"Finden Sie Gerner!" So lautet Raabes Auftrag. Nichts Aufregendes. Gerner hat für einen großen Konzern eine zeitlang den Manager-Guru gespielt, der mit ein paar psychologischen Tricks job- und lebensmüde Macher von ihren Sinnkrisen befreite, Und dann war er plötzlich verschwunden. Aber Gerner wird gebraucht. Raabe fragt sich durch, und das Bild, das man ihm von Gerner mit auf den Weg gegeben hat, beginnt allmählich zu schillern: Zwischen Psychozauberer, Eulenspiegel und egoistischem Monster, das auf seinem Karriereweg auch zerstörte Kreaturen zurückgelassen hat.
„Finden Sie Gerner!“
Gerner hatte offenbar einen großen Eindruck bei Rüschenberger hinterlassen.
„Herr Raabe, wirklich wunderbar, dass Sie so schnell für mich Zeit gefunden haben. Ich glaube, dass Sie der richtige Mann sind.“Â
Rüschenberger hatte mir schon am Telefon erzählt, dass Gerner eine Zeit lang für seinen Konzern gearbeitet hatte.
„Ich denke mir, Ihr erster Schritt müsste sein, dass Sie sich eine Vorstellung von seiner Persönlichkeit machen, oder ...von seiner Tätigkeit. Was er für uns gemacht hat. Sehen Sie, das ist nämlich gar nicht so einfach zu sagen. Es gibt für unsere leitenden Mitarbeiter eine Menge Stress. Das ist ganz normal. Und normal ist offenbar auch, dass Männer, wenn sie um die vierzig sind... Ich spreche von dem, was man so midlife-crisis nennt. Das kann einen Konzern, wie ich ihn vertrete, teuer zu stehen kommen. Will sagen, wenn plötzlich die besten Männer... Ich meine, es bleibt im allgemeinen nicht viel Zeit, über... wie soll ich sagen... über den Sinn...verstehen Sie. Ich weiß, dass es das gibt. Ich bin Ökonom, aber nicht destotrotz... Ich weiß, dass es diese Fragen gibt. Und ich kenne Männer, ich kann Ihnen Topleute nennen – fähige Leute, keine Frage, knallharte Entscheider, ganz oben.... Eines Tages steht so jemand von seinem Schreibtisch auf, lässt seine Arbeit, seine Familie stehen und beginnt etwas Neues. Wie gesagt, es sind nicht die Schlechtesten. Ich hatte einen großartigen jungen Mitarbeiter, der sich wegen solcher Fragen kürzlich ... umgebracht .... Tragisch. Sehr tragisch. - Mögen Sie einen Kognak?
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Ich nehme diese Dinge ernst. Gerner war der Mann, der damit umgehen konnte. Faszinierend. Ich habe mir das selbst einmal angehört. Ein Philosoph. Darum dachte ich an Sie. Oder Psychologe. Aber ganz handfest. Ãœberzeugend in jedem Wort, in jeder Geste. Man musste ihn erleben: ein echter Therapeut, ein Zauberer. Teuer, ja, Gerner war teuer. Aber die Zusammenarbeit mit ihm hat uns viel Geld gespart.“
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Ich hatte den Auftrag angenommen, weil ich keine Wahl hatte. Die letzten beiden Jahre habe ich als Taxifahrer gearbeitet. Nach meinem Unfall vor einem Monat – ich war selber schuld – war es damit vorbei. Rüschenberger wusste, dass ich früher einmal in einem Detektiv-Büro gearbeitet hatte. Ich war damals mit einer privaten Angelegenheit für ihn beschäftigt. Zwei Monate lang hatte ich Rüschenbergers Frau observiert. Ist allerdings nichts bei rausgekommen. Ich hatte nur herausgefunden, dass er selbst eine Geliebte hatte. Das war nicht das, was unser Klient wissen wollte.
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Ich war ziemlich erfolglos als Detektiv. Fehlbesetzung. Genau wie zuletzt als Taxifahrer. Auch vorher schon auf der Uni: Fünf Semester Philosophie und Psychologie. Ende. Die Detektei hat sich von mir ziemlich bald wieder getrennt. Und nun wollte Rüschenberger, dass ich noch einmal für ihn Detektiv spiele.
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Als ich ihm damals berichtete, dass ich keine Erkenntnisse über irgendeinen Geliebten seiner Frau, wohl aber über seine eigene, Rüschenbergers Geliebte, gewonnen hätte, haben wir uns einen ganzen Abend über die Liebe unterhalten. Die Liebe an sich und bei Platon und so weiter und so fort. Ziemlich gebildetes Gequatsche. Am Ende waren wir beide besoffen, als er mir mit Tränen in den Augen erzählte, wie froh er wäre, dass seine Frau sich nicht revanchiert hat. Ich glaube, er war mir dankbar, obwohl ... Der soziale Unterschied blieb natürlich gewahrt. Er, der Boss, ich der abgebrochene Student. Ich hatte den Philosophen rausgehängt, weil ich schnell bemerkt hatte, dass er auf so exotische Sachen abfuhr. Jedenfalls glaubte er nun, dass ich der richtige Mann dafür sei, seinen Hausphilosophen wiederzufinden, diesen Manager-Guru, der wahrscheinlich von diesem idiotischen Job, Topleute bei der Stange zu halten, die Nase voll hatte.
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Rüschenberger hatte mir eine Liste mit Namen an die Hand gegeben. Leute, die Gerner aus dem Strudel der Sinnkrisen herausgerissen und für die Firma gerettet hat.
„Sprechen Sie zuerst mit denen. Aber bitte, kein Wort über diese Liste. Datenschutz, Sie verstehen. Machen Sie sich ein Bild von seiner Persönlichkeit. Ich meine, da hatte sich an ihm am Schluss irgend etwas verändert. Seitdem Gerner im Rollstuhl saß. Nehmen Sie diesen Scheck. Glauben Sie, dass Tausend für die erste Woche reichen?“
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Ich musste verdammt schon mit weniger auskommen. Am nächsten Morgen fuhr ich los. Von München nach Stuttgart.
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Wolfgang RoseÂ
(Systemingenieur in Rüschenbergers Konzern)
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....ganz und gar faszinierend. Der Mann hat mir gezeigt, wo´s lang geht. Ich war damals bei Herrn Gerner in einem Wochenendseminar irgendwo im Schwarzwald. In der Firma war ein Aushang. Ich bin eigentlich nur aus Langeweile hingefahren. Er hat dieses Talent in mir entdeckt. Wirklich, ich hätte ja beinahe schon alles hingeworfen. Es war so ein Gefühl – wie soll ich sagen - der Leere in mir. Ich wusste, dass da irgendetwas nicht stimmt ... in meinem Leben. Dass da etwas fehlt. Aber es war niemand da, der mir sagen konnte: Rose, Du musst Klavier spielen. Das hat in mir geklimpert, aber meine Ohren, mein inneres Ohr war verschlossen.
