist wach!“, sagt sie freudig. Ihre Augen sind noch von Tränen gerötet.
„Ja.“, sagt Thomas und ist dabei erstaunt, wie schwer ihm das Sprechen fällt, was für Schmerzen es ihm bereitet. Er will schlucken, Luft holen, doch all das bereitet ihm Schmerzen, so sehr, dass ihm schummrig wird. Hanna und alles, was um sie herum ist, beginnt zu schwimmen und unscharf zu werden, dann kommt die Schwärze zurück. Und während Thomas zurück in das Dunkle gleitet, denkt er immer wieder: ‚Das ist nicht Rebecca. Das ist nicht Rebecca. Das ist nicht Rebecca.Â’ Dann verliert er endgültig das Bewusstsein und da ist wieder nur mollige Schwärze und friedliche Stille.
Als Thomas die Augen erneut öffnet, ist Hanna verschwunden. Dafür stehen seine Eltern vor ihm. Er sieht ihre besorgten Gesichter und wie die Mutter mit dem Vater tuschelt. Noch hat er die Augen nicht ganz geöffnet, noch wissen sie nicht, dass er wach ist. Ein Arzt tritt hinzu und spricht mit den Eltern. Thomas vernimmt verschiedene Wörter, doch es will ihm nicht so recht gelingen, diese mit sich selbst und seinem Zustand in Verbindung zu bringen (was war eigentlich noch mal genau passiert?): Gehirnerschütterung, Platzwunde, einige Prellungen, eine gebrochene Rippe, stabiler Zustand, alles gut überstanden, noch mal Glück gehabt. Als der Arzt verschwunden ist, öffnet Thomas seine Augen ganz.
„Thomas!“, bricht es aus der Mutter hervor, ihre Stimme ist brüchig, Tränen beginnen aus ihren Augen zu purzeln. Die Mutter setzt sich zu ihm auf das Bett und beginnt seine Wange zu streicheln, während sie mit der anderen Hand und einem Taschentuch versucht die Wasserströme, die aus ihren Augen quellen, trocken zu legen, was ihr jedoch angesichts der enormen Mengen, nicht gelingen will. Der Vater steht dahinter, seine Hand auf der Schulter der Mutter. Er wirkt fast so, als ob ihm die Situation irgendwie peinlich wäre und er nicht so recht wüsste, wie er sich zu verhalten habe.
„Ach, Thomas! Was für einen Schrecken du uns bereitet hast! Wir wären vor Sorge fast gestorben! Gott sei Dank ist dir nicht etwas wirklich Schlimmes passiert! Ach, Thomas! Gott sei Dank bist du noch am Leben!“, bricht es aus der Mutter abermals hervor, während das Taschentuch in ihrer Hand bereits zu Tropfen beginnt.
Als Thomas sich wieder stark genug fühlt, erzählt er seinen Eltern, was passiert ist. Die Mutter erzählt ihm daraufhin von der jungen Frau, dass neben seinem Bett gewacht hatte, als sie im Krankenzimmer eintrafen. „So ein nettes Mädchen! Und sie hat eine Karte mit ihrer Telefonnummer hinterlassen. Hanna hieß sie. So ein hübsches, kluges Mädchen! Nicht wahr, Albert?“ Der Vater nickt mit gesengtem Haupt und sagt kein Wort. Thomas muss unweigerlich lachen, doch das Lachen verursacht ihm solche Schmerzen, dass es ihm im wahrsten Sinne des Wortes in der Kehle stecken blieb.

7.

Ich bin mit Hanna in einem Cafe verabredet. Zwei Wochen sind seit meinem Unfall vergangen. Die Prellungen sind zum größten Teil wieder abgeklungen und mein Kopf ist auch wieder okay. Nur meine gebrochene Rippe bereitet mir zuweilen beim Essen, Husten oder Lachen unangenehme Schmerzen. Vor zwei Tagen hab ich allen Mut aufgebracht und die Nummer angerufen, die Hanna meinen Eltern hinterlassen hat und mit ihr ein Treffen vereinbart. Ich blicke auf meine Uhr. Es ist bereits zehn nach drei. Ich musste die Kellnerin bereits zweimal wegschicken. Ich betaste mich selbst, die Jeans, die ich anhabe. Ich streiche mit meinen Handflächen über ihre geriffelte Oberfläche, über meine Beine. Ich streiche über den weichen Stoff meines dunkelblauen Pullovers, über meinen Bauch, ich reibe über meine Wangen und meine Augen, fahre mit meinen Fingern durch meine Haare, nehme eine Strähne, die dabei in mein Gesicht fällt, und stecke sie hinter das rechte Ohr. Ich bin da. Ich bin. Kein Zweifel. Meine Hand berührt die glatte, kühle, hölzerne Oberfläche des Tisches, eine geriffelte Serviette, die glänzende Oberfläche des Zuckerspenders.
Ich blicke mich im Cafe um. Am Tisch neben mir sitzt ein älterer, feiner Herr, in einem schwarzen Jackett, liest die FAZ, trinkt einen Espresso und raucht dabei eine Zigarette. Sein Gesicht ist ernst und sein Blick konzentriert auf den Artikel der Zeitung gerichtet, den er gerade liest und von dem er nicht wegblickt, selbst wenn er einen Schluck Cafe oder einen Zug von seiner Zigarette nimmt. Einen Tisch weiter sitzt eine Frau mittleren Alters, in einem beigen Businesskostüm, vor sich den Laptop ausgebreitet, von welchem sie irgendwelche, mir mysteriösen Zahlen abliest und in ihr Handy hineinbrüllt. Mir gegenüber sitzt ein junges, sehr frisch verliebt wirkendes Pärchen. Der Junge und das Mädchen blicken sich tief in die Augen. Er streichelt ihre Hand und flüstert ihr Zärtlichkeiten zu.
Würde Hanna noch kommen? Ich habe plötzlich Zweifel. Hinter dem Pärchen, an der Wand ist ein Spiegel angebracht, in dem ich mich sehen kann. Das bin also ich? ‚Komisch,’, denke ich, ‚dass ich eine eigene Identität hab, ein selbst denkendes Individuum bin, ein Subjekt, oder ist das nur ein Trugschluss? Ehe ich darüber weiter nachdenken kann, betritt Hanna das Cafe. Sie ist es tatsächlich. Und es ist nicht Rebecca, wird mir gleich wieder bewusst. ‚Woher weiß ich das eigentlich?’, frage ich mich, obwohl ich die Antwort schon längst kenne. Ich weiß es ganz einfach. Schlicht und ergreifend.
Wie begrüßen uns und bestellen. Anstatt meines Spiegelbildes betrachte ich jetzt sie. Hanna muss Anfang zwanzig sein, dass Foto hat also keine Ewigkeiten in dem Buch geschmort, ihr aschblondes Haar mit dem dunklen Ansatz, ist hinten zu einem losen Zopf zusammengebunden, ja auch das Aussehen ihrer Haare hat sich seit dem Entstehen des Fotos nicht auffällig verändert. Ihre grünen wachen Augen mustern mich eingehend und interessiert, genauso wie sie von meinen gemustert wird.
„Ich bin froh, dass es dir wieder gut geht.“, sagt sie schließlich. Es ist eine Feststellung, die sie ohne mich zu Fragen, aufstellt. Ich nicke nur, weiß noch nicht so recht, was ich ihr entgegnen soll.
„Als…“, sie stockt, „als ich dich damals auf der Strasse hab liegen sehen… ich dachte, ich dachte… na ja, du weißt schon. Ich war so erleichtert, als der Arzt mir dann gesagt hat, dass du nur eine leichte Gehirnerschütterung hast!“
„Und eine gebrochene Rippe.“, füge ich hinzu.
„Und eine gebrochene Rippe.“, wiederholt sie meine Worte. „Ich bin jedenfalls so froh und dankbar, dass dir nichts Schlimmeres passiert ist!“
„Hast du Musil gelesen?“, frage ich, um das Thema zu wechseln, dass mir unangenehm ist, denn was soll ich wirklich noch dazu sagen? Jetzt kann ich endlich meine Fragen stellen, die mir schon so lange auf der Seele brennen und mir ihr das Gespräch über Musil führen, dass ich mir so oft in meinem Kopf ausgemalt hatte.
„Ja, ich hatte es einmal angefangen, doch dann mittendrin aufgehört. Jetzt lese ich es noch einmal von Vorn.“
„Und was hälst du von dem Buch?“, bohre ich weiter.
„Ich mag die Sprache von Musil, ihre Akribie und Genauigkeit, in welcher doch zugleich eine Art von Bedächtigkeit, von Zartheit innewohnt. Er schreibt oftmals lange, komplizierte und verschachtelte Sätze, die jedoch zugleich etwas Leichtes, etwas Spielerisches in sich haben, so als ob die Wörter fliegen, über den Seiten schweben würden. Das mag ich.“
Ihre Antwort fasziniert mich. Ich möchte mehr wissen und frage nach: „Was hälst du von Ulrich?“
„Ulrich ist genauso wie du!“, antwortet sie und blickt mich dabei triumphierend an.
„Aber du kennst mich doch gar nicht!“, entgegne ich ihr ein wenig entrüstet.
„Genauso, wie ich Ulrich nicht richtig kenne. Er bleibt die Handlung über auch schablonenhaft, so wage und wenig konkret, er ist nicht wirklich greifbar, eben ein Mann ohne Eigenschaften! Aber das ganze Buch ist davon durchdrungen: alles bleibt irgendwie wage, schwebt in der Luft und wird nicht konkret. Auch die anderen Personen, Diotima zum Beispiel oder Bonadea, sie sind hochkomplex und man erfährt auf einer intellektuellen Ebene sehr viel über sie, aber was sie wirklich im aller Innersten berührt, der wahre Kern ihrer Empfindung, ihrer Seelen, ihre Einfachheit, das scheint irgendwie zu verschwimmen. Das klingt jetzt vielleicht blödsinnig, aber so kommt es mir vor.“
„Nein, das klingt überhaupt nicht blödsinnig. Erzähl bitte weiter!“
„Am stärksten wird das doch an der Parallelaktion deutlich, jener patriotischen Aktion anlässlich der doppelten Thronbesteigung: es gibt so viele Ideen, Vorschläge und Gedankengerüste, die in den Ausschüssen zur Planung der Aktion, eingebracht werden, doch im Endeffekt bleibt alles wage, unentschlossen, bleibt Idee, bleibt Hirngespinst. Und Ulrich ist genauso wie diese Parallelaktion! Er und alles was er macht, alles was seine Existenz, sein Handeln berührt bleibt form- und kantenlos, irgendwie schwammig. Und ich habe bei dir, auch wenn ich dich gar nicht richtig kenne, das unweigerliche Gefühl, dass du auch so bist, dass dieses auch auf dich und die Art und Weise wie du bist, zutrifft.“
„Du hast Recht, Hanna.“, gestehe ich ihr ein. „Doch das war nicht immer so gewesen. Mir ist vor einigen Jahren etwas passiert, dass alle Eigenschaften in mir vernichtet, abgetötet hat und mich form-, konturlos, zu einer blassen, unscheinbaren Gestalt gemacht hat.“
„Was war es, was dir widerfahren ist? Möchtest du darüber reden?“
„Ich werde es dir erzählen, Hanna.“
Und so erzähle ich ihr von Rebecca und ihrem plötzlichen Verschwinden. Es kostet mich viel Überwindung. Ich merke, wie meine Stimme ein paar Mal brüchig wird, dann komme ich ins Stocken, muss schlucken und kann dann erst weitererzählen. Jetzt erzähle ich hier also diesem, mir eigentlich wildfremden Mädchen von meinen innersten Verletzungen, kehre meine geheim gehaltenen Narben nach außen und stelle sie für sie zur Schau, so als würde ich ihr irgendwelche Narben an meinen Pulsadern zeigen und zu ihr sagen: ‚Schau, hier hab ich vor drei Jahren versucht mir das Leben zu nehmen.’ Doch komischer Weise macht es mir es mir nicht aus. Ich habe das Gefühl, dass sie der richtige Mensch ist, dem ich erzählen kann, was mit Rebecca passiert ist. Es ist so ein inneres Gefühl, eine von diesen instinktiven Intentionen, bei denen man sich nie täuscht. Und ich merke, wie gut es mir tut, darüber zu sprechen, auch wenn es im selben Moment unheimlich schmerzt (noch mehr als eine gebrochene Rippe beim Lachen), weil es befreiend ist.
Als ich endlich fertig erzählt habe, blicke ich sie erwartungsvoll an. Ihr Blick ist nachdenklich auf den Tisch gerichtet. Lange Zeit sagt sie kein Wort. Auf ihrer Stirn hat sich in der Mitte zwischen den Augenbrauen eine Falte gebildet. Schließlich blickt sie auf und fragt mich: „Und du kannst dich an gar nichts mehr erinnern? Nicht einmal an ein winzig kleines Detail?“
„Nein, ich habe wirklich alles vergessen. Ich kann mich an absolut gar nichts mehr erinnern!“
„Hast du denn keine Fotos von ihr? Oder irgendwelche Briefe, die sie dir mal geschrieben hat?“
„Nein. Es ist nichts mehr da.“
„Was ist mit den Sachen passiert? Ihr ward doch fast zwei Jahre zusammen. Habt zusammen gelebt, in derselben Wohnung. So etwas muss doch Spuren, Beweise hinterlassen haben. Das kann doch nicht alles weg sein!“
„Ich hab diese Sachen bestimmt alle mal zusammengesucht und dann…. Aber leider ist diese Erinnerung auch gelöscht, ausradiert worden. Jedenfalls weiß ich nicht mehr, was mit ihren Sachen geschehen ist.“
„Glaubst du, dass du sie weggeworfen hast, damit du nicht mehr erinnert wirst?“
„Ich weiß es nicht genau. Es ist jedoch durchaus möglich. Aber ich glaube, dass ich kein Mensch bin, der restlos all diese Erinnerungen entsorgen würde. Ich könnte mir vorstellen, dass ich einen Teil davon, vielleicht besonders wertvolle Erinnerungsstücke irgendwo deponiert, versteckt habe.“
„Das heißt, dass du sie noch finden kannst, denn wenn du sie irgendwo versteckt hast, dann können wir sie auch ausfindig machen!“, stößt Hanna freudig empor.
„Ich meinte, dass das vielleicht möglich ist. Es kann aber auch sein, dass wirklich alles verschollen ist.“
„Wir könnten zumindest den Versuch unternehmen, etwas zu finden. Vielleicht würden wir auf Antworten stoßen, die Rebeccas plötzliches Verschwinden erklären würden.“
„Glaubst du wirklich, dass das eine gute Idee ist? Wenn ich etwas von Rebecca wieder finden sollte, kämen vielleicht auch all die Schmerzen wieder zurück, würden sich die Wunden von neuem wieder öffnen.“
„Du solltest nicht vergessen“, wandte Hanna ein, „dass seit dem sehr viel Zeit vergangen ist und du jetzt vielleicht damit umgehen kannst, was du damals noch nicht konntest. Außerdem hast du ihr Verschwinden ja nie wirklich verarbeitet, sondern es einfach verdrängt und die Erinnerung daran ausgelöscht. Das heißt aber, dass tief in dir drin, in deinem Unterbewusstsein, in deinem Herzen, nenn es wie du willst, die Wunden weitereitern, weil sie nie verheilen konnten, denn Verdrängung ist keine Verarbeitung, das weiß jedes Kind und wenn du wieder ein Mensch werden möchtest, der lebendig ist und wirklich empfindet und nicht nur betäubt vor sich hinexistiert, dann musst du dich diesem Schmerz, deiner Erinnerung stellen, und es führt, dieser Meinung bin ich, kein Weg daran vorbei.“
Erstaunt höre ich Hanna zu und je länger sie redet, desto bewusster wird mir, dass sie vollkommen Recht hat. Ich muss mich meiner Erinnerung und dem alten Schmerz stellen, wenn ich jemals wieder ein lebendiger Mensch werden wollte, denn nur wer riskiert, verletzt zu werden, vermag wahrhaft zu Empfinden.
„Also gut“, ich willige ein. „Hast du Lust, mir bei meiner Suche nach irgendwelchen Spuren, Indizien, Hinweisen darauf, dass Rebecca jemals existiert hat, zu helfen? Ich glaube, dass ich allein noch nicht stark genug bin, um mich auf die Suche zu begeben.“
„Ich bin bereit dir zu helfen, Thomas.“, sagt Hanna. Dann blickt sie mich ernst an und legt, wie um ihre Worte damit zu unterstreichen, ihre Hand auf meine. Aus ihrem Blick spricht so etwas wie Aufmunterung, eine Mischung aus Vertrauen und Vertrautheit, die mir Kraft gibt. Mir macht es nichts aus, dass sie ein, mir im Grunde völlig unbekannter Mensch ist, ganz im Gegenteil, ich bin unendlich froh, dass sie jetzt da ist, gerade in diesem Moment und ich mich ihr öffnen und anvertrauen kann. Ich vermag mit ihr über Rebecca und meine Gefühle zu sprechen, wie noch nie zuvor mit einem Menschen. Ich würde am liebsten in Tränen ausbrechen. Es wären Tränen der Freude und des Leids zugleich. Des Leids, weil ich an Rebecca denken muss und damit wieder nur an den großen weißen Fleck, das leere Loch in meinem Innern. Und Tränen der Freude, weil ich mich hier zum ersten Mal wirklich einem Menschen öffnen und vom meinem Leid und meinem Dilemma erzählen konnte, was dazu führt, dass ich mich unheimlich befreit, aber zugleich auch sehr verletzbar und zerbrechlich fühle.

