Leider dauerte auch die Beziehung mit Claudia nicht so lange, wie ich es mir gewünscht hätte, doch sie war ziemlich penetrant, wenn es ums Ignorieren ging. Sie zeigte mir am Ende über eine lange Zeit die kalte Schulter, und ich konnte es ihr eigentlich auch nicht verübeln. Jeder Versuch, mich zu entschuldigen, lief gnadenlos ins Leere, falls mich ihr unsteter Blick im Treppenhaus zufällig traf, wanderte er sofort ziellos in eine endlose Ferne weiter und sie stürmte wortlos an mir vorüber, wobei sie je nach Lust und Agressionszustand auch gerne ihre Wohnungstür mit einem lauten Knall zuwarf. Nach einem halben Jahr stand plötzlich ein neuer Name an ihrem Klingelschild. Sie war in einer Nacht- und Nebelaktion ausgezogen, ohne mir ein Wort zu sagen, geschweige denn sich zu verabschieden.
Es fing alles damit an, das wir an einem kalten Dezemberabend kurz vor Weihnachten gemütlich vor ihrem Fernseher lagen, Hansi wie immer sabbernd und schnaufend zu unseren Füßen. Claudia war in meinem Arm eingeschlafen, als plötzlich ihr Handy klingelte. Völlig verschlafen tastete sie auf dem Tisch danach, nach einer Minute wurde es mir dann zu bunt, ich nahm es vom Tisch und drückte es ihr ans Ohr. Ihre Stimme veränderte sich während dem Gespräch schlagartig, und kaum hatte sie das Gerät weggelegt, sprang sie vom Sofa auf. „Meine Großmutter ist gestorben, ich fahre jetzt gleich zu meinen Eltern“ erklärte sie mit brüchiger Stimme und stürzte sofort in ihr winziges Schlafzimmer. In völliger Hektik begann sie zu packen und öffnete dabei sämtliche Schranktüren, die ihr zur Verfügung standen. Nebenbei erklärte sie mir atemlos meine Aufgaben für die nächsten Tage. Blumen gießen, Briefkasten leeren, und ganz wichtig, Hansi versorgen: „...denk dran, nicht länger als zwanzig Minuten am Tag mit ihm rausgehn, mehr verkraftet er in seinem Alter nicht mehr!“ . Alles kein Problem für mich, die Schlüssel zu ihrer Wohnung hatte ich ja schon länger, also brachte ich sie noch zu ihrem Auto und versuchte währenddessen erfolglos, sie aufzubauen.
Der erste Abend lief gut, ich nahm Hansi mit in meine Wohnung und er schlief schnarchend auf meinem Perserimitat im Wohnzimmer. Am nächsten Morgen drehten wir zusammen eine kleine Runde durch unser Viertel, wie ich es schon tausendmal mit ihm gemacht hatte. Wie immer brauchte ich für den knappen Kilometer, den ich sonst unter zehn Minuten langsamen Schrittes laufe, mit Hund länger als eine Viertelstunde. Zuhause angekommen musste ich dringend auf die Toilette, und so bemerkte ich nicht, das Hansi es sich auf dem Teppich direkt hinter meiner Wohnzimmertür gemütlich gemacht hatte. Als ich von der Toilette kam stolperte ich deshalb zwangsweise über ihn und fiel der Länge nach in das Zimmer. Beim Versuch, mich abzufangen, riss ich mit dem Arm meine Stehlampe um. Sie prallte gegen mein Bücherregal, unglücklicherweise genau auf das Regalbrett, das seit Jahren locker saß und das ich schon längst reparieren wollte. Auf diesem Regalbrett bewahrte ich meine Sammlung an runden Steinen auf, die ich in diversen Urlauben gefunden hatte. Côte d`Ázur, Costa Brava, Costa de Sol, Adria und Split prasselten wie Geschosse durch mein Wohnzimmer, und eines davon landete mitten in meinem Fernseher. Mit einem kurzen Funkenregen ähnlich einer Wunderkerze auf den letzten Milimetern beendete dieser sein Dasein. Auf den ersten Schock folgte sofort die Erleichterung, da ich mir durch diese Aktion eine Entscheidung abgenommen hatte, die ich ewig vor mir her geschoben hatte. Mein alter Grundig-Fernseher war ein dermaßen vorsintflutliches Modell, das sich teilweise selbst die Ameisen weigerten, auf dem Schirm ihr bekanntes Rennen aufzuführen. Da nur eine Woche vorher mein Gehaltsscheck mit dem Weihnachtsgeld eingetroffen war, beschloss ich nun kurzerhand, mir einen Fernseher zu kaufen. Als ich gerade die Wohnung verlassen wollte, merkte ich, das Hansi mich aus seinem Auge mit einem entsetzlich trüben und schuldbewussten Blick ansah. Letzten Endes blieb mir vor lauter Mitleid nichts Anderes übrig, als ihn mitzunehmen.