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Es war, wie ich es sage: Er schaute mich lange und eindringlich an. Ich sehe deutlich noch den großen glutroten Ring an seiner linken Hand. Seine Figur: Beeindruckend. Während der Diskussionen, die dort an diesem Wochenende stattfanden, habe ich kein Wort gesprochen. Aber er sagte mir auf den Kopf zu, dass ich Klavierspielen muss.
„Kennen Sie die Mondscheinsonate?“ Seine Frage war für mich wie eine Erlösung. Seitdem sitze ich jede freie Minute vor dem Klavier, und ich sagen Ihnen: Ich bin glücklich. Ich bin wirklich ein anderer Mensch.
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Und die Firma profitiert davon. Ja, ich bin nun wieder der Alte, ein zufriedener Mensch, ein zufriedener Angestellter. Wie ich es sage, er hatte mich auf Anhieb mitten ins Zentrum getroffen. Alles, was gesagt werden musste, war damit ausgesprochen. Wenn Sie Andreas Gerner treffen, sagen Sie ihm, dass ich inzwischen die Mondscheinsonate spiele. Von vorn bis hinten, von vorn bis hinten. Sagen Sie ihm, dass ich glücklich bin.
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Erwin KächlerÂ
(Diplomvolkswirt, Kontroller in Rüschenbergers Konzern )
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Merken Sie hier ..., hier draußen kann man atmen. Hier finden Sie mich jeden Abend. Sie sehen selbst: es ist gut, dass Sie zu mir rausgekommen sind. Sie ahnen nicht, wie frei man sich fühlt nach einem Tag im Büro. Wenn man die Probleme des Tages einfach hinter sich zurückgelassen hat. Das fällt am Abend alles auf den ersten hundert Metern von mir runter ... wie alte Lappen.
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Andreas Gerner, ja. Wie soll ich sagen, wie soll ich ihn beschreiben. Mir ging es damals wirklich nicht sehr gut. Depressionen. Ich traute mir einfach nichts mehr zu. Ich wurde mit nichts fertig. Wenn ich morgens vor meinem Schreibtisch saß, bekam ich regelrechte Angstanfälle. Mein Herz trommelte, raste los. Das Telefon jagte jedes Mal eine Schockwelle durch meinen Körper. Mein damaliger Vorgesetzter, Uhlenhut, hat mich zu Gerner in die Therapie geschickt. Ich glaube, Gerner hatte zu der Zeit einen Vertrag mit uns, mit der Firma. Es gab wohl noch andere Fälle. Wo gibt es die nicht? Burnout oder so, Sie wissen.
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Aber die Gruppensitzungen bei Gerner machten bei mir alles noch schlimmer. Ich verstand nur Bahnhof. Gerner redete und redete, es war wunderbar, was er sagte. Ich war hingerissen. Aber ich kann Ihnen nicht sagen, worüber er gesprochen hat.
Ich weiß nur noch: Alles, was ich bis dahin über Gott und die Welt gedacht hatte, war schlichtweg falsch. Gerner hatte eine Schar junger Leute, hauptsächlich junger Männer, und ein paar verrückte Frauen um sich herumsitzen. Die Frauen hingen an seinen Lippen. Ich kam mir ziemlich gottverlassen und dumm vor.
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Alles, was heute in den Köpfen drinsteckt, sei Unsinn und lebensgefährlich, oder so ähnlich. Man müsse den Menschen zuerst den Kopf leer pusten und kleine, von ihm selbst kultivierte Gedankenpflänzlein einpflanzen. Vivifizieren nannte er das.
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Vivifizieren nannte er das. Als er merkte, dass seine Gedanken bei mir nicht richtig Wurzeln schlugen, bestellte er mich zu einer Einzelsitzung und machte mir klar, dass meine Herzbeschwerden, dieses rasende Pochen, nur durch Laufen behoben werden können. „Sie müssen schneller laufen als ihr Herz. Trainieren Sie. Nehmen Sie eine Stoppuhr zur Hilfe.“ Seine Theorie sah für meinen speziellen Fall etwa so aus: Mein Körper denke etwas anderes als mein Verstand.
„Sie müssen die Sprache Ihres Körpers verstehen lernen. Geben Sie ihm mindestens einmal am Tag Gelegenheit. Lassen Sie Ihren Körper los. Lassen Sie ihn laufen. Lassen Sie Ihren Körper einfach Ihrem Verstand davonlaufen.“
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Ob ich irgendjemanden von den Seminarteilnehmern kennengelernt habe? Nein, waren ja alles junge Männer, jünger als ich. Und ein paar Frauen. Die Frauen wirkten ein bisschen gerupft. Interessierten mich nicht. Allenfalls Sylvi. Sie saß meistens neben mir. Hat auch nie gesprochen. Aber sie hat ihn mit ihren Augen verschlungen. Sie betete ihn an. Ich muss zuhause noch irgendwo ihre Adresse haben.
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Kächler hatte mir am nächsten Tag telefonisch Sylvis Adresse durchgegeben. Sie stand nicht auf der Namensliste, die ich abzuklappern versuchte. Aber für mich roch dieser Tipp nach Erfolg. Die Frau würde mich zu Gerner bringen. Sie betete ihn an, hatte Kächler gesagt. Wenn das stimmte, würde sie sicherlich wissen, auf welcher Wolke sich ihr Gott abgesetzt hatte. In meinen Augen war dieser Gerner ein Schelm, eine Art Psycho-Eulenspiegel, der für jeden die richtige Kur parat hatte. Wahrscheinlich hatte er inzwischen genug Geld gemacht, um irgendwo in der Toscana zu hocken.
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„Sylvi Bieger“. Ihr Name stand an der Tür. Sie schien noch hier zu wohnen. Ich klingelte. Irgendwas ging in der Wohnung vor sich. Leere Flaschen schepperten über den Boden. Ich hörte jemanden innen an der Tür.
„Frau Bieger?“
„Was ist? Was ist los? Was wollen Sie? Wer sind Sie?
„Raabe. Entschuldigen Sie, Matthias Raabe. Darf ich für einen Augenblick reinkommen?“
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Ich war einiges gewöhnt... aus meiner Zeit in dem Detektiv-Büro. Ich meine, was das Thema „Frau und Alkohol“ angeht. Man bekommt da ja einiges zu sehen. Auch in meiner Zeit als Taxifahrer, wirklich. Sylvi ließ mich in die Wohnung und verkroch sich selbst in ihren alten, schmutzigen Sessel. Wie eine kranke Ratte, dachte ich. Das Zimmer sah aus wie eine verrottete Mülldeponie. Der Geruch war unausstehlich. Hier war wohl seit Tagen keine Luft mehr reingekommen. Ihr Gesicht war verquollen, aufgedunsen. Wie dicker Brei lag die Haut um Nase und Augen. Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte.