Tags darauf treffen wir uns in meiner Wohnung, um gemeinsam nach Spuren von Rebecca zu suchen. Hanna kommt gegen zwei. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir nichts finden werden. Wie oft hatte ich in den letzten Jahren schon in meinen Sachen gestöbert, um irgendeinen Hinweis für ihre Existenz zu erhalten. Manchmal kam es mir so vor, als sei sie nur ein Hirngespinst, eine Einbildung von mir. Das sind die schwachen Momente, in denen ich Zweifel habe.
Ich bin damals, ein Vierteljahr nach ihrem Verschwinden aus unserer gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Schablonenhaft kann ich mich daran plötzlich erinnern. Ich hatte es in unserer gemeinsamen Wohnung einfach nicht mehr ausgehalten, sie war so voll gesogen gewesen, voll gesogen mit Erinnerung, die aus jedem Winkel, aus jeder Ritze sickerte. Alles in der Wohnung triefte vor Erinnerung, war erinnerungsschwanger, strahlte eine Aura von Erinnerung aus, war mit einer glänzenden Erinnerungsschicht überzogen: Rebeccas Kleiderstücke, die im Schrank hingen, ihre Bücher auf den Regalen und neben dem Bett, ihre CDs neben der Stereoanlage – da war so viel! So viele Objekte, die einem bei der Betrachtung ansprangen, weil damit irgendein Gefühl, irgendein Erlebnis verbunden war, bei denen die gemeinsame Zeit im Kopf wieder erwachte, bei denen vor meinem inneren Auge sofort ein Film abzulaufen begann. Ich konnte in dieser Wohnung nicht mehr atmen, mich nicht mehr in ihr aufhalten, ohne weine zu müssen. Ich musste raus, es ging ganz einfach nicht mehr anders. Ich brauchte einen Neuanfang, also entschloss ich mich zu einem radikalen Schritt (dieser äußere Schritt ging dem inneren Schritt der Erinnerungstilgung voraus). Ich rief Rebeccas Eltern an und sagte ihnen, sie sollten alle Sachen von Rebecca mitnehmen, die sie wollten, die anderen würde ich auf die Straße stellen, in die Kleidersammlung geben, verschenken, oder sonst wie damit verfahren, Hauptsache: Weg! Daran kann ich mich also erinnern. Irgendwie. Wie ich alle Sachen von ihr eingesammelt und in großen Kisten verstaut habe, wie ich Säckeweise ihre Klamotten in die Kleidersammlung gebracht habe. Wie ich ihre Möbel einfach auf die Strasse gestellt habe. Doch da war noch etwas anderes. Eine… eine…, was war es nur? Jetzt kann ich mich erinnern: eine kleine dunkelgrüne Pappkiste!
„Moment mal!“, sage ich zu Hanna. Seit drei Stunden durchwühlen wir mittlerweile mein Zimmer, durchstöbern Fotoalben, irgendwelche mit Krimskram voll gestopften Schubfächer und Kisten, Hefter und Ordner in meinem Schreibtischschrank, ohne bisher auch nur eine Spur, einen Hinweis auf Rebecca erhalten zu haben. Selbst den Hängeboden über dem Badezimmer habe ich schon, jedoch ergebnislos, auf den Kopf gestellt.
„Ja?“ Hanna dreht sich erstaunt zu mir um. Sie geht gerade ein altes Fotoalbum von mir durch.
„Auf dem Dachboden. Eine grüne Kiste. Dort sind die Sachen von Rebecca drin!“

Wir laufen die Treppen hoch bis in den fünften Stock. Mit einem Stab öffnen wir die Luke, die auf den Dachboden führt. Ich nehme die, dafür vorgesehene Leiter, die an der Wand lehnt und stelle sie, leicht angewinkelt an die Luke, so dass ihr oberes Ende in der Öffnung verschwindet. Ich klettere zuerst hinauf und in das Dunkle des Dachbodens hinein. Beim Hineinklettern stütze ich mich mit meinen Händen ab und spüre den morschen, holzigen Fußboden und eine dicke Staubflockenschicht darauf, bei der mich leichter Ekel befällt. Hanna folgt mir. Ich kann nichts sehen, doch habe das Gefühl, den Staub, der dick und flockig überall zu sein scheint, einzuatmen. Er muss alles bedecken, ähnlich wie pulvriger Neuschnee an einem Wintermorgen die Erde, oder wie Lindenblüten im Frühjahr die parkenden Autos. Hanna reicht mir eine Kerze und Streichhölzer. Ich entzünde das Streichholz, das für den Bruchteil einer Sekunde hell aufleuchtet, sich jedoch dann mit einem matten Dimmern begnügt. Die Kerze, die ich dann entzünde, ist mit ihrem Licht schon einwenig großzügiger und wirft einen schwachen, orangen Lichtschimmer in die Dunkelheit und hüllt die unmittelbare Umgebung in ein fast schon märchenhaft verträumtes Licht, an welches sich meine Augen langsam zu gewöhnen beginnen. Schwarze, dunkle Gegenstände beginnen sich aus der Schwärze zu lösen und im flackernden Kerzenschein ein Eigenleben zu entwickeln. Sie gleichen vermummten und erstarrten Kolossen im Nebel, die in der Unklarheit des Raumes schweben.
Hanna und ich beginnen uns vorsichtig durch die, mit einem Staubteppich behangende Suppe der Dachkammer zu tasten, die voll gestopft mit irgendwelchen Kisten und Möbelstücken zu sein scheint, man stößt sich jedenfalls permanent irgendwo den Fuß oder droht über ein unerwartetes Hindernis zu stürzen. Nur sehr langsam geht es voran, in gebückter Haltung, denn durch die Schräge des Daches, kann man im allergrößten Teil des Bodens nicht aufrecht stehen. Ich nehme die Kerze und wische mit meinem Ärmel den zentimeterdicken Staub von einigen der Kisten.
Dann endlich finde ich die grüne Kiste. Es ist fast so etwas wie Instinkt. Ich weiß wo ich suchen muss. Ich hebe zwei leichte Schuhkartons, in denen nicht viel drin sein kann, von einem hohen Kistenstapel, lasse ein dickes Telefonbuch auf den Boden plumpsen, das so stark aufkommt, dass von dem Luftsog fast die Kerze ausgelöscht wird, deren Flamme kurz, aber bedrohlich aufflackert. Dann halte ich sie triumphierend in der Hand, die dunkelgrüne Pappkiste mit den Sachen von Rebecca.
„Hier ist sie!“, rufe ich und winke Hanna heran. Ich stelle die Kiste auf dem Boden ab. Ich will sie gleich hier öffnen, nicht erst unten in meiner Wohnung. Ich bitte Hanna die Kerze zu halten und mir zu leuchten. Behutsam lüfte ich den Deckel von der Kiste. Im orangematten Kerzenlicht sehe ich ein Bild von Rebecca, das obenauf liegt, auf einem Stapel von lauter Briefen und Fotos. Und plötzlich ist sie da. Die ganze Erinnerung. Schlagartig. Es ist wie ein Dammbruch. Eine riesige Flutwelle von Erinnerung bricht über mich hinein und durchflutet mich. Ich sehe tausende Bilder an meinem inneren Auge vorbeirauschen, zahllose verschüttete Momente, die plötzlich mit all ihrer Klarheit, ihren Geräuschen, ihren Düften, ihren Farben und ihren Gefühlen an die Oberfläche gespült werden. Doch es ist zuviel für mich auf einmal. Ich merke, wie mir schwindelig wird, wie mir die Kiste aus der Hand gleitet und wie meine Beine nachgeben.
„Thomas ist alles in Ordnung?“, höre ich Hanna noch rufen, während ich auf dem staubigem Fußboden der Dachkammer zusammensacke.

8.

Ich erwache in meinem Bett. Langsam komme ich zu mir. Ich fühle mich noch ganz taumelig und benommen und weiß für einen Moment nicht, was geschehen ist. Dann sehe ich die grüne Schachtel auf meinem Nachttisch. Hanna ist nicht da. Ich richte mich mühsam auf und greife nach der Schachtel. Ich nehme sie auf meinen Schoß und nehme den Deckel ab. Ich will das Foto von Rebecca sehen. Ich hab das Gefühl, vorhin auf dem Dachboden lediglich geträumt zu haben. Ich blicke in das Innere der Schachtel und bin sehr überrascht: sie ist leer!
Hanna muss die Sachen genommen haben, fährt es mir mit einemmal durch den Kopf. ‚Aber warum nur?’, frage ich mich. Sie muss angenommen haben, dass das alles zu viel für mich ist und mich zu sehr mitnimmt. Sie wollte mich bestimmt schützen, damit ich mich nicht übernehme. Immerhin bin ich ja auf dem Dachboden zusammengebrochen.
So logisch diese Erklärung für Hannas Verhalten auch klingt, irgendwie passt es mir nicht. Ich empfinde es als eine Art von Bevormundung, als einen Eingriff in die Legitimität meiner individuellen Handlungsfreiheit, und das auch noch von einem Menschen, der mich kaum kennt. Ich merke, wie Wut in mir aufsteigt. Vielleicht ist Wut zu viel gesagt. Vielleicht trifft eine Mischung aus Entrüstung und echter, nicht vorgespielter Kränkung am Besten den Kern der Sache. Ich entschließe mich jedenfalls Hanna anzurufen. Doch wo habe ich nur den Zettel mit ihrer Telefonnummer, den meine Mutter mir gegeben hat? Einen Moment. Nein, hier in meiner Jackentasche ist er auch nicht. Vielleicht in meinem Rücksack?
Ich suche an allen möglichen Orten, ohne jedoch den Zettel mit Hannas Nummer finden zu können. Dann gebe ich vorerst auf. Meine Wohnung ist noch ein ziemliches Chaos von der gemeinsamen Suchaktion. Überall offene Schranktüren und herausgezogene Schubfächer. Klamotten und Bücher die auf dem Fußboden verteilt liegen und ein riesiges Durcheinander an Fotos, die auf dem ganzen Teppich ausgebreitet sind. Hanna wird sich früher oder später schon bei mir melden und mir meine Sachen zurückgeben. Und dann werde ich ihr meine Meinung posaunen und ihr sagen, wie degradierend und bevormundet ich ihr Verhalten empfinde. Angesäuert und etwas ratlos gehe ich zu meinem Bett zurück und nehme die leere grüne Pappschachtel in die Hand. Komisch, denke ich, drinnen ist sie weiß. Ich nehme sie hoch und drehe sie, aus Langeweile zwischen meinen Fingern. Dann stelle ich sie neben meinem Nachttisch ab. Als ich den Deckel, der noch auf dem Bett liegt, hochhebe, um ihn zurück auf die Schachtel zu geben, fällt mir plötzlich auf, dass sich auf seiner weißen Innenseite, in der Mitte, ein schwarzes, breites Stück Klebeband befindet. Ich streiche mit meinem Daumen darüber und stelle eine Unebenheit fest. Irgendetwas muss sich unter dem Klebestreifen befinden, irgendein flacher Gegenstand. Ich beginne mit meinem Fingernagel eine Kante des Klebebandes vom Deckel zu lösen. Es geht nur sehr schwer, doch schließlich gelingt es mir. Auf der klebrigen Innenseite des Bandes haftet einer kleiner, silberner Schlüssel.
Ich schalte meine Nachttischlampe ein, weil das Tageslicht nicht mehr hell genug ist und inspiziere den Schlüssel eingehender. Eine Nummer befindet sich auf ihm: 749. Es muss der Schlüssel zu irgendeinem Spinnt oder Schließfach sein. Wo gibt es Schließfächer? Im Bahnhof! Das ist es, denke ich ganz aufgeregt und entschließe mich kurzer Hand zum Bahnhof zu gehen, um herauszufinden, ob meine Vermutung richtig ist. Der Schlüssel kann nur von mir selber sein, denke ich. Ich hab ihn bestimmt dort versteckt, weil ich wusste, dass ich ihn irgendwann finden würde. Vielleicht ist es Etwas von Rebecca, das dort versteckt ist. Eine Erklärung für ihr Verschwinden.
Als ich kurz darauf die Bahnhofshalle betrete, ist es kurz nach sieben. Im Bahnhof herrscht noch rege Geschäftigkeit. Eine junge Dame in einem eleganten Businesskostüm schiebt ein kleines Kofferwägelchen hinter sich her, Richtung Taxistand. Ein älteres Ehepaar, beide mit derselben roten Regenjacke bekleidet, steht etwas ratlos vor der Anzeigentafel und inspiziert die Abfahrtszeiten. Eine Gruppe Jugendlicher hat es sich mit ihren Rucksäcken, zusammengerollten Isomatten und Schlafsäcken auf einigen der Bänke bequem gemacht. Zwei ältere Männer mit Jogginghosen, beide mit einem dicken Bauch, der darüber quillt, lehnen an einem bereits geschlossenen Schalter und trinken Bier aus Dosen. Ein sehr helles, unangenehmes Licht durchflutet die Bahnhofshalle. Als ich sie betrete, schallt gerade eine Ansage: „ Der Zug auf Gleis Drei Richtung Frankfurt Oder, planmäßige Abfahrtszeit neunzehn Uhr acht, hat aller Voraussicht nach fünfzehn Minuten Verspätung. Ich wiederhole: Der Zug auf Gleis Drei Richtung Frankfurt Oder verspätet sich um voraussichtlich fünfzehn Minuten.“
Ich schreite bedächtig durch die Bahnhofshalle zu den Schließfächern. Sie beginnen mit der Nummer 100. Sechs Reihen weiter bin ich bei 700. Ich gehe die Reihe entlang, suche die 749: 710… 720… 730… 741… 749. Da ist es. Ich hole den Schlüssel aus meiner Hosentasche und steck ihn in das Schloss. Er passt nicht. Alles umsonst. Doch einen Moment. Meine Hände zittern ja, so aufgeregt bin ich. Auch mein Atem geht schnell und mein Herz pocht wie verrückt. Einfach tief durchatmen und es dann noch mal versuchen. Er passt. Ich hab es doch gewusst, jetzt passt er. Ich drehe das Schloss um. Es macht ‚KlickÂ’. Ich öffne die Tür und blicke hinein. Das Schließfach ist leer. Da hab ich mir wohl selber einen Streich gespielt. Ach nein, doch nicht. Da ist ein Umschlag. Den hätte ich fast übersehen. Ein Brief also. Interessant. Mal sehen, was darin steht. Mit immer noch zittrigen Händen öffne ich den Umschlag und entnehme ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Ich falte es auseinander. Es ist ein mit Hand geschriebener Brief. Es ist die Handschrift von Rebecca. Aufgeregt beginne ich zu lesen.

Lieber Thomas,

ich schreibe dir diesen Brief, weil ich denke, dass es notwendig ist.
Es gibt bestimmte Dinge, die schwer zu begreifen und noch schwerer zu akzeptieren sind. Darum versuche ich es kurz zu machen, in der Hoffnung, dass du endlich begreifst.
Thomas, ich existiere nicht und ich habe nie existiert. Und falls ich jemals existiert habe, dann war das in deiner Einbildung. Ich bin ein Hirngespinst von dir, mich gibt es nicht. Genauso wenig, wie es Hanna gibt. Wir entspringen lediglich deiner Phantasie. Gerade weil ich dich so gern hab, gerade weil ich dich so sehr mag, muss ich es dir endlich sagen. Fang endlich an zu Leben, Thomas! Vergiss mich einfach und kehre dich deiner Wirklichkeit zu!
Mit Liebe, Deine Rebecca.
Wie kann das sein? Nachdem Thomas zu Ende gelesen hat, steht er nur da. Er kann sich nicht bewegen, ist wie gelähmt. Wie ist das möglich? Er kann es nicht begreifen. Er versucht es, doch es geht nicht. Es ist zu groß, zu gewaltig. Doch dann beginnt er es zu fassen, ganz langsam, am Horizont taucht es auf und zeichnet sich dort immer deutlicher in Linien ab. Es wird ihm immer klarer. Langsam beginnt er es, wie erstarrt zu verstehen. Dann, mit einem Mal weiß er es mit Gewissheit. Es ist nicht Rebecca, die nicht existiert. Und auch nicht Hanna. Er ist es, zusammen mit ihnen, er, Thomas, der nicht existent ist, sondern nur eine Einbildung, eine Illusion, ein Hirngespinst, Phantasie. Und während er mit einem Schmunzeln an das Cafe denken muss, in dem er auf Hanna gewartet hat und daran, wie sich der Stoff seiner Jeans angefühlt hat, das Material des Holztisches und die glatte Oberfläche des Glaszuckerspenders, und wie er sich so sicher gewesen war, dass er wirklich existiert, wird es um ihn herum langsam dunkel. Dann bemerkt Thomas, wie er sich langsam beginnt aufzulösen. Er wehrt sich nicht dagegen. Schließlich wird er von der Schwärze um ihn herum gänzlich verschluckt. Dann ist er weg. Dies war das letzte Mal, das man Thomas sah, zurück bleibt ein offenes und leeres Schließfach.

9.

‚Dem Schreiber entkommen, zwischen den Zeilen existent werden, zwischen dem Koma und dem nächsten Buchstaben und Rebecca finden!’, denk sich Thomas, der aus der Bahnhofshalle, aus der Wirklichkeit verschwunden und rein geistlich geworden ist.
Thomas muss daran denken, dass er früher immer geschrieben hatte, um Welten zu erschaffen, um über seine bloße Existenz als solche hinweg zu sein, um etwas zu hinterlassen, um sich selbst zum zweiten Mal zu kreieren. Wie sinnlos ihm das jetzt vorkommt, angesichts der Tatsache, dass er ja nicht einmal ein einziges Mal existierte, sondern nur ausgedacht war. Er musste lachen. Er hatte immer soviel geschrieben. Was war dann jetzt mit den Figuren, die er sich ausgedacht hatte? Waren diese jetzt doppelt nicht existent? Und wer war der Urheber von dem, was er geschrieben hatte? Waren diese Ideen, Gedanken und Figuren ihm entsprungen oder auch jener Quelle, aus welcher er hervorgegangen war? Und wer, beziehungsweise was war es, dessen Hirngespinst er war? Und wie dagegen ankämpfen? Wie gegen dieses Diktat von Oben rebellieren?
Zumindest in einer Sache hatte Thomas bereits Erfolg in seiner Rebellion gegen seinen Urheber gehabt: die Geschichte hätte eigentlich in der Bahnhofshalle mit Thomas Verschwinden vor den Schließfächern zu Ende sein sollen, doch er hat mich neugierig gemacht. Ich wollte wissen, was mit ihm passiert und wohin er sich flüchtet, wo die Freiräume sind, in denen er sich meiner Einflussnahme entzieht. Ich hab ihn in dieser Fortsetzung der Geschichte bereits stilistisch ein wenig entmündigt, weil er kein Ich-Erzähler mehr sein kann, wie im ersten Teil der Geschichte, sondern von ihm lediglich in der dritten Person noch berichtet wird. Aber er ist ja schon ein bisschen daran gewöhnt. Als er den Unfall hatte und in sein verletzungsbedingtes Koma fiel, bereits da erzählte ich von ihm in der dritten Person. Und dadurch, dass ich jetzt ‚ich’ schreibe, erschaffe ich ja schon wieder ein neues literarisches Ich, eine neue Figur, Identität. Das ‚Ich’ vorhin, dass war ein fiktives ‚Ich’, das war Thomas, in der Rolle des Icherzählers. Doch jetzt bin ‚Ich’ wirklich ‚Ich’, der Autor. Das
1.

Ein grauer nasser Regen hat sich in der Stadt zwischen den Häuserschluchten festgesetzt. Er gleicht einer trüben Brühe, die über den Straßen schwimmt und in den Anorak sickert. Der Himmel ist weiß wie Milch, mit schmutzigen Flecken darauf. Braunes, feuchtes Laub schwimmt in den Pfützen oder klebt auf dem Asphalt. Die Äste der Bäume ragen schwarz, nackt und glitzernd in die Milchsuppe, in den trüben Himmel hinein. Gleich einer Dunstglocke hängt der Nebel über dem Szenario. Ich laufe schnell, weil ich merke, wie die kalte Feuchtigkeit in meine Glieder dringt. Feiner Nieselregen perlt von meinen Wangen ab. Ein Wind weht unangenehm von der Seite, zischt in meine Hosenbeine und kriecht in meine Jackenärmel.
Dann schließe ich endlich die Tür auf und bin in meiner Wohnung. Ich werfe die Schuhe ab, pelle mich aus meiner Jacke, gehe in die Küche, setze Wasser auf und drehe die Heizung an, wobei ich das ätzende Quietschen des Gasboilers vernehme. Einige Minuten später sitze ich an meinem Schreibtisch. Ich blicke aus dem Fenster und registriere, dass sich die milchige Suppe von vorhin bereits in Schwärze verwandelt hat. Das Licht der Schreibtischlampe strahlt hell. Ich blicke auf das weiße Blatt, das vor mir liegt. Dann nehme ich den Stift und beginne zu schreiben, das Blatt mit Worten zu füllen. Am Anfang langsam und zögerlich, dann immer schneller. Die Wörter verwandeln sich in Zeilen und die Zeilen zu Absätzen. Schließlich ist das erste Blatt gefüllt und ich beginne mit dem Zweiten.
Schreiben als Ventil, als Fluchttür, als Möglichkeit Welten zu erschaffen: Berge, Sonne, Meer und Abenteuer, als Möglichkeit um der Schwärze, der Milchsuppe und dem nassen Laub zu entfliehen. Schreiben, um sich selbst existent zu machen, über die Existenz als solche hinaus: ‚Ich schreibe also bin ich.’ Schreiben, um jeden Atemzug, jeden Augenblick auszunutzen und umzuwandeln, in Worte, in Sprache zu gießen. Sprache erschaffen, um sich selbst zu befreien, aus der Sprachlosigkeit zu katapultieren und in die Welt zu werfen, um erst wirklich zu existieren. Schreiben als Neuerschaffung des eigenen Ich, als eine zweite Geburt, eine zweite Existenzwerdung, mit dem Zweck, etwas zurückzulassen, nämlich Worte auf Papier, als Beweiß, so als würde man sagen: ‚Hier! Ich habe existiert.’ Um dem Vergessen, der Angst zu entkommen, die einem befällt, angesichts der Fluktuation, des Vergehens, des ‚In-das-Nichts’-‚ des ‚Dem-Tode-entgegen-Strebens’. Diesem etwas entgegensetzen, in der Hoffnung, dass etwas bleibt, wenn auch nicht für immer, dann zumindest für ein kleines Weilchen, in der Hoffnung, dass jemand es liest, dass ein Gedanke, der einem selbst entsprungen, woanders fortlebt, auf Resonanz stößt, etwas bewirkt, verändert, haften bleibt.
Dann kommt Rebecca. Ich höre, wie das Türschloss aufgesperrt wird. Wie sich die Tür öffnet. Ihre Schritte auf dem Fußboden. Wie sich die Tür wieder schließt. Wie sie ihre Tasche abstellt. Ihren Mantel aufhängt. Wie sie zu mir kommt. Ihren Atem. Ihre, sich nähernden Schritte und das leichte, kaum vernehmbare Knacken der Dielen. Ich spüre, wie sie hinter mir ist. Ihre physische Präsenz. Wie sich ihr Brustkorb hebt und senkt. Ich rieche ihren Geruch, nach frisch gewaschenem Haar, nach Wärme, nach Vertrautheit. Ich spüre ihre Hand auf meiner Schulter, auf meinem Arm, meinem Kopf, in meinem Haar, auf meiner Wange. Wie sie sich hinüberbeugt, ihren Kopf neben meinem, ihre Haare auf dem beschriebenen Papier. Ihr Atem. Ihre Stimme, sanft gehaucht, in meinem Ohr.
„Wie geht es dir?“, fragt sie mich.
Ich ziehe ihren Kopf näher an meinen heran und drehe mich ihr entgegen. Sie ist ganz nah. Ihre Nähe. Ihre Wärme. Ihre Augen. Ein kurzer Blick. Ihr Mund. Ein Kuss, nicht schnell, nicht kurz, dafür warm, vertraut, wohltuend.
Rebecca geht in die Küche. Ich höre einige Töpfe klappern, wie das Wasser in der Spüle an und wieder zugedreht wird. Wie sie das Radio anschaltet. Popmusik, Reklame. Ich wende mich wieder meinem Blatt, meinen Wörtern zu und lese sie. Verstehe sie nicht. Lese sie nochmals. Egal. Ich gehe in die Küche.
„Na was machst du?“, frage ich.
„Spaghetti.“
„Brauchst du Hilfe?“
„Nein, ist eine Fertigsoße. Aber wenn du magst, kannst du ja den Tisch decken!“
Ich gehe zum Schrank, nehme zwei Teller und zwei Gläser heraus und stelle sie auf den Tisch. Dann hole ich das Besteck aus der Schublade und aus dem Kühlschrank Orangensaft und Parmesan. Dann hole ich noch zwei Untersetzer für die Töpfe, verteile das Geschirr und betrachte kritisch für einen Moment mein Werk. Das Salz fehlt. Ich hole es und setze mich dann an den fertig gedeckten Tisch. Rebecca kommt mit einem dampfenden Topf roter Soße. Dann bringt sie ein Sieb mit den abgegossenen, ebenfalls dampfenden Nudeln und verteilt diese gerecht auf unseren beiden Tellern. Ich beobachte sie dabei und fühle mich plötzlich glücklich. Ich blicke in dieses, mir so vertraute Gesicht mit der, mir so vertrauten Nase, dem, mir so vertrauten Mund, den, mir so vertrauten dunklen Augen. Ihr langes braunes Haar.
Am darauf folgenden Tag war sie spurlos verschwunden. Es ist schwer zu erklären. Ich weiß noch, wie wir unsere Spaghetti aßen. Wie wir uns unterhielten, über ihre Arbeit und über das, was ich geschrieben hatte, welches zu lesen sie mir versprach. Ich weiß auch noch, wie wir nach dem Essen das Geschirr in das Spülbecken legten, ohne es abzuwaschen. Wie wir uns vor dem Fernseher, auf dem Sofa in eine Decke kuschelten und einen Film sahen. Wie wir danach ins Bett gingen, ich mich an sie schmiegte, ihre warme weiche Haut an meiner spürte und wie wir einschliefen. Und wie ich nachts plötzlich erwachte, weil ich dachte, dass Rebecca verschwunden war und wie ich beruhigt feststellte, dass sie an meiner Seite schlief, so das auch ich wieder in das Reich der Träume zurücksinken konnte.
Als ich dann am nächsten Morgen erwachte und Rebecca nicht da war, dachte ich mir nichts weiter dabei. Es kam öfters vor, dass sie früh raus musste, zur Arbeit. Mir nichts dabei denkend, ging ich unter die Dusche, zog mich an, frühstückte und fuhr danach in die Bibliothek, um wieder zu schreiben. Abends kam ich nach Hause und stellte fest, dass Rebecca noch nicht da war. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und begann ein Buch zu lesen. Rebecca kam nicht. Ich beschloss sie auf ihrem Handy anzurufen. Sie ging nicht ran. Ich ließ es solange klingeln, bis sich die Mailbox einschaltete, legte dann jedoch auf und hinterließ keine Nachricht, sie würde ja meine Nummer auf ihrem Display haben. Ich entscheid mich, mit dem Abendbrot, das wir sonst immer gemeinsam einnahmen, nicht mehr zu warten. Mein Magen knurrte, also schob ich einen Auflauf in die Röhre. Nachdem ich gegessen hatte, versuchte ich Rebecca nochmals zu erreichen. Wieder die Mailbox. Diesmal sprach ich drauf: „ Hi Rebecca, ich binÂ’s. ich hoffe dir gehtÂ’s gut. Meld dich doch, wenn du das hier hörst und sag mir wo du bist. Ich vermiss dich. Okay, Ciau Geliebte!“ Ich schaute noch etwas fern. Einen Film, doch ich war unkonzentriert und folgte nicht der Handlung, nahm nur verschwommen irgendwelche Schießereien, Autoverfolgungsjagden und Explosionen wahr. Mitten im Film stellte ich den Fernseher aus und ging ins Bett. Schmerzlich spürte ich die Leere an meiner Seite, ein Loch, dass etwas fehlte. Die Abwesenheit von Rebecca hatte fast schon eine physische Präsenz und streckte gierig ihre Tentakeln nach mir aus, die mich fest umschlungen hielten und würgten.
Am nächsten Morgen, ich fühlte mich leer und taub, beschloss ich, nach wiederholtem, ergebnislosen Anrufen auf ihrem Handy, ihre beste Freundin Moni anzurufen. Doch auch Moni hatte keine Ahnung wo Rebecca steckte. Sie versprach mir, sich zu melden, sobald sie was wüsste. Ich versuchte abermals Rebeccas Handy. Es war wieder die Mailbox, die selbe monotone, automatische Ansagenstimme. Verzweifelt legte ich auf. Was war nur zu tun? Was hatte das zu bedeuten? Ich versuchte zu begreifen. Versuchte zu verstehen, dass der Mensch, den man liebt und der gerade noch bei einem war, plötzlich, wie vom Erdboden verschwunden war. Einfach so. Einfach nicht da. Da ich dieses zu begreifen nicht in der Lage war, flüchtete sich mein Verstand in die Vergangenheit.