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„Sie haben Herrn Gerner gekannt? Oder vielleicht besser: Sie kennen Herrn Gerner, nicht wahr?“
Der Name Gerner wirkte wie eine Zauberformel auf sie. Es ging ein Zittern durch ihren Körper. Es schien, als kröche auf einmal von fern her neues Leben in sie hinein. Ihr Körper schien sich zu straffen. Gerner. Sie richtete sich ein wenig auf, beugte sich vor. Sie strich sich mit den Händen durch ihr fettiges Haar.
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„Ich wusste, dass Andreas jemanden schicken würde, ich wusste es. Er hat die Weiber weggejagt.“ Sie wühlte unter einem Berg von Papier und Lumpen eine zerknüllte Zigarettenpackung hervor und zündete sich zitternd eine Zigarette an.
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„Sie sehen, ich habe nicht viel einzupacken. Ich habe ja darauf gewartet. Ich rauch nur diese Zigarette zu Ende. Sie haben nicht zufällig etwas zu trinken dabei?“ Sylvi griff nach einem der eklig schmutzigen Gläser, die auf dem mit Flaschen, Tüchern, Zigarettenstummel und Papierfetzen überfüllten Tisch standen. Stellt es dann aber zögernd wieder zurück.
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„Raabe heißen Sie? Ich habe von einem Raben geträumt. Sie glauben mir das nicht? Wirklich, ich habe schon oft von Rabenvögeln geträumt. Ich habe aber immer geglaubt, dass mir diese Träume Unglück bringen.“ Sie lächelte mich dabei tatsächlich an. Fast liebevoll. Es war eine erstaunliche Veränderung in ihr vorgegangen. Innerhalb von wenigen Minuten. Ich hätte gern zurückgelächelt. Es gelang mir nicht, weil der Gestank in dieser Bude mir den Atem verschlug. Ich musste an den komischen Pianisten denken, Rose, den Gerner von seinen Minderwertigkeitskomplexen kuriert hatte. Und auch bei Kächler, dem Dauerläufer, dem Hechler, war es ihm ja mit einem ziemlich simplen Psychotrick gelungen, den Mann noch für eine Weile auf der Karriere-Rennbahn zu halten. Mit Sylvi hatte er wohl weniger Erfolg gehabt. Sylvis Anblick gab bestimmt kein Foto her fürs therapeutische Poesiealbum. Wie sollte ich ihr klar machen, dass nicht Gerner mich geschickt hatte? Vielleicht sollte ich ihr erst mal eine volle Flasche Kognak besorgen.
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„Es tut mir leid, Frau Bieger, aber ich komme nicht von Herrn Gerner. Im Gegenteil, ich wäre froh, wenn Sie mir helfen könnten, ihn zu....“ Ich hatte befürchtet, dass sie bei dieser Auskunft wieder in sich zusammenbrechen würde. Fehlanzeige. Sie schaute mich nur für einen winzigen Augenblick ein bisschen ungläubig an. So als hätte sie mich nicht richtig verstanden. Danach suchte sie weiter in irgendwelchen Utensilien, die sie in ihre Handtasche packte. Sie stieß dabei auf einen Lippenstiftstummel und fing an, sich die Lippen zu schminken.
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„Ich bin sofort fertig. Sie können warten. Nur dies noch. So kann ich doch nicht auf die Straße.“ Während sie sich mit knalligem Rot den Mund beschmierte, wurde in mir das Bild, das ich mir von Gerner in den letzten Tagen gemacht hatte, immer unschärfer. Ich hatte einen gewitzten Typen vor Augen, der aus der Dummheit und den Lebenskrisen irgendwelcher Manager reines Gold gemacht hatte. Aber dieses Jammerbild der Unterwerfung und Hörigkeit war auch irgendwie sein Werk. Sie wollte nicht begreifen, dass ich sie nicht mitnehmen konnte.
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„Hören Sie, Frau Bieger. Ich komme nicht von Gerner. Ich weiß nicht einmal, wo er sich aufhält. Ich komme, weil ich dachte, dass Sie vielleicht eine Idee haben, wo man ihn finden könnte.“
„Bei seinen Weibern werden Sie ihn finden. Wo denn sonst!“ schrie sie mich an. „Röcke, immer neue Röcke braucht er um sich herum. Verschwinden Sie! Bitte, hauen Sie ab! Wie kommen Sie überhaupt hier rein? Was fällt Ihnen überhaupt ein?“’
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Nachdem sie endlich kapiert hatte, dass ich nicht der Engel Gabriel war, der ihr die frohe Botschaft vom lieben Gott brachte, konnte sie mich nicht mehr ertragen. Sie zerrte an mir herum, drängte mich aus dem Zimmer, aus der Wohnung. Ich war unzufrieden. Immer noch kein Hinweis, wo ich Gerner suchen könnte.
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Irgendwie musste ich Sylvi noch mal zum Reden bringen. Zwischen ihren Worten würde ich einen Hinweis auf Gerners derzeitigen Aufenthaltsort finden. Auf dem Weg zu ihr hin, hatte ich vor einer Stunde einen Aldi gesehen. Ich musste erst einmal eine kleine Besorgung machen.
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„Frau Bieger, ich bin´s noch mal.“ Ich stand wieder vor ihrer Wohnungstür.
„Machen Sie doch auf. Wir sollten noch mal ein bisschen über Gerner reden. Uns unterhalten. Hören Sie, Sylvi. Hören Sie, ich habe uns etwas zu trinken mitgebracht“
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...Wir waren glücklich, verstehen Sie. Sehr glücklich damals. Wir haben uns ergänzt. Andreas studierte. Wir hatten uns früh kennengelernt. Ich sagte immer: Lass Dir Zeit. Du musst studieren. Er hat alles studiert: Philosophie, Psychologie, Theologie sogar. Wirklich. Ich habe als Kindergärtnerin gearbeitet. Damit er in Ruhe studieren konnte. Bin abends zur Abendschule gegangen ... nachher, weil ...
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Er war ja so sehr überlegen. Irgendwann wollte ich alles nachholen. So haben wir es uns ausgemalt. Damit ich in seiner Nähe bleibe, hat er gesagt. Geistig, meine ich. Denn er hatte sich ja zu dieser Zeit schon ein Zimmer gemietet, in dem er für sich allein sein konnte. Er brauchte das. Ruhe. Die Einsamkeit... für seine Studien. Wir haben uns jeden Tag gesehen. Anfangs. Bei mir. Er besuchte mich dienstags, samstags und sonntags. Seine Wohnung war für mich tabu. Ich musste das verstehen. Obwohl...