2.

Es war vor zwei Jahren, als ich Rebecca kennen lernte. Ich hatte damals gerade begonnen Germanistik und Politikwissenschaft in Berlin zu studieren. Alles war neu für mich gewesen. Ich war von zu Hause ausgezogen in eine andere Stadt. Ich kannte niemanden und sehnte mich zurück nach Kassel, zu meinen Freunden, meiner Familie und der vertrauten Umgebung. Die ersten Wochen des ersten Semesters waren furchtbar in Berlin. Einsam wie ein Wolf schlich ich mich von Vorlesung zu Vorlesung, von Seminar zu Seminar, von der Wohnung in die Uni und von der Uni wieder nach Haus. Ich fühlte mich so schrecklich verloren und die Großstadt drohte mich mit ihrer Anonymität zu verschlucken.
Es war in der Mensa. Ich saß schlecht gelaunt an einem Tisch und aß einen furchtbaren, versalzenden Linseneintopf, als plötzlich Rebecca kam, das Haar hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden, mit einem Tablett in der Hand und mich fragte, ob an dem Tisch noch Platz sei. Ich blickte kaum auf, sondern nickte nur kurz. Nachdem sie sich gesetzt hatte, fragte sie mich, ob ich Germanistik studieren würde. Ich blickte erstaunt auf und bejahte. Sie erzählte mir, dass sie mich in einer Vorlesung gesehen hatte. So gerieten wir ganz ungezwungen in eine lang andauernde Unterhaltung. Wir saßen den ganzen Tag in der Mensa ohne zu merken wie die Zeit verstrich. Unsere Teller waren längst gelehrt (zumindest ihrer, ich hatte mich nicht überwinden können, die furchtbare versalzende Suppe ganz aufzuessen). Wir holten uns Mensakaffe und unterhielten uns weiter. Sie fragte mich, warum ich Germanistik studiere und als ich antwortete, dass ich gern Autor werden würde und nur studierte, um mehr über Sprache zu lernen, um sozusagen die Substanz der Sprache zu ergründen, um dann später selbst in der Lage sein zu können, gleichwertige, qualitative Substanz zu erschaffen, da musste sie lachen. Ich fragte zurück, warum sie studierte. Sie antwortete, dass sie Lehrerin werden wollte. Ich lachte nicht. Auch als sie anderthalb Jahre später ihr Studium schmiss, um für eine Event-Firma zu jobben, lachte ich nicht. Dass wir dann schon zusammenleben würden, hätte ich mir damals nie träumen lassen. Auch, dass das Auslachen, das sie mir damals schenkte, nur das Erste, in einer unendlich langen Reihe von Auslachen sein würde, hatte ich damals nicht gewusst. Doch so war es bei uns. Rebecca nahm mich nie ernst. Immer wieder lachte sie über Äußerungen von mir, über Pläne und Ideen, die ich hatte. Mir machte es jedoch nichts aus, dass sie mich wie ein Kind behandelte. Wie ein dummes Kind, das Unsinn erzählte. Ich verübelte es ihr nicht, denn ich liebte sie dafür und nahm sie sehr ernst. Besonders wenn sie mich auslachte. Dies brachte mich dann stets dazu, meine eigenen Ideen und Gedanken zu hinterfragen und ich kam dann oftmals zu dem Schluss, dass sie wirklich lächerlich und unausgereift waren. Sie hielt mich für einen Spinner, der ich zweifelsohne war/bin. Sie war meine beste Kritikerin, meine Zensur. Und sie hatte immer Recht. Es war so. Und ich empfand das nicht als schlimm. Sie half mir, mich selbst zu hinterfragen, mich selbst kritischer zu sehen. Denn sie lachte mich nicht aus Bosheit aus, weil sie mir etwa schlecht gesonnen war, sondern weil sie es gut mit mir meinte. Sie zeigte mir, wo ich falsch lag, wo meine Ideen unausgereift und in sich nicht kohärent waren.
Ich war ihr dankbar dafür. Sie ermöglichte mir, mich zu verbessern. Sie avancierte zu meiner Muse und unter ihrer Obhut verbesserte sich mein Schreiben. Ich fand Wege meine Gedanken klarer und prägnanter zu formulieren, sie in Sätze zu gießen, die kristallscharfen Gegenständen glichen, die darauf abzielten, tief in das Fleisch des Lesers, tief in seinen Kopf zu dringen und ihn aus der selbstgefälligen Gemütlichkeit seines Daseins zu schneiden. Meine Texte wurden unter ihrer Federführung zu Waffen des Verstandes, während sie davor noch fette, träge Traumtänzer und Schaumschläger gewesen waren, Müßiggänger und Verblendete, so waren sie jetzt zu hellhörigen und weitsichtigen Spähern geworden, die sich weit in das Feindesland, in die eigenen dunklen Geheimnise der Seele vorpirschten und mit erstaunlichem Beutegut zurückkehrten. Ich glich einem Baum und Rebecca war die Sonne und die Gärtnerin, die mich wässerte, zugleich und die mit Schrift gefüllten Seiten waren die Früchte, die der Baum trug. Sie hegte und pflegte mich, beschenkte mich reich mit Liebe und ich versuchte, so gut ich konnte zurückzugeben, doch ich hatte das Gefühl, dass sie, die mich auslachte, mir mehr gab und mehr für mich tat, als ich ihr durch all meine Liebesbeweise zu geben in der Lage war (ich weiß nicht, ob das stimmte, aber es war das unweigerliche Gefühl, dass ich immer hatte).
Dieses unser erste Gespräch zog sich über mehrere Stunden hin. Erst als die Putzfrau kam und uns sagte, dass die Mensa geschlossen werden würde, stellten wir erstaunt fest, das es bereits nach vier war und wir eine mehr als drei stundige Mittagspause gemacht und all unsere anschließenden Seminare verpasst hatten. Also entschlossen wir uns gemeinsam, durch den grauen Novembernachmittag zur U-Bahn zu gehen. Wir fuhren auch noch drei Stationen zusammen, dann trennten sich unsere Wege. Die darauf folgende Woche trafen wir uns in der Vorlesung über deutsche Romantiker. Rebecca kam zu spät und setzte sich neben mich. Nach der Vorlesung gingen wir zusammen Kaffee trinken. Von da an trafen wir uns öfter, besuchten zusammen Vorlesungen und Seminare, gingen ins Theater…. Wie es weiter ging mit uns beiden kann sich sicherlich jeder denken. Irgendwann kam der erste Kuss und der Rest ist Geschichte. Bis zu jenem denkwürdigen Morgen, an dem ich erwachte und Rebecca verschwunden war.

3.

Ich hatte mir aus der Bibliothek von Robert Musil ‚Der Mann ohne Eigenschaften’ entliehen. Als ich zu Hause, ich lag auf meinem Bett, zu lesen beginnen wollte, und ich das Buch aufklappte, fiel mir ein festes Blatt Papier entgegen. Es war 16 Mal dasselbe Foto von einem Mädchen. Es war so ein Fotobogen, wie man ihn in einer Passbildmaschine, die in Bahnhöfen und Einkaufspassagen stehen, machen kann. Doch es waren nicht mehr 16 Bilder. Drei waren bereits ausgeschnitten und fehlten rechts unten. Ich nahm das Blatt in die Hand und betrachtete das Mädchen genauer. Sie war schön. Zu allererst fielen mir ihre vollen Lippen auf. Doch ‚voll’ reicht nicht aus um ihre Lippen zu beschreiben. Sie waren wirklich groß und drall, doch irgendwie klingen diese Adjektive fast schon negativ, so sehr nach künstlich, nach unnatürlich, nach aufgespritzten, operierten Lippen. Doch so wirkten ihre Lippen ganz sicher nicht. Sie waren eher groß und verführerisch – sexy eben.
Ihre Nase war nicht schmal, aber sie als breit zu bezeichnen wäre auch falsch gewesen. Je länger ich ihre Nase betrachtete, desto mehr fand ich, dass sie ein wenig meiner Nase ähnelte, wenn auch ein wenig kleiner, mit runden Knopfnasenlöchern. Ihre Augen waren, soweit ich das auf den winzigen Bildchen ausmachen konnte, türkisgrün, so wie die Träger ihres Oberteiles, welche ebenfalls auf dem Foto zu sehen waren. Ihre Augen waren geschminkt. Sie trug Wimperntusche. Unter ihren Augen zeichneten sich ganz deutlich Augenringe ab. Sie wirkte so, als ob sie in den letzten Wochen wenig geschlafen hatte, als wäre sie zu oft und zu lang in der Disko gewesen. Es hätte aber auch sein können, dass ihr etwas Schreckliches widerfahren war und diese Ringe auf Trauer und leidvolle Tränen zurückzuführen waren.
Das Mädchen hatte aschblonde Haare, gefärbt, wie unweigerlich zu erkennen war und trug diese gescheitelt und halb offen. Am Scheitel und dem Haaransatz war bereits die dunklere echte Haarfarbe zu erkennen, die dunkelblond oder hellbraun zu sein schien.
Nachdem ich das Foto eingehend betrachtet hatte, legte ich es in das Blatt in das Buch ohne zurück und begann zu lesen. Doch ich kam nicht umhin, es nach einigen Seiten wieder zur Hand zu nehmen und es erneut zu mustern. Irgendwie ging von diesem Fotobogen eine unbestimmte Faszination aus, weil er so viele Fragen aufwarf, mich neugierig machte. Wer war nur diese ominöse Person?
Diese Faszination blieb in den nächsten Tagen so groß, dass ich jedes Mal, wenn ich in dem Buch zu lesen begann, zuvor die Fotos in die Hand nahm und eingehend betrachtete. Denn obwohl es sich 13 Mal um dasselbe Bild handelte, hatte ich trotzdem das Gefühl, dass jedes dieser Bilder anders war. Auf dem Einem schien ihr Haar ein wenig offener zu sein, auf dem Nächsten der Mund ein bisschen mehr geöffnet, auf wiederum dem Nächsten der Ausdruck in den Augen ein wenig anders. Dieser Effekt stellte sich jedoch nur ein, wenn man mit dem Auge langsam von einem Bild zum Nächsten wanderte. Entfernte man jedoch den Bogen etwas von den Augen und betrachtet alle 13 Bilder auf einmal, wirkten sie wieder identisch. Dieser Effekt war erstaunlich und fesselte mich ungemein, so das ich dieses Experiment öfters wiederholte.
Was mich jedoch noch viel mehr in seinen Bann zog und mich angestrengt rätseln ließ, war die Frage, wie dieser Bilderbogen in das Buch gelangt war. Das Mädchen auf dem Foto wirkte jung, wie Anfang zwanzig vielleicht. Hatte sie das Buch selbst gelesen? Und wenn ja, wie hat es ihr dann gefallen? Was denkt sie über Ulrich, über Diotima und die Parallelaktion, jener Festlichkeit die anlässlich des 70. Thronjubiläums von Kaiser Franz Josef geplant ist? Wie gerne würde ich ihr diese Fragen stellen, denn im Moment ist sie eine Frau ohne Eigenschaften für mich, ein erstarrtes Foto, ein zum Schweigen verurteiltes Ikon, ein einbalsamiertes Rätsel, dass auf etwas anderes, nicht für mich zugängliches, verweist. Wie alt das Foto wohl sein mag? Vielleicht befindet es sich schon seit mehr las zehn Jahren in dem Buch, vielleicht sieht die darauf abgebildete Person mittlerweile ganz anders aus arbeitet irgendwo als Blumenverkäuferin oder als Konzerthauspianistin, vielleicht hat sie geheiratet, hat mittlerweile schon Kinder, vielleicht lebt sie gar nicht mehr in Deutschland, sondern ist ausgewandert nach Australien oder Kanada. Es gibt endlose Möglichkeiten die sich öffnen, so dass mir ganz schwindlig davon wird und ich versuche an etwas anderes zu denken.
Vielleicht hat auch nicht sie selbst das Buch gelesen, sondern ihr Freund, oder ihre Mutter, oder ihr Vater, oder ihre Freundin, oder ihre Schwester. Oder sie hat sich einen Scherz erlaubt. Sie hat nur drei der Fotos von dem Fotobogen benötigt und die anderen 13 nicht mehr und daher hat sie sie vielleicht einfach in irgendein Buch in der Bücherei, so aus Jux, damit vielleicht jemand, wenn er es findet, sich wundert, woher es kommt und dann, genauso wie ich jetzt, Spekulationen darüber anstellt.

4.

Rebeccas Verschwinden vor einem Jahr war so abrupt, so schlagartig, so unvermittelt, so plötzlich und wie sich dann herausstellte so konsequent, so dauerhaft und so scheinbar endgültig gewesen, dass ich damit nicht umgehen konnte, ganz einfach schon deshalb, weil es nicht fass-, nicht greifbar war. Es war so irreal, so vollkommen absurd, wie ein Mensch von einem Tag auf den Nächsten einfach verschwand, sich in Nichts, in Luft auflöste. So etwas gibt es freilich, aber wenn man davon jedoch selbst betroffen ist und der Mensch, den man liebt, plötzlich verschwindet, sich in Luft auflöst, dann ist das so, als würde jemand einem das Herz, ein Stückchen des innersten Selbst herausreißen. Und so war es wie ich mich fühlte; als wäre ein Teil meiner Selbst verschollen, aber nicht irgendein Teil meiner Selbst, sondern ein Überlebenswichtiger, gleich der Lunge im Organismus. Ich konnte nicht mehr atmen. Jeder Tag, den sie länger fort war, vergrößerte den Schmerz. In den ersten Wochen war immer noch Hoffnung gewesen, dass sie jeden Moment wieder auftauchen könnte. Doch dann wurde diese Hoffnung von brennender, glühender Verzweiflung verdrängt, die so sehr schmerzte, so sehr brannte, gleich einer Säure auf der Haut und sich so tief in mein Herz fraß, es in einen Würgegriff nahm und so sehr quälte, dass ich drohte daran kaputt zu gehen.
Doch der Mensch verfügt über einen unglaublichen Selbsterhaltungstrieb, der erstaunliches zu bewirken vermag. Und so war es auch bei mir: aus meiner Erinnerung verschwand Rebecca. Sie wurde von meinem Verstand ganz einfach restlos aus meinem Gedächtnis getilgt, gelöscht wie eine Computerdatei. Mein Schmerz, mein Leid war so groß, so unermesslich, dass dies der einzige Weg gewesen war, um zu überleben, nicht auf der Strecke zu bleiben. Über Nacht war Rebecca aus meinem Leben verschwunden und über Nacht verschwand auch jede Erinnerung an sie. Ich konnte mich danach beim Besten Willen nicht mehr an sie erinnern. So sehr sich mein Gehirn auch anstrengte, da war nicht der Hauch, nicht das Bruchstück einer Erinnerung: kein Bild, kein Detail, weder der Klang ihrer Stimme, noch wie sie roch oder wie sie sich anfühlte. Da war nichts. Einfach ein großer weißer Fleck. Gähnende Leere. Und das war auch das einzige, was ich die ganze Zeit spürte: dass etwas fehlte, dass ein Teil von mir nicht da, ich nicht komplett, vollständig war und ich immer noch das fehlende Stück suchte. Ich wusste nicht, wonach ich suchen musste, wer sie war. Alles was ich von ihr kannte war ihre Abwesenheit, ihre Nicht-Existenz, ihr Nicht-Vorhanden-Sein. Ich definierte sie über ihre Negation, darüber, dass sie nicht war. Doch das eigentlich Schlimme war nicht, zu wissen, dass etwas fehlte, sondern nicht zu wissen was fehlte, keine Vorstellung davon zu haben, was man eigentlich vermisste.
Und dann kam der Tag, an dem mir aus Robert Musil ‚Der Mann ohne Eigenschaften’ die Fotos von dieser fremden Frau entgegen fielen. Diese zogen mich auf unerklärliche Weise in ihren Bann. Ich konnte nicht aufhören, sie zu begutachten, dieses fremde Gesicht zu mustern. Irgendwann stand für mich fest, dass, wenn ich Rebecca finden wollte, ich diese Person ausfindig machen musste. Doch wie war das anzustellen? Was, wenn die Suche, die zu beginnen war, als einzigen Ansatzpunkt ein schweigendes, rätselhaftes Gesicht in dreizehnfacher Ausfertigung hatte?

5.

Der Tag, an dem mein Gedächtnis jegliche Erinnerung an Rebecca auslöschte, weil ich sonst an den Schmerzen zu Grunde gegangen wäre, war zugleich der Tag, an dem ich aufhörte Träume zu haben. Ich hatte in den Tagen, Wochen, Monaten nach Rebeccas Verschwinden entsetzliche Alpträume gehabt. In denen ich Rebecca sterben sah, ohne das ich es verhindern konnte. Ich sah sie auf den sicheren Tod zusteuern, doch es gelang mir nicht, sie zu erreichen, zu retten, ihren Tod zu verhindern, weil ich aus irgendwelchen Gründen nicht zu ihr gelangen und sie meine Warnrufe nicht hören konnte.
So sah ich sie beispielsweise durch nächtliche Straßen irren, mit langem Trenchcoat und ihre Haare vom Dunst der Nacht beschienen und hinter ihr, nur schatten-, schablonenhaft, jedoch immer näher an sie herankommend, eine Gestalt, mit erhobenem Arm und mit einem Messer in der Hand. Ich will sie rufen, sie vor der tödlichen Gefahr warnen, doch sie hört mich nicht, ich rufe immer lauter, und als sie mich endlich doch hört und sich zu mir umdreht, ist es bereits zu spät, die Gestalt stößt ihr das Messer in den Rücken und alles was ich sehe ist dieser Todesausdruck in ihrem Blick und dieses vor Entsetzten verzerrte Gesicht, dass mitten im Schock erstarrt und regungslos wird und das ist der Moment, in dem ich schreiend, schweißgebadet erwache.
Es waren diese grauenhaften Träume, die mich nach Rebeccas Verschwinden noch mehr leiden ließen, denn sie sorgten dafür, dass ich Angst vor dem Schlafen hatte. Ich hielt mich künstlich wach. Ich lag stundenlang im Bett und weinte. Auch tagsüber war ich nur ein Schatten meiner selbst: ich hatte keinen Hunger, versuchte nicht an das zu denken, was fehlte, bis mir das halbwegs gelang und ich an etwas anderes denken konnte, bis ich dann mit einem Mal zusammenschrak, weil ich plötzlich wieder wusste, was fehlte und dann kam ein Schmerz in mir hoch, der so war, als ob jeder Muskel brennen würde und ich keine Luft mehr bekäme. Ich magerte ab, dicke, schwarze Ringe entstanden unter meinen Augen und wenn mein Unterbewusstsein nicht diesen radikalen Schritt der Auslöschung begangen hätte, wäre ich an den Schmerzen zugrunde gegangen. So löschte also irgendetwas in mir, tief in meinem Innern, alles aus, jegliche Erinnerung an Rebecca und damit ihr Bild nicht plötzlich, durch einen Traum zum Beispiel, wiederkam, versiegten auch meine Träume. Ich hörte nicht nur auf, von Rebecca zu träumen, sondern hörte ganz auf damit. Die Träume erstarben in mir. Ich wurde zu einem Menschen ohne Träume und das in jeder Hinsicht, nicht nur in der Nacht, sondern auch mein Leben, meine Existenz betreffend.
Die Jahre darauf waren von einer Leere geprägt. Ich fühlte mich taub, fade und leer, bewegte mich traumgleich durch mein Leben, weil da immer das Gefühl war, dass etwas fehlte. Ich war über all die Zeit hinweg auf der Suche, nur das ich nicht die geringste Ahnung hatte, was es war. Ich suchte etwas, das mich wieder lebendig machen würde, das mich wach küssen würde, erlösen von den lebendigen Toten, denn das war es, was ich war: ein Zombie. Ich lebte und lebte zugleich nicht, es war als ob zwischen mir und meiner Umwelt ein Schleier war, denn ich nicht zu durchdringen vermochte, etwas, das mich zurück-, vom wahren Leben abhielt. Plötzlich begann ich Sylvia Plath zu verstehen, wenn sie schrieb: „Immer saß ich unter der gleichen Glasglocke in meinem eigenen sauren Dunst.“, denn so war es, wie ich mich fühlte. Die Auslöschung der Erinnerung und mein Zustand der Traumlosigkeit hatten einen Effekt der Betäubung, der lethargischen Gleichgültigkeit zur Folge, unter deren permanenten Einfluss ich stand.
Auf meiner Seele lag ein grauer Starr, der sie erblinden ließ, meine Empfindungen stumpften ab, ich wurde zu einem gleichgültigen, empfindungslosen Etwas, zu einem Boxsack, der in der Luft hing und auf den jeder einschlagen konnte. Ich saß morgens in der bahn und fühlte diese Sinnlosigkeit, diese Gräue, die sich von den anderen Passanten, von ihren Gesichtern, von überall zugleich ausbreitete und in mich eindrang. Eine schwarze Depression, die in meine Glieder drang und mich lähmte. Verzweifelt rang ich nach einem Ausweg, nach einer Antwort. Blickte mich ratlos nach allen Seiten um. Vermochte irgendjemand Antwort zu geben? Vermochte irgendwer mich zu ergreifen und aus der Schwärze, aus der Dunkelheit zu zerren und zurück ans Licht, an die Oberfläche zu befördern?
Ich spürte sehr deutlich, dass ein Stück in mir fehlte, dass ich einst besessen und dann verloren hatte. Und die Empfindungslosigkeit war mit am Schlimmsten, weil es so war, als würde man nicht lebendig sein, als wäre die Seele verstümmelt, gleich einem Engel, dem man die Flügel ausgerissen hatte und der nicht mehr zurück in den Himmel konnte und der daher zur irdischer Existenz verurteilt war. Ich war wie dieser Engel, nur das ich, anstatt in den Himmel, nicht mehr zurück zu mir selbst konnte, als wäre der Weg dahin abgeschnitten, als hätte ich den Schlüssel für jenen Schloss verloren, hinter dem sich die wahrhafte Empfindung, das wahrhafte Sein verbarg, welches man vielleicht auch kurz als ‚Leben’ bezeichnen könnte, als ‚wahrhaftiges Leben’, welches im scharfen Kontrast zu jenem schablonenhaften, matten Dasein, welches ich unter Betäubung führte, stand.

6.