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Ich meine, es fiel mir schwer, das zu verstehen ... Und abends in der Abendschule konnte ich mich oft nicht mehr konzentrieren. Viel gemeinsame Zeit blieb uns nicht. Sonntags immer, natürlich. Aber dann gab es oft Streit. Ich hätte ihm keine Vorwürfe machen dürfen. Auch nicht wegen des Mädchens, das er in seiner kleinen Wohnung aufgenommen hatte. Sie war ja krank, hatte er mir gesagt. Er musste ihr ja helfen. Sie konnte einfach nicht länger bei ihren Eltern bleiben, weil, ihre Eltern waren ja die Krankheit.
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Er hatte damals seine Fähigkeit entdeckt, andern zu helfen. Ja, das Mädchen war eigentlich sein erster Fall. Ich wurde verrückt vor Eifersucht. Verstehen Sie. Ich liebte ihn ja. Er nannte das eine Affenliebe, die er mir abgewöhnen wollte. Aber ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass dieses Weib bei ihm wohnt, während ich...
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Ich bekam einen Nervenzusammenbruch. Ja, ich weiß heute, ich hätte ihn nicht zwingen sollen. Er sprach von Erpressung. Aber das sagte er, glaube ich, erst als das Kind unterwegs war. ... Oder?
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Oder nein, das war sogar noch später. Er hatte ja das Kind selber gewollt. Er hatte es mir erklärt: Wenn ich ein Kind hätte, würde ich sofort wieder normal sein, eine Frau braucht Kinder. Er hätte mich auch geheiratet, bestimmt...
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Wenn nicht das Kind, ich meine, das andere Kind unterwegs gewesen wäre. Dorle, das Mädchen, verstehen Sie, war inzwischen auch schwanger. Sie war ja sehr krank. Psychisch. Und sie war von zuhause weg. Sie hatte niemand außer ihm. Natürlich musste er sich um sie kümmern, nachdem das Kind unterwegs war. Es war ja auch sein Kind, dass sie ... Diese...diese Schlamm....
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Von Erpressung sprach er erst, als ich mein Kind nicht abtreiben lassen wollte. Aber er hat dann alles bezahlt.
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„Drei Jahre habe ich mit denen, oder besser bei denen gewohnt. Andreas hatte im Schwarzwald das Haus gemietet, nachdem Dorle ihr Kind zur Welt gebracht hatte. Ein Mädchen. Sie hat das Kind nicht angesehen. Andreas hatte ja vorher, während der Schwangerschaft, immer von einem Jungen gesprochen. Vielleicht wäre mein Kind ein Junge geworden. Andreas bat mich damals, dass ich mich um Dorles Kind kümmern soll.“
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Dieses heruntergekommene Menschenkind hatte einmal ziemlich eng mit Gerner zusammengelebt. Ihre hündische Fixierung auf diesen Menschen erzeugte in mir eine Wut, dass ich sie am liebsten geohrfeigt hätte. Nachdem wir die Kognakflasche etwa dreiviertel geleert hatten, kramte sie aus dem Kleiderschrank einen Schuhkarton mit Fotos hervor, die ich mir anschauen musste. Ich war allmählich hundemüde. Aber ich merkte, dass mich irgendetwas an Gerner zu faszinieren begann. Vielleicht war es nur, weil ich sah, wie Sylvis dumpfe Augen noch einmal lebendig geworden waren. Mit jedem Glas, mit jedem Satz über Gerner war sie munterer geworden. Sie schwelgte in Erinnerungen. Tausend Bilder mit Gerner: Gerner mit Hund, Kerner beim Kahn fahren, beim Picknick auf einer Wiese. Sie lachte inzwischen und sprudelte vor sich hin.
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„Schau mal Raabe. Das bin ich. Das Bild hat er von mir gemacht. Aber das war erst nur ein Spaß. Ich musste mich in seinen Rollstuhl setzen, und er hat mich fotografiert. Immer wieder. Das Merkwürdige war nur, dass ich allmählich tatsächlich eine Lähmung in den Beinen und in der Hüfte spürte, während es ihm besser ging. Wir haben das wochen-, ja monatelang hin und her analysiert. Je mehr wir darüber sprachen, umso schlimmer wurde es. Er machte mir klar, dass meine Lähmung nur Einbildung war. Er glaubte, ich wollte ihn durch mein neues Leiden strafen, ich wollte mich zum Pflegefall machen, damit er sich dauernd mit mir beschäftigen müsste. Aber ich spürte Schmerzen. Ich habe nächtelang geheult. Je mehr er mir meine eingebildete Krankheit erklärte, umso besser ging es ihm selbst. Begreifst Du das? Ich habe ein halbes Jahr in seinem Rollstuhl verbracht.
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Danach drehte sich der Spieß wieder um. Ich konnte bald wieder laufen, und er saß wieder in seinem komfortablen Rollstuhl, von dem aus er den Gang der Welt kommentierte, seine Umgebung kommandierte. Das Leid der Menschheit heilt, indem er von Liebe spricht. Er kann wunderbar von der Liebe sprechen. Du musst ihn hören. Du spürst, wie in Dir etwas lebendig wird, wenn er über die Liebe spricht. Solange Du ihn nicht gehört hast, hast Du nichts von ihm begriffen. ... Ãœbrigens hier auf dem Bild da: Da sitzt er in seinem Stuhl, umgeben von seinen Weibern.“
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Sylvi hatte mir ein Foto in die Hand gedrückt: Er im Rollstuhl, umlagert von vier, nein fünf jungen Frauen. Kächler, der Hechler, hatte recht, ziemlich gerupfte Hühner allesamt. Der Raum war rustikal eingerichtet. Wahrscheinlich ein Zimmer in einem Bauerhof.
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„Nachdem ich endlich die Rollstuhlkrankheit überwunden hatte, konnte er mich nicht mehr um sich herum ertragen. Ich war nur noch manchmal am Wochenende bei ihnen zu Besuch. Das Bauernhaus seines Bruders irgendwo hinter Freudenstadt. Er hatte sich da eingenistet. Hielt seine Wochenendseminare dort ab. Dorle war schon nicht mehr dabei. Die war damals schon gut ein halbes Jahr in einer Psychiatrischen Klinik. Im Hintergrund, der mit dem Bart, das ist Johann. Johann Rehfuß. Unser Dichter. Wollte mal Lehrer werden, hat aber sein Examen nicht geschafft. Er schrieb wunderbare Texte. Immer sehr träumerisch und sehr traurig. Johann vergötterte Andreas. Alles, was er zu Papier brachte, hat er solange mit Andreas diskutiert und durchgekaut, bis er seinen Text freiwillig in den Papierkorb warf. Johanns Gedichte und Kurzgeschichten wurden, glaube ich, nie älter als zwei, drei Wochen. Andreas hat ihn später rausgeworfen, nachdem Johann einen ziemlich dilettantischen Selbstmordversuch unternommen hat. Er war ein netter Kerl“
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Am nächsten Morgen hatte ich nicht nur einen gehörigen Kater, sondern eine neue Adresse. Sylvi Bieger meinte, dass Rehfuß später Erzieher an einer Privatschule geworden sei. An einem katholischen Internat in der Nähe von Osnabrück. Also wieder Bahnfahrt, weiter rauf nach Norden. Irgendwann würde ich Gerner über die Liebe reden hören.Â
Bevor ich mich gegen Mittag in den Zug setzte, meldete ich mich telefonisch zu einem knappen Zwischenbericht bei Rüschenberger.
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„Sie sind also auf dem Sprung zu diesem Rehfuß. Aber hören Sie, Herr Raabe, es hat sich für uns in der Sache einiges verändert. Der Auftrag hat sich erledigt. Es könnte sein, dass sich demnächst die Polizei mit Gerner beschäftigt. Ich hatte Ihnen von diesem Selbstmord eines jungen Mitarbeiters erzählt. Damals dachte ich, wenn wir Gerner in der Nähe gehabt hätten, hätten wir diese Panne vermeiden können. Inzwischen haben die Anverwandten im Nachlass des Jungen Aufzeichnungen gefunden, aus denen hervorgeht, dass er vorher mindestens ein halbes Jahr Kontakt zu Gerner hatte – offenbar an jedem Wochenende. Und es sieht so auf, als sei Gerner nicht ganz unschuldig an diesem Selbstmord. Aber ich bin in der Sache nur unzureichend informiert. Wie auch immer. Wir, ich meine wir, die Firma, wir wollen uns da auf keinen Fall ... Sie verstehen? Für uns ist eine Zusammenarbeit mit Gerner selbstverständlich uninteressant geworden. Auf diesem Hintergrund.“
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Ich fragte , ob man denn inzwischen weiß, wo er sich aufhält, Gerner meine ich.
„Irgendein Kaff in Norddeutschland, Emsland oder Friesland oder so...Warten Sie, hier auf dem Aktendeckel ist eine Notiz. Wehhagen, steht da. Gerner scheint dem armen Jungen systematisch den Boden unter den Füßen weggezogen zu haben. Am Schluss hat er ihn wohl weggeschickt. Für uns hat sich die Geschichte mit Gerner erledigt, Herr Rabbe. Wir kommen sicherlich noch mal in einer anderen Sache zueinander.“
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Ich hasse es, wenn ich beim Suchen plötzlich weg von der Spur gerissen werde. Vielleicht war ich als Detektiv gar keine so schlecht Besetzung. Ich spürte deutlich, dass ich den Geruch von Gerner nicht mehr aus der Nase bekäme, wenn ich ihn nicht irgendwann selbst besichtigen würde. Also Wehhaben. Mit meinem Detektivspiel hatte das nichts mehr zu tun. Es war etwas anderes: Ich wollte Gerner über die Liebe reden hören.
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Gegen die Kopfschmerzen, die mich verrückt machten, hatte ich zwei Tabletten geschluckt. Der Schienenrhythmus schob mich langsam in den Schlaf wie in eine enge Röhre. Als ich wieder zu mir kam, schlug ein heftiger Regen an die Scheibe. Das Wasser strömte am oberen Fenster vorbei. Die Landschaft wurde nach Osnabrück immer flacher. Ich musste mehrmals umsteigen, bis ich schließlich die letzten zwanzig Kilometer in einem Bummelzug saß, der uns, Ort für Ort, Dorf für Dorf mit vielen Unterbrechungen bis ans Ende dieses schier unendlichen Schienenstrangs durchrüttelte. Außer mir saßen eine junge Frau und ein Blinder mit Hund im Wagen.
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Dann Wehhagen. Raus in den Regen. Der Wirt im „Posthorn“ hatte den Namen „Gerner“ noch nie gehört. Die beiden Türken in der Ecke zuckten ebenfalls mit den Schultern. Allerdings wurde ich problemlos im Telefonbuch fündig, das mir der Wirt über den Tresen reichte. Am Telefon meldete sich die Stimme eines jungen Mannes. Ich sagte ihm, dass ich unbedingt mit Gerner sprechen müsste, heute oder in den nächsten Tagen. Ich würde mir hier im Ort ein Zimmer nehmen.
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Am anderen Ende der Leitung wurde offenbar gestritten. Ich hörte eine Frauenstimme, die ich nicht verstehen konnte.
„Wo sind Sie zurzeit? Ich hole Sie mit dem Wagen. Sie können bei uns übernachten.“
Okay, in der Zwischenzeit Jägerschnitzel mit Pommes frites. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Tür aufging und jemand mit Schirm und langem Lodenmantel eine riesige Regenpfütze ins Lokal trug.
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„Rehfuß. Johann Rehfuß ist mein Name.“ Der von Gerner verbannte Selbstmordkandidat Rehfuß. Er trug einen grauschwarzen langen Mantel und auf dem Kopf eine dunkelblaue Baskenmütze. Sah aus wie ein Kaplan. Ich war auf der Wallfahrt zu einem seltsamen Heiligen, der über die Liebe spricht. Gerner. Ich dachte an Sylvi, wie sie den Morgen stumm neben ihren leeren Flaschen verbringen würde. Was war das für ein Mensch, hinter dem ich her war? Sein Name allein hatte genügt, um Sylvi auch nach Jahren voller Enttäuschung noch in Flammen zu setzen.
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„Herr Raabe, sagten Sie? Ich vermute, Sie sind Journalist? Ich sehe das gleich. Ich weiß nicht, ob er mit Ihnen sprechen wird. Es geht ihm sehr schlecht. Aber kommen Sie, wir fahren erst mal zu uns raus.“
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Ich hatte während des Essens die ganze Zeit darüber nachgedacht, als was ich mit bei Gerner einführen sollte. Das war natürlich die Lösung: Journalist. Rehfuß schien keinen Wert auf eine ausdrückliche Bestätigung seiner Vermutung zu legen.