Ich sitze auf meinem Bett und betrachte die fremde Frau auf dem Fotobogen. Ich werde daraus nicht schlau. ‚Zum Teufel damit!Â’, denke ich mir und stecke den Bogen in das Buch zurück. Ich schaue auf der ersten Seite, bis wann ich das Buch entliehen habe: bis zum 20. Januar. Heute ist der 20. Januar! Ich beschließe in der Bücherei anzurufen und das Buch, dass ich erst bis zur Hälfte gelesen hab, zu verlängern. Ich rufe an und trage der Bibliothekarin meine Bitte vor. Sie antwortet: „Es tut mir leid Herr Geradhand, aber gerade ist eine junge Dame hier, welche sich das Buch entleihen möchte. Sie können es daher leider nicht mehr verlängern.“ Ich muss schlucken. Ist diese junge Dame die Person von dem Fotobogen? Ich muss mich beherrschen, am liebsten würde ich die Bibliothekarin mit tausend Fragen auf einmal bombardieren, die mir alle durch den Kopf gehen: hat sie eine Nase mit runden Knopfnasenlöchern? Hat sie große, volle Lippen, hat sie blond gefärbte Haare mit einem dunklen Ansatz? Hat sie Ringe unter den Augen? Schließlich frage ich: „Hat diese Dame das Buch vielleicht schon einmal entliehen?“
„Diese Auskunft kann ich Ihnen leider nicht erteilen, Herr Geradhand!“
„Okay, dann fragen sie die Dame, ob sie fünf Minuten warten könnte, dann würde ich das Buch nämlich jetzt gleich vorbei bringen!“
„Ist in Ordnung, Herr Geradhand. Ich werde sie fragen. Einen Moment bitte.“
Ich warte einige Sekunden, die sich in die Ewigkeit zu erstrecken scheinen.
Dann: „Sie ist bereit auf sie kurz zu warten, Herr Geradhand.“
„Okay. Ich bin gleich da!“
Ich knalle den Hörer auf die Muschel, schlüpfe in meine Schuhe, werfe mir die Jacke über, schnapp mir den Schlüssel und renne los. Mitten auf der Treppe halte ich inne. Das Buch! Ich habe glatt das Buch vergessen! Also zurück in die Wohnung das Buch holen. Dann bin ich endlich auf der Strasse. Das Buch unterm Arm und den Wind in der Jacke, im Gesicht und im Haar. Ich renne. Ich fühle mich frei. Ich rempele versehentlich Passanten an, überquere eine Straße, ohne im Geringsten auf den Verkehr zu achten. Gleich werde ich bei der Bibliothek sein. Dort sehe ich sie bereits, auf der anderen Straßenseite: ‚Amerika GedenkbibliothekÂ’. Gleich werde ich dort sein und sie sehen. Nur noch wenige Meter trennen mich von ihr. Plötzlich vernehme ich neben mir das laute Quietschen von Autoreifen in Verbindung mit einem energischen Hupen. Dann spüre ich wie mich etwas von der Seite anstößt und zu Boden reißt. Dann wird mir schwarz vor Augen. Ich sinke in diese Schwärze. Es ist so warm und so friedlich…

Thomas Geradhand ist über eine rote Ampel gerannt und von einem Lastwagen, der nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte, erwischt worden. Jetzt liegt er bewusstlos auf der Strasse. Aus seinem Kopf sickert eine dunkle Flüssigkeit auf den Asphalt. Neben ihm liegt Robert Musil ‚Der Mann ohne Eigenschaften’. Ein Stück Papier ist halb aus dem Buch herausgerutscht und darauf sehen wir eine junge Frau in 13facher Ausfertigung, starr und kommentarlos nach oben in den grauen Novemberhimmel blicken.
Der Lastwagenfahrer öffnet die Tür der Fahrerkabine und kommt zu Thomas gestürzt, kniet sich neben ihn und fühlt seinen Puls. Rasendschnell versammeln sich andere Passanten um das Geschehen. Auch die Bibliothekarin und Hanna hören das Quietschen der Reifen und das Gehupe vor der Bibliothek und als sie herauslaufen, kniet der Fahrer bereits neben Thomas. Hanna sieht Thomas, die Blutlache neben seinem Kopf und ihr Foto, welches aus dem Buch herauslugt. Vor Entsetzten vergräbt sie ihr Gesicht tief in ihren Händen. Ungläubig blickt sie auf Thomas und wendet sich dann unter Schluchzen und Zittern von ihm ab.
Doch Thomas ist nicht tot. Sein Puls schlägt regelmäßig. Doch er ist in eine Art Koma gefallen. „Ein Krankenwagen! Kann jemand einen Krankenwagen rufen?“, ruft plötzlich der Fahrer, der immer noch neben Thomas kniet und gerade des schwachen Puls gemessen hat. Sofort greifen einige Passanten zu ihren Handys. Der Krankenwagen ist gerufen. Bereits nach kürzester Zeit kündigt er von weiter Entfernung, durch das laute, monotone Aufheulen der Sirene, welche durch die Straßen schallt, sein Kommen an. Dann ist er endlich da. Der Wagen hält direkt neben der Unfallstelle. Hinten öffnen sich zwei Türflügel und zwei Sanitäter kommen mit einer Trage heraus, auf welche Thomas verladen wird. Dann ist er im Inneren des Rettungswagens verschwunden. Einer der Sanitäter fragt die umstehenden Passanten, ob einer von ihnen den Verletzten kennt, ein Familienmitglied oder ein Bekannter ist und in das Krankenhausmitfahren will. Schließlich meldet sich Hanna und sagt, dass sie den Verunglückten kennt. Während der Krankentransporter mit Blaulicht und rasender Geschwindigkeit ins Krankenhaus eilt, sitzt Hanna neben der Barre, neben dem unmächtigen Thomas.

Als Thomas die Augen aufschlägt, sieht er Hanna und er weiß sofort: Hanna ist nicht Rebecca. Das wird ihm mit einem Mal so schlagartig bewusst, dass er am liebsten wieder zurück ins Koma sinken würde. Er beschließt die Augen wieder zu schließen, doch da hat Hanna bereits bemerkt, dass er erwacht ist.
„Du bist wach!“, sagt sie freudig. Ihre Augen sind noch von Tränen gerötet.
„Ja.“, sagt Thomas und ist dabei erstaunt, wie schwer ihm das Sprechen fällt, was für Schmerzen es ihm bereitet. Er will schlucken, Luft holen, doch all das bereitet ihm Schmerzen, so sehr, dass ihm schummrig wird. Hanna und alles, was um sie herum ist, beginnt zu schwimmen und unscharf zu werden, dann kommt die Schwärze zurück. Und während Thomas zurück in das Dunkle gleitet, denkt er immer wieder: ‚Das ist nicht Rebecca. Das ist nicht Rebecca. Das ist nicht Rebecca.Â’ Dann verliert er endgültig das Bewusstsein und da ist wieder nur mollige Schwärze und friedliche Stille.
Als Thomas die Augen erneut öffnet, ist Hanna verschwunden. Dafür stehen seine Eltern vor ihm. Er sieht ihre besorgten Gesichter und wie die Mutter mit dem Vater tuschelt. Noch hat er die Augen nicht ganz geöffnet, noch wissen sie nicht, dass er wach ist. Ein Arzt tritt hinzu und spricht mit den Eltern. Thomas vernimmt verschiedene Wörter, doch es will ihm nicht so recht gelingen, diese mit sich selbst und seinem Zustand in Verbindung zu bringen (was war eigentlich noch mal genau passiert?): Gehirnerschütterung, Platzwunde, einige Prellungen, eine gebrochene Rippe, stabiler Zustand, alles gut überstanden, noch mal Glück gehabt. Als der Arzt verschwunden ist, öffnet Thomas seine Augen ganz.
„Thomas!“, bricht es aus der Mutter hervor, ihre Stimme ist brüchig, Tränen beginnen aus ihren Augen zu purzeln. Die Mutter setzt sich zu ihm auf das Bett und beginnt seine Wange zu streicheln, während sie mit der anderen Hand und einem Taschentuch versucht die Wasserströme, die aus ihren Augen quellen, trocken zu legen, was ihr jedoch angesichts der enormen Mengen, nicht gelingen will. Der Vater steht dahinter, seine Hand auf der Schulter der Mutter. Er wirkt fast so, als ob ihm die Situation irgendwie peinlich wäre und er nicht so recht wüsste, wie er sich zu verhalten habe.
„Ach, Thomas! Was für einen Schrecken du uns bereitet hast! Wir wären vor Sorge fast gestorben! Gott sei Dank ist dir nicht etwas wirklich Schlimmes passiert! Ach, Thomas! Gott sei Dank bist du noch am Leben!“, bricht es aus der Mutter abermals hervor, während das Taschentuch in ihrer Hand bereits zu Tropfen beginnt.
Als Thomas sich wieder stark genug fühlt, erzählt er seinen Eltern, was passiert ist. Die Mutter erzählt ihm daraufhin von der jungen Frau, dass neben seinem Bett gewacht hatte, als sie im Krankenzimmer eintrafen. „So ein nettes Mädchen! Und sie hat eine Karte mit ihrer Telefonnummer hinterlassen. Hanna hieß sie. So ein hübsches, kluges Mädchen! Nicht wahr, Albert?“ Der Vater nickt mit gesengtem Haupt und sagt kein Wort. Thomas muss unweigerlich lachen, doch das Lachen verursacht ihm solche Schmerzen, dass es ihm im wahrsten Sinne des Wortes in der Kehle stecken blieb.

7.