„Lassen Sie sich Zeit. Sehen Sie, er ist ein großer Mann. Ein wunderbarer Mann. Sie werden das selbst spüren, falls Sie ihn sehen, oder wenn er vielleicht zu Ihnen sprechen wird. Aber es ist nun mit seiner Krankheit natürlich nicht mehr so leicht. Es war nie leicht, ihn zu verstehen. Aber das Glück, in seiner Nähe zu leben, war doch ... unvergleichlich. Ihn hören. Manchmal, wenn er zu uns spricht, ist es auch heute noch wie eine Ahnung ..., wie eine Ahnung, ein bisschen immer noch wie damals, als er... Oh, nein, verstehen Sie mich nicht falsch. Er ist immer noch ein... Zauberer.“
„Er ist krank, sagten Sie?“ Ich dachte an den Rollstuhl. „Ich habe Bilder von ihm gesehen im Rollstuhl“
„Ja, ja, natürlich. Aber damals ging es ihm ja noch gut. Er hat schon lange keinen Fotoapparat mehr in seiner Nähe erlaubt. Wenn Sie eine Kamera dabei haben, muss ich Sie bitten...“
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Vor der Tür hatte er einen uralten Mercedes-Diesel stehen, mit dem er mich durch den dichten Regen zu Gerner bringen wollte. Wir fuhren über den Ort mit seinen Lichtern hinaus ins Finstere.
„Sie werden über ihn schreiben. Das ist besser. Ich dachte, ich müsste das tun. Ich habe früher selbst geschrieben. Nicht als Journalist, ich meine literarische Sachen. Das eine oder andere, wahrscheinlich gar nicht so schlecht. Aber er war immer unzufrieden. Er schrieb ja seinerzeit auch selbst noch Gedichte. Er wollte Vollkommenheit. Bei ihm hatte ich keine Chance. Sein Geist, seine Wahrnehmungsfähigkeit, sein Gefühl für Form. Er war unbestechlich. Manchmal brachte er mich zur Verzweiflung. Ich bin auch schon weggegangen. Einfach von ihm weg. Vielmehr er hat mich weggejagt. Aber Sie sehen ja, dass ich wieder da bin. Er könnte, glaube ich, nicht mehr ohne mich leben.“ Rehfuß lachte noch nachträglich über seine damalige Kühnheit.
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„Ja wirklich, schreiben Sie über ihn. Ich selbst bekomme keine zwei Sätze mehr zu Papier. Er hat mir seine Augen eingepflanzt, seinen kritischen Blick. Noch bevor ich einen Satz niedergeschrieben habe, habe ich ihn schon zweimal durchgestrichen. Ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können, dieses unbedingte Gefühl für das Vollkommene.“
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Meine Spannung war weiter gewachsen, als wir auf dem Hof eines Bauernhauses anhielten. Die Tür wurde schwach von einer schmutzigen Lampe beleuchtet. Rehfuß führte mich ins Haus, wo er sich von seinem durchnässten Mantel und der triefenden Baskenmütze befreite. Darunter trug er eine Bluse mit indischen Stickereien.
„Hier leben wir. Unser Hof. Er hat ja damals als psychologischer Berater in der Wirtschaft eine Menge Geld rangeschafft. Sich verkauft. Aber das ist jetzt vorbei. Ich mache mit Dorle den Garten. Das Land besteht aus Wiesen und Moor. Dorle, Sie werden sie kennenlernen. Natürlich müssen Sie eine Zeit lang hier bleiben, wenn Sie über ihn schreiben wollen. Sie werden sich bestimmt wohlfühlen.“
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„Sie werden sich bestimmt wohlfühlen“ hatte Rehfuß gesagt. Ich hatte keine Ahnung, wie das werden sollte. Immerhin hatte Rehfuß mir klargemacht, was er von mir erwartete: So eine Art Heiligenlegende von Gerner. „Gerner, der große Mann im Moor“ oder so. Das Letzte, was ich schriftlich von mir gegeben habe, war der Observierungsbericht in Sachen Rüschenberger und Frau. Als Taxifahrer hatte ich natürlich jede Menge Quittungen ausgestellt. Ich hatte keine Ahnung, wie ich meine Rolle als Journalist hier über die Bühne bringen sollte. Vor allem wollte ich keine Wurzeln schlagen in diesem Haus.
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„Hier ist das Gästezimmer. Ruhen Sie sich ein bisschen aus. Ich will sehen, ob Gerner schon heute Abend für Sie Zeit hat. Ich meine für eine kurze Begrüßung. Vielleicht.“
Die Zeit, die Rehfuß mir gelassen hatte, versuchte ich zu nutzen, um mich auf meine Rolle vorzubereiten. Ich saß auf dem alten Sofa, das in der Stube stand und versuchte, mir Fragen für so eine Art Interview auszudenken. Ich konnte ihn zu seiner Biographie befragen. Auf seine Erfahrungen im Bereich der Industrie ansprechen. Ich musste irgendwie ins Zentrum von Gerners Denken kommen ..., dass er seine Erkenntnisse auf den Punkt bringt.  „Wie haben Sie es immer wieder geschafft, aus Menschen hündische Kreaturen zu machen?“ So zum Beispiel? Natürlich nicht so. „Herr Gerner, verraten Sie unseren Lesern doch bitte das Geheimnis Ihres Erfolgs?“ Unsinn, zu platt. Aber sollte ich ihn wirklich bitten, über die Liebe zu sprechen?
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Über die Liebe? Wenn ich an Sylvi dachte, hatte ich in Gerner ein Monstrum an Rücksichtslosigkeit und Egoismus vor Augen. Meine Gedanken gingen wirr durcheinander und gerieten mir immer mehr ins Phantastische. Ich sah in meiner Phantasie einen großen, weißgekleideten Herrn mit grauweißem Bart um die Lippen, der mich an einen Frauenarzt oder den lieben Gott erinnerte. An seiner linken blitzte ein roter Stein, und seine Stimme... Ich weiß nicht, ich merkte, dass ich nicht die geringste Vorstellung von seiner Stimme hatte.
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Es war, glaube ich, schon ziemlich spät, als ich vor der Tür Geräusche hörte. Ich lauschte. Ich hörte Schritte und einen knarrenden Rollstuhl auf der Diele. Fast gleichzeitig mit einem kurzen Anklopfen stieß Rehfuß die Tür auf. Er bemühte sich, den schweren Rollstuhl über die Türschwelle zu bringen.
Ja, sicherlich, das war Gerner. Ich kannte das Gesicht ja von Sylvis Fotos. Aber er war kaum wiederzuerkennen. Was ich sah, war das Gespenst von Gerner, in eine braune Wolldecke gehüllt. Ich wusste nicht, wohin ich schauen sollte und konnte doch meinen Blick nicht losbekommen von dieser Mumie aus Haut und Knochen.
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„Andreas, dies ist Herr Raabe, von dem ich Dir vorhin erzählt habe. Ein Journalist, der über Dich schreiben will. Vielleicht wird er ein Buch über Dich schreiben. Ich habe Dir immer gesagt, dass man ein Buch über Dich schreiben muss. Du musst zu ihm sprechen. – Herr Raabe, er wird jetzt zu Ihnen sprechen.“
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Unter der Decke bewegte sich etwas. Ich fand die Art, in der Rehfuß mich vorstellte, zum Kotzen. Aber ich brachte keinen Ton heraus. Gerner räusperte sich. Es klang, als müsste sich seine Stimme mühsam den Weg nach draußen bahnen. Er hing schlaff in seinem Rollstuhl und fixierte mich, ich weiß nicht, wie lange. Eine Ewigkeit.
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Dann artikulierten seine Lippen zwei drei Worte. Ich hörte aber nur ein Geflüster. Die Konsistenz der Luft im Zimmer hatte sich verändert.
„Herr Raabe, ich möchte offen mit Ihnen sein: Den Journalisten nehme ich Ihnen nicht ab. Vergessen wir das. Die meisten Menschen kommen zu mir, weil sie ihr Leben ändern wollen. Ist es das? Also, was führt Sie zu uns? Erzählen Sie über sich selbst. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich mit denen, die mich hier besuchen, so am schnellsten auf den Punkt komme.“
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Ich fühlte mich wie ein ertappter Schüler. Ein kaltes Rinnsal von Schweiß lief mir den Rücken runter. Ich sagte mir, dass der Mensch verrückt sei, dass ich selbst verrückt wäre, wenn ich mich durch den Krüppel dort im Rollstuhl beeindrucken ließe. Was heißt, auf den Punkt kommen? Wer ich bin? Matthias Raabe. Mein Gott – Privatdetektiv. Falsch, Rüschenberger hatte seinen Auftrag storniert. Taxifahrer. Gewesen. Aber was bedeutete das schon? Was sollte die Frage überhaupt? Ein abgebrochener Student der Philosophie? Meinetwegen. Ãœberhaupt hatte ich immer alles abgebrochen, was ich begonnen hatte. Nur meine Reise nach Wehhagen nicht. Leider. Ich war auch mal verheiratet. Kurz. Ein Jahr lang mit einer Kommilitonin. Wir hatten beide kein Geld. Ich weiß nicht, ob es daran lag. Jedenfalls ging es nicht. Keine Geduld. Beide nicht. Ich hatte Freunde gehabt. Früher. Kollegen gehabt. Alle irgendwie verschwunden. Ich hatte Träume gehabt und Vorstellungen, wahrscheinlich auch ein Ziel. Ziele. Alles weg. Versandet, irgendwann gemerkt, dass es ohne ging. Nein, nicht gemerkt, gar nicht drüber nachgedacht. Alles einfach den Bach runter. Ich weiß nicht, was ich der halben Leiche da über mich erzählt habe. Ich war hier hergekommen, war sein Gast, er hatte ein Anrecht zu hören, irgendwas. Auch über Rüschenberger, der mich auf die Suche geschickt hatte.
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Gerners Blick war vollkommen gleichmütig. Desinteressiert. Irgendwann hantierte er an seinem Rollstuhl und fuhr damit auf die Tür zu. Rehfuß sprang sofort hinter ihm her und hievte die Räderkiste samt Inhalt über die Schwelle. Vielleicht gab es im Haus einen kleinen Aufzug. Ich hörte noch die halbe Nacht den Rollstuhl über meinen Kopf hin- und herkurven.
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Am nächsten Morgen brachte mir Rehfuß das Frühstück aufs Zimmer. Ich war irgendwann auf dem alten Sofa eingeschlafen und fühlte mich wie gerädert.
„Sehen Sie, das war es, was ich meinte. Es ist unheimlich, nicht wahr? Es hat den Blick. Er hat gesehen, dass mit Ihnen irgendwas nicht stimmt, dass Sie kein Journalist sind. Ich weiß nicht, was falsch ist. Aber er sieht das sofort. Ãœbrigens: Er leidet sehr unter dem, was Sie ihm über sich erzählt haben. Ich darf Ihnen das sagen. Er hat die ganze Nacht kein Auge zugemacht. ‚Diese Disharmonie’, wissen Sie. ‚Diese Disharmonie’, sagte er, als ich ihn gestern Abend nach oben brachte. So etwas quält ihn. Er wird sicherlich mit Ihnen noch darüber sprechen.“
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Was habe ich denn erzählt? Ich wusste es nicht mehr. Ich wollte Rehfuß fragen, was er meinte. Aber er lächelte mich so verständnisvoll an, dass mir übel wurde. Ich hätte mich selbst treten können und war entschlossen, noch im Laufe des Morgens abzureisen.
„Aber er, Gerner, hat doch die Disharmonie erzeugt.“
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Verdammt, ich musste an Sylvi Bieger denken. Er war es doch, der diese Frau kaputt gemacht hatte. Und der junge Mann von Rüschenberger. Es gab Gründe anzunehmen, dass Gerner ihn in den Selbstmord getrieben hatte. Hier in Wehhagen, hier in diesem Haus. Und Kächler mit seiner idiotischen Lauferei, Rose am Klavier, die unendliche Mondscheinsonate. Noch ein paar Narren, Opfer der Gernerschen Harmonienlehre. Ich hätte mein Leben schon auf die Reihe bekommen. Wenn er mir zugehört hätte.
„Er, er hat den Faden doch abgerissen, noch bevor ich seine Frage richtig beantwortet hatte. Er hat doch gar nicht zugehört. Wenn er sich nicht abgewendet hätte.“
„Sprechen Sie mit ihm. Er wird Ihnen helfen.“ Rehfuß machte die Tür hinter sich zu.
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Gerner war es doch, von dem die Disharmonie ausging. Ich würde es ihm ins Gesicht sagen. Egal welche Folgen das für ihn haben würde. Das war der Grund, warum ich am Abend immer noch auf diesem alten Sofa saß. Ich war ein paar Mal an diesem Tag zwischen Sofa und Fenster hin- und hergelaufen. Draußen regnete es immer noch. Ich wollte weg von hier. Aber Gerner hatte ja angekündigt, dass er noch mit mir sprechen würde. Ich würde ihm meine Meinung sagen.
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Der Mensch über mir hatte endlich seine verrückte Rollstuhlradelei eingestellt. Diese ständige Unruhe über mir konnte einen bis an den Rand des Wahnsinns treiben. Ich war im Laufe des Tages mehrmals so weit, um nach oben zu laufen. Ich wollte die Mumie aus dem Fenster werfen. Ich lief in der Stube hin und her, um mir selbst zu beweisen, dass ich noch beweglich war. Denn während ich auf dem Sofa saß, stieg immer wieder diese scheußliche Angst in mir auf, gelähmt zu werden.