Ich bin mit Hanna in einem Cafe verabredet. Zwei Wochen sind seit meinem Unfall vergangen. Die Prellungen sind zum größten Teil wieder abgeklungen und mein Kopf ist auch wieder okay. Nur meine gebrochene Rippe bereitet mir zuweilen beim Essen, Husten oder Lachen unangenehme Schmerzen. Vor zwei Tagen hab ich allen Mut aufgebracht und die Nummer angerufen, die Hanna meinen Eltern hinterlassen hat und mit ihr ein Treffen vereinbart. Ich blicke auf meine Uhr. Es ist bereits zehn nach drei. Ich musste die Kellnerin bereits zweimal wegschicken. Ich betaste mich selbst, die Jeans, die ich anhabe. Ich streiche mit meinen Handflächen über ihre geriffelte Oberfläche, über meine Beine. Ich streiche über den weichen Stoff meines dunkelblauen Pullovers, über meinen Bauch, ich reibe über meine Wangen und meine Augen, fahre mit meinen Fingern durch meine Haare, nehme eine Strähne, die dabei in mein Gesicht fällt, und stecke sie hinter das rechte Ohr. Ich bin da. Ich bin. Kein Zweifel. Meine Hand berührt die glatte, kühle, hölzerne Oberfläche des Tisches, eine geriffelte Serviette, die glänzende Oberfläche des Zuckerspenders.
Ich blicke mich im Cafe um. Am Tisch neben mir sitzt ein älterer, feiner Herr, in einem schwarzen Jackett, liest die FAZ, trinkt einen Espresso und raucht dabei eine Zigarette. Sein Gesicht ist ernst und sein Blick konzentriert auf den Artikel der Zeitung gerichtet, den er gerade liest und von dem er nicht wegblickt, selbst wenn er einen Schluck Cafe oder einen Zug von seiner Zigarette nimmt. Einen Tisch weiter sitzt eine Frau mittleren Alters, in einem beigen Businesskostüm, vor sich den Laptop ausgebreitet, von welchem sie irgendwelche, mir mysteriösen Zahlen abliest und in ihr Handy hineinbrüllt. Mir gegenüber sitzt ein junges, sehr frisch verliebt wirkendes Pärchen. Der Junge und das Mädchen blicken sich tief in die Augen. Er streichelt ihre Hand und flüstert ihr Zärtlichkeiten zu.
Würde Hanna noch kommen? Ich habe plötzlich Zweifel. Hinter dem Pärchen, an der Wand ist ein Spiegel angebracht, in dem ich mich sehen kann. Das bin also ich? ‚Komisch,’, denke ich, ‚dass ich eine eigene Identität hab, ein selbst denkendes Individuum bin, ein Subjekt, oder ist das nur ein Trugschluss? Ehe ich darüber weiter nachdenken kann, betritt Hanna das Cafe. Sie ist es tatsächlich. Und es ist nicht Rebecca, wird mir gleich wieder bewusst. ‚Woher weiß ich das eigentlich?’, frage ich mich, obwohl ich die Antwort schon längst kenne. Ich weiß es ganz einfach. Schlicht und ergreifend.
Wie begrüßen uns und bestellen. Anstatt meines Spiegelbildes betrachte ich jetzt sie. Hanna muss Anfang zwanzig sein, dass Foto hat also keine Ewigkeiten in dem Buch geschmort, ihr aschblondes Haar mit dem dunklen Ansatz, ist hinten zu einem losen Zopf zusammengebunden, ja auch das Aussehen ihrer Haare hat sich seit dem Entstehen des Fotos nicht auffällig verändert. Ihre grünen wachen Augen mustern mich eingehend und interessiert, genauso wie sie von meinen gemustert wird.
„Ich bin froh, dass es dir wieder gut geht.“, sagt sie schließlich. Es ist eine Feststellung, die sie ohne mich zu Fragen, aufstellt. Ich nicke nur, weiß noch nicht so recht, was ich ihr entgegnen soll.
„Als…“, sie stockt, „als ich dich damals auf der Strasse hab liegen sehen… ich dachte, ich dachte… na ja, du weißt schon. Ich war so erleichtert, als der Arzt mir dann gesagt hat, dass du nur eine leichte Gehirnerschütterung hast!“
„Und eine gebrochene Rippe.“, füge ich hinzu.
„Und eine gebrochene Rippe.“, wiederholt sie meine Worte. „Ich bin jedenfalls so froh und dankbar, dass dir nichts Schlimmeres passiert ist!“
„Hast du Musil gelesen?“, frage ich, um das Thema zu wechseln, dass mir unangenehm ist, denn was soll ich wirklich noch dazu sagen? Jetzt kann ich endlich meine Fragen stellen, die mir schon so lange auf der Seele brennen und mir ihr das Gespräch über Musil führen, dass ich mir so oft in meinem Kopf ausgemalt hatte.
„Ja, ich hatte es einmal angefangen, doch dann mittendrin aufgehört. Jetzt lese ich es noch einmal von Vorn.“
„Und was hälst du von dem Buch?“, bohre ich weiter.
„Ich mag die Sprache von Musil, ihre Akribie und Genauigkeit, in welcher doch zugleich eine Art von Bedächtigkeit, von Zartheit innewohnt. Er schreibt oftmals lange, komplizierte und verschachtelte Sätze, die jedoch zugleich etwas Leichtes, etwas Spielerisches in sich haben, so als ob die Wörter fliegen, über den Seiten schweben würden. Das mag ich.“
Ihre Antwort fasziniert mich. Ich möchte mehr wissen und frage nach: „Was hälst du von Ulrich?“
„Ulrich ist genauso wie du!“, antwortet sie und blickt mich dabei triumphierend an.
„Aber du kennst mich doch gar nicht!“, entgegne ich ihr ein wenig entrüstet.
„Genauso, wie ich Ulrich nicht richtig kenne. Er bleibt die Handlung über auch schablonenhaft, so wage und wenig konkret, er ist nicht wirklich greifbar, eben ein Mann ohne Eigenschaften! Aber das ganze Buch ist davon durchdrungen: alles bleibt irgendwie wage, schwebt in der Luft und wird nicht konkret. Auch die anderen Personen, Diotima zum Beispiel oder Bonadea, sie sind hochkomplex und man erfährt auf einer intellektuellen Ebene sehr viel über sie, aber was sie wirklich im aller Innersten berührt, der wahre Kern ihrer Empfindung, ihrer Seelen, ihre Einfachheit, das scheint irgendwie zu verschwimmen. Das klingt jetzt vielleicht blödsinnig, aber so kommt es mir vor.“
„Nein, das klingt überhaupt nicht blödsinnig. Erzähl bitte weiter!“
„Am stärksten wird das doch an der Parallelaktion deutlich, jener patriotischen Aktion anlässlich der doppelten Thronbesteigung: es gibt so viele Ideen, Vorschläge und Gedankengerüste, die in den Ausschüssen zur Planung der Aktion, eingebracht werden, doch im Endeffekt bleibt alles wage, unentschlossen, bleibt Idee, bleibt Hirngespinst. Und Ulrich ist genauso wie diese Parallelaktion! Er und alles was er macht, alles was seine Existenz, sein Handeln berührt bleibt form- und kantenlos, irgendwie schwammig. Und ich habe bei dir, auch wenn ich dich gar nicht richtig kenne, das unweigerliche Gefühl, dass du auch so bist, dass dieses auch auf dich und die Art und Weise wie du bist, zutrifft.“
„Du hast Recht, Hanna.“, gestehe ich ihr ein. „Doch das war nicht immer so gewesen. Mir ist vor einigen Jahren etwas passiert, dass alle Eigenschaften in mir vernichtet, abgetötet hat und mich form-, konturlos, zu einer blassen, unscheinbaren Gestalt gemacht hat.“
„Was war es, was dir widerfahren ist? Möchtest du darüber reden?“
„Ich werde es dir erzählen, Hanna.“
Und so erzähle ich ihr von Rebecca und ihrem plötzlichen Verschwinden. Es kostet mich viel Überwindung. Ich merke, wie meine Stimme ein paar Mal brüchig wird, dann komme ich ins Stocken, muss schlucken und kann dann erst weitererzählen. Jetzt erzähle ich hier also diesem, mir eigentlich wildfremden Mädchen von meinen innersten Verletzungen, kehre meine geheim gehaltenen Narben nach außen und stelle sie für sie zur Schau, so als würde ich ihr irgendwelche Narben an meinen Pulsadern zeigen und zu ihr sagen: ‚Schau, hier hab ich vor drei Jahren versucht mir das Leben zu nehmen.’ Doch komischer Weise macht es mir es mir nicht aus. Ich habe das Gefühl, dass sie der richtige Mensch ist, dem ich erzählen kann, was mit Rebecca passiert ist. Es ist so ein inneres Gefühl, eine von diesen instinktiven Intentionen, bei denen man sich nie täuscht. Und ich merke, wie gut es mir tut, darüber zu sprechen, auch wenn es im selben Moment unheimlich schmerzt (noch mehr als eine gebrochene Rippe beim Lachen), weil es befreiend ist.
Als ich endlich fertig erzählt habe, blicke ich sie erwartungsvoll an. Ihr Blick ist nachdenklich auf den Tisch gerichtet. Lange Zeit sagt sie kein Wort. Auf ihrer Stirn hat sich in der Mitte zwischen den Augenbrauen eine Falte gebildet. Schließlich blickt sie auf und fragt mich: „Und du kannst dich an gar nichts mehr erinnern? Nicht einmal an ein winzig kleines Detail?“
„Nein, ich habe wirklich alles vergessen. Ich kann mich an absolut gar nichts mehr erinnern!“
„Hast du denn keine Fotos von ihr? Oder irgendwelche Briefe, die sie dir mal geschrieben hat?“
„Nein. Es ist nichts mehr da.“
„Was ist mit den Sachen passiert? Ihr ward doch fast zwei Jahre zusammen. Habt zusammen gelebt, in derselben Wohnung. So etwas muss doch Spuren, Beweise hinterlassen haben. Das kann doch nicht alles weg sein!“
„Ich hab diese Sachen bestimmt alle mal zusammengesucht und dann…. Aber leider ist diese Erinnerung auch gelöscht, ausradiert worden. Jedenfalls weiß ich nicht mehr, was mit ihren Sachen geschehen ist.“
„Glaubst du, dass du sie weggeworfen hast, damit du nicht mehr erinnert wirst?“
„Ich weiß es nicht genau. Es ist jedoch durchaus möglich. Aber ich glaube, dass ich kein Mensch bin, der restlos all diese Erinnerungen entsorgen würde. Ich könnte mir vorstellen, dass ich einen Teil davon, vielleicht besonders wertvolle Erinnerungsstücke irgendwo deponiert, versteckt habe.“
„Das heißt, dass du sie noch finden kannst, denn wenn du sie irgendwo versteckt hast, dann können wir sie auch ausfindig machen!“, stößt Hanna freudig empor.
„Ich meinte, dass das vielleicht möglich ist. Es kann aber auch sein, dass wirklich alles verschollen ist.“
„Wir könnten zumindest den Versuch unternehmen, etwas zu finden. Vielleicht würden wir auf Antworten stoßen, die Rebeccas plötzliches Verschwinden erklären würden.“
„Glaubst du wirklich, dass das eine gute Idee ist? Wenn ich etwas von Rebecca wieder finden sollte, kämen vielleicht auch all die Schmerzen wieder zurück, würden sich die Wunden von neuem wieder öffnen.“
„Du solltest nicht vergessen“, wandte Hanna ein, „dass seit dem sehr viel Zeit vergangen ist und du jetzt vielleicht damit umgehen kannst, was du damals noch nicht konntest. Außerdem hast du ihr Verschwinden ja nie wirklich verarbeitet, sondern es einfach verdrängt und die Erinnerung daran ausgelöscht. Das heißt aber, dass tief in dir drin, in deinem Unterbewusstsein, in deinem Herzen, nenn es wie du willst, die Wunden weitereitern, weil sie nie verheilen konnten, denn Verdrängung ist keine Verarbeitung, das weiß jedes Kind und wenn du wieder ein Mensch werden möchtest, der lebendig ist und wirklich empfindet und nicht nur betäubt vor sich hinexistiert, dann musst du dich diesem Schmerz, deiner Erinnerung stellen, und es führt, dieser Meinung bin ich, kein Weg daran vorbei.“
Erstaunt höre ich Hanna zu und je länger sie redet, desto bewusster wird mir, dass sie vollkommen Recht hat. Ich muss mich meiner Erinnerung und dem alten Schmerz stellen, wenn ich jemals wieder ein lebendiger Mensch werden wollte, denn nur wer riskiert, verletzt zu werden, vermag wahrhaft zu Empfinden.
„Also gut“, ich willige ein. „Hast du Lust, mir bei meiner Suche nach irgendwelchen Spuren, Indizien, Hinweisen darauf, dass Rebecca jemals existiert hat, zu helfen? Ich glaube, dass ich allein noch nicht stark genug bin, um mich auf die Suche zu begeben.“
„Ich bin bereit dir zu helfen, Thomas.“, sagt Hanna. Dann blickt sie mich ernst an und legt, wie um ihre Worte damit zu unterstreichen, ihre Hand auf meine. Aus ihrem Blick spricht so etwas wie Aufmunterung, eine Mischung aus Vertrauen und Vertrautheit, die mir Kraft gibt. Mir macht es nichts aus, dass sie ein, mir im Grunde völlig unbekannter Mensch ist, ganz im Gegenteil, ich bin unendlich froh, dass sie jetzt da ist, gerade in diesem Moment und ich mich ihr öffnen und anvertrauen kann. Ich vermag mit ihr über Rebecca und meine Gefühle zu sprechen, wie noch nie zuvor mit einem Menschen. Ich würde am liebsten in Tränen ausbrechen. Es wären Tränen der Freude und des Leids zugleich. Des Leids, weil ich an Rebecca denken muss und damit wieder nur an den großen weißen Fleck, das leere Loch in meinem Innern. Und Tränen der Freude, weil ich mich hier zum ersten Mal wirklich einem Menschen öffnen und vom meinem Leid und meinem Dilemma erzählen konnte, was dazu führt, dass ich mich unheimlich befreit, aber zugleich auch sehr verletzbar und zerbrechlich fühle.

Tags darauf treffen wir uns in meiner Wohnung, um gemeinsam nach Spuren von Rebecca zu suchen. Hanna kommt gegen zwei. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir nichts finden werden. Wie oft hatte ich in den letzten Jahren schon in meinen Sachen gestöbert, um irgendeinen Hinweis für ihre Existenz zu erhalten. Manchmal kam es mir so vor, als sei sie nur ein Hirngespinst, eine Einbildung von mir. Das sind die schwachen Momente, in denen ich Zweifel habe.
Ich bin damals, ein Vierteljahr nach ihrem Verschwinden aus unserer gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Schablonenhaft kann ich mich daran plötzlich erinnern. Ich hatte es in unserer gemeinsamen Wohnung einfach nicht mehr ausgehalten, sie war so voll gesogen gewesen, voll gesogen mit Erinnerung, die aus jedem Winkel, aus jeder Ritze sickerte. Alles in der Wohnung triefte vor Erinnerung, war erinnerungsschwanger, strahlte eine Aura von Erinnerung aus, war mit einer glänzenden Erinnerungsschicht überzogen: Rebeccas Kleiderstücke, die im Schrank hingen, ihre Bücher auf den Regalen und neben dem Bett, ihre CDs neben der Stereoanlage – da war so viel! So viele Objekte, die einem bei der Betrachtung ansprangen, weil damit irgendein Gefühl, irgendein Erlebnis verbunden war, bei denen die gemeinsame Zeit im Kopf wieder erwachte, bei denen vor meinem inneren Auge sofort ein Film abzulaufen begann. Ich konnte in dieser Wohnung nicht mehr atmen, mich nicht mehr in ihr aufhalten, ohne weine zu müssen. Ich musste raus, es ging ganz einfach nicht mehr anders. Ich brauchte einen Neuanfang, also entschloss ich mich zu einem radikalen Schritt (dieser äußere Schritt ging dem inneren Schritt der Erinnerungstilgung voraus). Ich rief Rebeccas Eltern an und sagte ihnen, sie sollten alle Sachen von Rebecca mitnehmen, die sie wollten, die anderen würde ich auf die Straße stellen, in die Kleidersammlung geben, verschenken, oder sonst wie damit verfahren, Hauptsache: Weg! Daran kann ich mich also erinnern. Irgendwie. Wie ich alle Sachen von ihr eingesammelt und in großen Kisten verstaut habe, wie ich Säckeweise ihre Klamotten in die Kleidersammlung gebracht habe. Wie ich ihre Möbel einfach auf die Strasse gestellt habe. Doch da war noch etwas anderes. Eine… eine…, was war es nur? Jetzt kann ich mich erinnern: eine kleine dunkelgrüne Pappkiste!
„Moment mal!“, sage ich zu Hanna. Seit drei Stunden durchwühlen wir mittlerweile mein Zimmer, durchstöbern Fotoalben, irgendwelche mit Krimskram voll gestopften Schubfächer und Kisten, Hefter und Ordner in meinem Schreibtischschrank, ohne bisher auch nur eine Spur, einen Hinweis auf Rebecca erhalten zu haben. Selbst den Hängeboden über dem Badezimmer habe ich schon, jedoch ergebnislos, auf den Kopf gestellt.
„Ja?“ Hanna dreht sich erstaunt zu mir um. Sie geht gerade ein altes Fotoalbum von mir durch.
„Auf dem Dachboden. Eine grüne Kiste. Dort sind die Sachen von Rebecca drin!“

Wir laufen die Treppen hoch bis in den fünften Stock. Mit einem Stab öffnen wir die Luke, die auf den Dachboden führt. Ich nehme die, dafür vorgesehene Leiter, die an der Wand lehnt und stelle sie, leicht angewinkelt an die Luke, so dass ihr oberes Ende in der Öffnung verschwindet. Ich klettere zuerst hinauf und in das Dunkle des Dachbodens hinein. Beim Hineinklettern stütze ich mich mit meinen Händen ab und spüre den morschen, holzigen Fußboden und eine dicke Staubflockenschicht darauf, bei der mich leichter Ekel befällt. Hanna folgt mir. Ich kann nichts sehen, doch habe das Gefühl, den Staub, der dick und flockig überall zu sein scheint, einzuatmen. Er muss alles bedecken, ähnlich wie pulvriger Neuschnee an einem Wintermorgen die Erde, oder wie Lindenblüten im Frühjahr die parkenden Autos. Hanna reicht mir eine Kerze und Streichhölzer. Ich entzünde das Streichholz, das für den Bruchteil einer Sekunde hell aufleuchtet, sich jedoch dann mit einem matten Dimmern begnügt. Die Kerze, die ich dann entzünde, ist mit ihrem Licht schon einwenig großzügiger und wirft einen schwachen, orangen Lichtschimmer in die Dunkelheit und hüllt die unmittelbare Umgebung in ein fast schon märchenhaft verträumtes Licht, an welches sich meine Augen langsam zu gewöhnen beginnen. Schwarze, dunkle Gegenstände beginnen sich aus der Schwärze zu lösen und im flackernden Kerzenschein ein Eigenleben zu entwickeln. Sie gleichen vermummten und erstarrten Kolossen im Nebel, die in der Unklarheit des Raumes schweben.
Hanna und ich beginnen uns vorsichtig durch die, mit einem Staubteppich behangende Suppe der Dachkammer zu tasten, die voll gestopft mit irgendwelchen Kisten und Möbelstücken zu sein scheint, man stößt sich jedenfalls permanent irgendwo den Fuß oder droht über ein unerwartetes Hindernis zu stürzen. Nur sehr langsam geht es voran, in gebückter Haltung, denn durch die Schräge des Daches, kann man im allergrößten Teil des Bodens nicht aufrecht stehen. Ich nehme die Kerze und wische mit meinem Ärmel den zentimeterdicken Staub von einigen der Kisten.
Dann endlich finde ich die grüne Kiste. Es ist fast so etwas wie Instinkt. Ich weiß wo ich suchen muss. Ich hebe zwei leichte Schuhkartons, in denen nicht viel drin sein kann, von einem hohen Kistenstapel, lasse ein dickes Telefonbuch auf den Boden plumpsen, das so stark aufkommt, dass von dem Luftsog fast die Kerze ausgelöscht wird, deren Flamme kurz, aber bedrohlich aufflackert. Dann halte ich sie triumphierend in der Hand, die dunkelgrüne Pappkiste mit den Sachen von Rebecca.
„Hier ist sie!“, rufe ich und winke Hanna heran. Ich stelle die Kiste auf dem Boden ab. Ich will sie gleich hier öffnen, nicht erst unten in meiner Wohnung. Ich bitte Hanna die Kerze zu halten und mir zu leuchten. Behutsam lüfte ich den Deckel von der Kiste. Im orangematten Kerzenlicht sehe ich ein Bild von Rebecca, das obenauf liegt, auf einem Stapel von lauter Briefen und Fotos. Und plötzlich ist sie da. Die ganze Erinnerung. Schlagartig. Es ist wie ein Dammbruch. Eine riesige Flutwelle von Erinnerung bricht über mich hinein und durchflutet mich. Ich sehe tausende Bilder an meinem inneren Auge vorbeirauschen, zahllose verschüttete Momente, die plötzlich mit all ihrer Klarheit, ihren Geräuschen, ihren Düften, ihren Farben und ihren Gefühlen an die Oberfläche gespült werden. Doch es ist zuviel für mich auf einmal. Ich merke, wie mir schwindelig wird, wie mir die Kiste aus der Hand gleitet und wie meine Beine nachgeben.
„Thomas ist alles in Ordnung?“, höre ich Hanna noch rufen, während ich auf dem staubigem Fußboden der Dachkammer zusammensacke.