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In meiner zweiten Nacht in Wehhagen hatte ich Alpträume, in denen vor allem das Moor eine Rolle spielte.
„Das Land besteht aus Wiesen und Moor,“ hatte Rehfuß gesagt, als er mich ins Haus führte. Ich träumte von Moorleichen, und dass ich selbst dabei war, im Moor zu versinken. Am Morgen war ich schweißgebadet.
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„Glauben Sie, dass er heute Zeit für mich hat, dass ich heute mit Gerner sprechen kann? Sehen Sie, ich muss zurück. Ich hatte eigentlich vor... ich muss ...“
„Sie müssen Geduld haben. Er ist sehr matt. Vor allem müssen Sie Geduld mit sich selbst haben. Wenn ich in seiner Nähe etwas gelernt habe, dann, dass niemand, auch er nicht helfen kann, wenn einer keine Geduld mit sich selbst hat. Es ist nicht der Arzt, der heilt. Es ist die Wunde, die sich schließt und heilt. Sie heilt von selbst. Verstehen Sie. Alles geht von Ihnen selbst aus. Er kann Ihnen nur sagen, wo der Punkt ist ... Ihr Punkt..., verstehen Sie: Ihr spezieller Punkt, von dem aus alles ins Gleichgewicht zu bringen ist.“
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Ich musste schon wieder an Rose denken, den blöden Pianisten, an Kächler, den Hechler, und ich spürte das taube Gefühl in den Beinen. Als ob ich bis zu den Hüften im Moor stecken würde. Bei Sylvi hatte er offenbar diesen speziellen Punkt nicht gefunden. Verdammt, Gerner selbst war dieser wunde Punkt. Mir war völlig klar, dass ich hier weg musste, und dass das Gefühl der Lähmung in meinen Beinen pure Einbildung ist.
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Vor allem war ich nicht so blöd zu glauben, dass die Mumie über mir darunter litt, dass ich, also irgendein rein geschneiter Gast, aus meinem Leben nur Scheiße gemacht hatte. Was ging ihn das an? Ja, Scheiße, nichts als Scheiße. Ich hatte immerhin tagelang Zeit gehabt, über diesen Kaugummi Leben nachzudenken, den ich nun schon über dreißig Jahre durchgekaut und langgezogen habe. Mir war Tag und Nacht nur noch speiübel und nicht mehr bloß bei dem Gedanken an Rehfuß, der mir nun schon seit über einer Woche das Frühstück brachte. Und nicht nur bei dem Gedanken an Rose oder Kächler. Wenn ich an mich selbst dachte. Scheiße, mein Leben. Scheiße, ich selbst. Während ich auf dem Sofa lag, rollte mich da oben eine Etage über mir der Rollstuhl mürbe. Hin und her, Hin und her. Gerner hatte gesiegt, hatte hin- und her, hin- und herfahrend, ohne mich mit einem einzigen Finger zu berühren, Hackfleisch aus mir gemacht. Ich war soweit, dass er meine Seele zu einem Hackbällchen rollen konnte. Er hatte gesiegt. Oder besser: Er hätte gesiegt. Wenn nicht ...
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„... Und hier – wenn ich kurz vorstellen darf. Herr Raabe studiert Philosophie und ist zur Zeit zu einem Seminar hier bei uns in Wehhaben zu einer Art Privatissime bei Herrn Gerner.“ Hinter ihm standen zwei Polizisten in der Tür, die Rehfuß weit aufhielt.
„Herr Raabe, ich zeige gerade Herrn Bekker und Herrn Finkbeiner unser Haus. Die Herren sind von der Polizei und möchten nachher auch mit Ihnen ein Wort sprechen. Zuerst haben wir aber jetzt einen Termin mit Andreas. Sie haben noch ein bisschen Geduld, nicht wahr?“
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Es waren diese beiden Polizisten, die mich wieder zu mir selbst brachten. Ihr Besuch hatte mit dem Selbstmord von Rüschenbergers Mitarbeiter zu tun. Man hatte offenbar Gerner nur ein paar Fragen gestellt über den Inhalt der damaligen Seminare und Übungen, an denen der junge Mann teilgenommen hatte. Erinnerte sich Gerner an irgendwelche Auffälligkeiten? Hatte Gerner Notizen gemacht, die man einsehen könnte? Vom Verdacht einer Mitschuld schien man weit entfernt zu sein. Herr Bekker und Herr Finkbeiner hatten sich beim Anblick Gerners schnell überzeugt, dass Gerner schwer krank war und gewiss keine Kraft mehr hatte, auf Menschen intensiv einzuwirken. Ich bestätigte dies später im Gespräch mit den beiden ohne jede Einschränkung und lobte Gerners Behausung wegen der Abgeschiedenheit und Stille.
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„Ein idealer Ort zur Besinnung,“ lobte auch Finkbeiner meinen Aufenthalt. „Manchmal möchte man doch einfach seinen ganzen Krempel, seinen Job, an den Nagel hängen. Irgendwo ein bisschen sitzen und denken. Sitzen und denken. Ein bisschen Philosophie. Und die Berufsscheiße vergessen, entschuldigen Sie, wenn ich das so sage.“
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Ich bat die beiden Polizisten, mich nachher mitzunehmen nach Wehhagen zum Bahnhof. Als ich am frühen Abend endlich wieder im Zug saß, merkte ich, dass mir jegliches Zeitgefühl abhanden gekommen war. Die Taubheit in meinen Beinen glaubte ich immer noch zu spüren. Wehhagen lag da schon eine gute Stunde hinter mir. Ich lauschte auf das Fahrgeräusch des Zuges, hörte den Mann mit dem Getränkewagen. Sah, wie er mir das Bier in einen Plastikbecher einfüllte. Ich suchte in meinem Portemonnaie nach Münzen. War in Sicherheit. Wehhagen war schon weit weg, war woanders.
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Als ich den Becher zum zweiten Mal an den Mund hob, hatte ich plötzlich das Gefühl, an einem Haken zu hängen. Ein Angelhaken an einer endlos langen Schnur. Gerner hatte mir nichts getan. Er war ja nur noch ein Nichts auf Rädern. Und doch war meine Abreise aus Wehhagen – natürlich wusste ich das – eine Flucht. Vor wem eigentlich? Ich schloss die Augen.
„Mit dem Leben davon gekommen.“
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Aber mit was für einem Leben? Solange ich mich kenne, haben mich Bahnfahrten, die Fahrgeräusche im Zug immer in kürzester Zeit eingeschläfert. Während ich jetzt Richtung Süden rollte, konnte ich nicht einschlafen. Ich weiß nicht, warum ich aufgeregt war.
ENDE
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