8.

Ich erwache in meinem Bett. Langsam komme ich zu mir. Ich fühle mich noch ganz taumelig und benommen und weiß für einen Moment nicht, was geschehen ist. Dann sehe ich die grüne Schachtel auf meinem Nachttisch. Hanna ist nicht da. Ich richte mich mühsam auf und greife nach der Schachtel. Ich nehme sie auf meinen Schoß und nehme den Deckel ab. Ich will das Foto von Rebecca sehen. Ich hab das Gefühl, vorhin auf dem Dachboden lediglich geträumt zu haben. Ich blicke in das Innere der Schachtel und bin sehr überrascht: sie ist leer!
Hanna muss die Sachen genommen haben, fährt es mir mit einemmal durch den Kopf. ‚Aber warum nur?’, frage ich mich. Sie muss angenommen haben, dass das alles zu viel für mich ist und mich zu sehr mitnimmt. Sie wollte mich bestimmt schützen, damit ich mich nicht übernehme. Immerhin bin ich ja auf dem Dachboden zusammengebrochen.
So logisch diese Erklärung für Hannas Verhalten auch klingt, irgendwie passt es mir nicht. Ich empfinde es als eine Art von Bevormundung, als einen Eingriff in die Legitimität meiner individuellen Handlungsfreiheit, und das auch noch von einem Menschen, der mich kaum kennt. Ich merke, wie Wut in mir aufsteigt. Vielleicht ist Wut zu viel gesagt. Vielleicht trifft eine Mischung aus Entrüstung und echter, nicht vorgespielter Kränkung am Besten den Kern der Sache. Ich entschließe mich jedenfalls Hanna anzurufen. Doch wo habe ich nur den Zettel mit ihrer Telefonnummer, den meine Mutter mir gegeben hat? Einen Moment. Nein, hier in meiner Jackentasche ist er auch nicht. Vielleicht in meinem Rücksack?
Ich suche an allen möglichen Orten, ohne jedoch den Zettel mit Hannas Nummer finden zu können. Dann gebe ich vorerst auf. Meine Wohnung ist noch ein ziemliches Chaos von der gemeinsamen Suchaktion. Überall offene Schranktüren und herausgezogene Schubfächer. Klamotten und Bücher die auf dem Fußboden verteilt liegen und ein riesiges Durcheinander an Fotos, die auf dem ganzen Teppich ausgebreitet sind. Hanna wird sich früher oder später schon bei mir melden und mir meine Sachen zurückgeben. Und dann werde ich ihr meine Meinung posaunen und ihr sagen, wie degradierend und bevormundet ich ihr Verhalten empfinde. Angesäuert und etwas ratlos gehe ich zu meinem Bett zurück und nehme die leere grüne Pappschachtel in die Hand. Komisch, denke ich, drinnen ist sie weiß. Ich nehme sie hoch und drehe sie, aus Langeweile zwischen meinen Fingern. Dann stelle ich sie neben meinem Nachttisch ab. Als ich den Deckel, der noch auf dem Bett liegt, hochhebe, um ihn zurück auf die Schachtel zu geben, fällt mir plötzlich auf, dass sich auf seiner weißen Innenseite, in der Mitte, ein schwarzes, breites Stück Klebeband befindet. Ich streiche mit meinem Daumen darüber und stelle eine Unebenheit fest. Irgendetwas muss sich unter dem Klebestreifen befinden, irgendein flacher Gegenstand. Ich beginne mit meinem Fingernagel eine Kante des Klebebandes vom Deckel zu lösen. Es geht nur sehr schwer, doch schließlich gelingt es mir. Auf der klebrigen Innenseite des Bandes haftet einer kleiner, silberner Schlüssel.
Ich schalte meine Nachttischlampe ein, weil das Tageslicht nicht mehr hell genug ist und inspiziere den Schlüssel eingehender. Eine Nummer befindet sich auf ihm: 749. Es muss der Schlüssel zu irgendeinem Spinnt oder Schließfach sein. Wo gibt es Schließfächer? Im Bahnhof! Das ist es, denke ich ganz aufgeregt und entschließe mich kurzer Hand zum Bahnhof zu gehen, um herauszufinden, ob meine Vermutung richtig ist. Der Schlüssel kann nur von mir selber sein, denke ich. Ich hab ihn bestimmt dort versteckt, weil ich wusste, dass ich ihn irgendwann finden würde. Vielleicht ist es Etwas von Rebecca, das dort versteckt ist. Eine Erklärung für ihr Verschwinden.
Als ich kurz darauf die Bahnhofshalle betrete, ist es kurz nach sieben. Im Bahnhof herrscht noch rege Geschäftigkeit. Eine junge Dame in einem eleganten Businesskostüm schiebt ein kleines Kofferwägelchen hinter sich her, Richtung Taxistand. Ein älteres Ehepaar, beide mit derselben roten Regenjacke bekleidet, steht etwas ratlos vor der Anzeigentafel und inspiziert die Abfahrtszeiten. Eine Gruppe Jugendlicher hat es sich mit ihren Rucksäcken, zusammengerollten Isomatten und Schlafsäcken auf einigen der Bänke bequem gemacht. Zwei ältere Männer mit Jogginghosen, beide mit einem dicken Bauch, der darüber quillt, lehnen an einem bereits geschlossenen Schalter und trinken Bier aus Dosen. Ein sehr helles, unangenehmes Licht durchflutet die Bahnhofshalle. Als ich sie betrete, schallt gerade eine Ansage: „ Der Zug auf Gleis Drei Richtung Frankfurt Oder, planmäßige Abfahrtszeit neunzehn Uhr acht, hat aller Voraussicht nach fünfzehn Minuten Verspätung. Ich wiederhole: Der Zug auf Gleis Drei Richtung Frankfurt Oder verspätet sich um voraussichtlich fünfzehn Minuten.“
Ich schreite bedächtig durch die Bahnhofshalle zu den Schließfächern. Sie beginnen mit der Nummer 100. Sechs Reihen weiter bin ich bei 700. Ich gehe die Reihe entlang, suche die 749: 710… 720… 730… 741… 749. Da ist es. Ich hole den Schlüssel aus meiner Hosentasche und steck ihn in das Schloss. Er passt nicht. Alles umsonst. Doch einen Moment. Meine Hände zittern ja, so aufgeregt bin ich. Auch mein Atem geht schnell und mein Herz pocht wie verrückt. Einfach tief durchatmen und es dann noch mal versuchen. Er passt. Ich hab es doch gewusst, jetzt passt er. Ich drehe das Schloss um. Es macht ‚KlickÂ’. Ich öffne die Tür und blicke hinein. Das Schließfach ist leer. Da hab ich mir wohl selber einen Streich gespielt. Ach nein, doch nicht. Da ist ein Umschlag. Den hätte ich fast übersehen. Ein Brief also. Interessant. Mal sehen, was darin steht. Mit immer noch zittrigen Händen öffne ich den Umschlag und entnehme ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Ich falte es auseinander. Es ist ein mit Hand geschriebener Brief. Es ist die Handschrift von Rebecca. Aufgeregt beginne ich zu lesen.

Lieber Thomas,

ich schreibe dir diesen Brief, weil ich denke, dass es notwendig ist.
Es gibt bestimmte Dinge, die schwer zu begreifen und noch schwerer zu akzeptieren sind. Darum versuche ich es kurz zu machen, in der Hoffnung, dass du endlich begreifst.
Thomas, ich existiere nicht und ich habe nie existiert. Und falls ich jemals existiert habe, dann war das in deiner Einbildung. Ich bin ein Hirngespinst von dir, mich gibt es nicht. Genauso wenig, wie es Hanna gibt. Wir entspringen lediglich deiner Phantasie. Gerade weil ich dich so gern hab, gerade weil ich dich so sehr mag, muss ich es dir endlich sagen. Fang endlich an zu Leben, Thomas! Vergiss mich einfach und kehre dich deiner Wirklichkeit zu!
Mit Liebe, Deine Rebecca.
Wie kann das sein? Nachdem Thomas zu Ende gelesen hat, steht er nur da. Er kann sich nicht bewegen, ist wie gelähmt. Wie ist das möglich? Er kann es nicht begreifen. Er versucht es, doch es geht nicht. Es ist zu groß, zu gewaltig. Doch dann beginnt er es zu fassen, ganz langsam, am Horizont taucht es auf und zeichnet sich dort immer deutlicher in Linien ab. Es wird ihm immer klarer. Langsam beginnt er es, wie erstarrt zu verstehen. Dann, mit einem Mal weiß er es mit Gewissheit. Es ist nicht Rebecca, die nicht existiert. Und auch nicht Hanna. Er ist es, zusammen mit ihnen, er, Thomas, der nicht existent ist, sondern nur eine Einbildung, eine Illusion, ein Hirngespinst, Phantasie. Und während er mit einem Schmunzeln an das Cafe denken muss, in dem er auf Hanna gewartet hat und daran, wie sich der Stoff seiner Jeans angefühlt hat, das Material des Holztisches und die glatte Oberfläche des Glaszuckerspenders, und wie er sich so sicher gewesen war, dass er wirklich existiert, wird es um ihn herum langsam dunkel. Dann bemerkt Thomas, wie er sich langsam beginnt aufzulösen. Er wehrt sich nicht dagegen. Schließlich wird er von der Schwärze um ihn herum gänzlich verschluckt. Dann ist er weg. Dies war das letzte Mal, das man Thomas sah, zurück bleibt ein offenes und leeres Schließfach.

9.

‚Dem Schreiber entkommen, zwischen den Zeilen existent werden, zwischen dem Koma und dem nächsten Buchstaben und Rebecca finden!’, denk sich Thomas, der aus der Bahnhofshalle, aus der Wirklichkeit verschwunden und rein geistlich geworden ist.
Thomas muss daran denken, dass er früher immer geschrieben hatte, um Welten zu erschaffen, um über seine bloße Existenz als solche hinweg zu sein, um etwas zu hinterlassen, um sich selbst zum zweiten Mal zu kreieren. Wie sinnlos ihm das jetzt vorkommt, angesichts der Tatsache, dass er ja nicht einmal ein einziges Mal existierte, sondern nur ausgedacht war. Er musste lachen. Er hatte immer soviel geschrieben. Was war dann jetzt mit den Figuren, die er sich ausgedacht hatte? Waren diese jetzt doppelt nicht existent? Und wer war der Urheber von dem, was er geschrieben hatte? Waren diese Ideen, Gedanken und Figuren ihm entsprungen oder auch jener Quelle, aus welcher er hervorgegangen war? Und wer, beziehungsweise was war es, dessen Hirngespinst er war? Und wie dagegen ankämpfen? Wie gegen dieses Diktat von Oben rebellieren?
Zumindest in einer Sache hatte Thomas bereits Erfolg in seiner Rebellion gegen seinen Urheber gehabt: die Geschichte hätte eigentlich in der Bahnhofshalle mit Thomas Verschwinden vor den Schließfächern zu Ende sein sollen, doch er hat mich neugierig gemacht. Ich wollte wissen, was mit ihm passiert und wohin er sich flüchtet, wo die Freiräume sind, in denen er sich meiner Einflussnahme entzieht. Ich hab ihn in dieser Fortsetzung der Geschichte bereits stilistisch ein wenig entmündigt, weil er kein Ich-Erzähler mehr sein kann, wie im ersten Teil der Geschichte, sondern von ihm lediglich in der dritten Person noch berichtet wird. Aber er ist ja schon ein bisschen daran gewöhnt. Als er den Unfall hatte und in sein verletzungsbedingtes Koma fiel, bereits da erzählte ich von ihm in der dritten Person. Und dadurch, dass ich jetzt ‚ich’ schreibe, erschaffe ich ja schon wieder ein neues literarisches Ich, eine neue Figur, Identität. Das ‚Ich’ vorhin, dass war ein fiktives ‚Ich’, das war Thomas, in der Rolle des Icherzählers. Doch jetzt bin ‚Ich’ wirklich ‚Ich’, der Autor. Das
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Meerjungfrau ich finde diese geschichte total genial, sie ist so fesselnd geschrieben, dass ich bis zum ende nicht aufhören konnte zu lesen
und vor allem der schluss war wirklich überraschend
echt faszinierend
Vor langer Zeit - Antworten
Gast e
Vor ein paar Monaten - Antworten
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