Brav sprang er in den Kofferraum meines Volvos, und nach kurzer Fahrt parkte ich vor dem riesigen neuen Einkaufszentrum, das im letzten Jahr im Industriegebiet unseres Viertels aus dem Boden gestampft worden war. Auf dem Weg durch die Passage zum Mediamarkt hörte ich schon von Weitem die unglaubliche Kakophonie einer langen Reihe von auf ihre Herrchen und Damchen wartenden Hunden, ein undefinierbares Wirrwarr aus Jaulen, Bellen, Quieken, Japsen und was Hunde sonst noch für Geräusche erzeugen können empfing mich und ich musste mich zwingen, nicht sofort wieder den Rückweg anzutreten. Sicherheitshalber band ich Hansi an einem Gitter etwas entfernt von der bellenden Meute fest, in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem Golden Retriever, der sich scheinbar schämend mit dem Gesicht zur Wand in den letzten mit seiner Leine erreichbaren Winkel verkrochen hatte. Im Mediamarkt herrschte das übliche vorweihnachtliche Gewimmel, zu den obligatorischen Arbeitslosen im speckigen Trainingsanzug und den ewig mit den Verkäufern diskutierenden Frührentnern gesellten sich nun noch die ihren „Liebsten“ Weihnachtsgeschenke besorgenden Schnäppchenjäger. Vermutlich werden achtzig Prozent dieser auf den letzten Drücker erworbenen Geschenke nach den Feiertagen wieder in harte Währung umgetauscht. Wäre es da nicht sinnvoller, einfach gleich Geld zu verschenken, dachte ich bei mir, während ich mich durch die langen Reihen mit mehr oder weniger sinnvollen Elektrogeräten zwängte. Endlich hatte ich die Fernsehabteilung erreicht, die schon von Weitem mit ihrer gigantischen Bildschirmwand lockte. Nach kurzem Auswählen und einer etwas längeren Beratung durch einen pickligen Mediamarktverkäufer hatte ich einen Flachbildschirm auf meinem Wagen, der weder meinen monetären Rahmen noch die in meiner Wohnung zur Verfügung stehende Fläche sprengte. Zufrieden, den Fachmarktsoldaten von seinem offensichtlichen Auftrag, Kunden von den Schnäppchen abzuhalten und stattdessen auf teure Geräte zu verweisen, abgelenkt zu haben, steuerte ich die Kasse an, bezahlte und schob den Wagen zur Hundeecke. Schon von kurz hinter der Kasse aus sah ich, das Hansi halb auf dem Golden Retriever lag, welcher japsend versuchte, unter dem monströsen Schäferhund hervorzukriechen. Ich band Hansi los und versuchte ihn auf die Beine zu bringen, doch ich hatte keinen Erfolg, er wollte einfach nicht aufstehen. Nachdem ich einige Minuten an ihm herumgezerrt und ihn mit einem kleinen Hundekuchen, den ich mir Zuhause extra noch in die Jackentasche gesteckt hatte, angelockt hatte, wurde mir langsam bewusst, was gerade passierte: Hansi war mausetot, vermutlich gestorben an Altersschwäche beim versuchten Verkehr mit einem Golden Retriever auf dem Hundeparkplatz vor dem Mediamarkt.
Eigentlich ein schöner Tod, dachte ich völlig überrumpelt und versuchte fassungslos meine Lage zu überdenken. Auf der einen Seite hatte ich einen ziemlich teuren Fernseher, der den kompletten Einkaufswagen in Beschlag nahm und den ich dringend in mein Auto bringen wollte, auf der anderen Seite einen offensichtlich toten riesigen Schäferhund, den ich ohne zu viel Aufsehen zu erregen ebenfalls zu meinem Wagen bringen musste. Als ich mich hilfesuchend umsah, entdeckte ich die Entpackstation, an der sich riesige Kartonberge stapelten. Ich holte mir kurzentschlossen einen großen Karton, wuchtete Hansis Körper hinein und schob den Karton hinter die anderen Kartons an der Entpackstation. Schnell rollte ich dann den Wagen mit dem Fernseher zu meinem Auto und verstaute ihn. Innerhalb von etwa zwei Minuten war ich wieder zurück, um Hansi zu holen, das Problem war jedoch: Der Karton war verschwunden. So sehr ich ihn auch suchte, er blieb unauffindbar. Schließlich fragte ich an der Information um Hilfe. Eine sehr freundliche pummelige Blondine schaute mich erst ungläubig an, als ich ihr meine Geschichte erzählte, dann rief sie endlich einen weiteren Marktmitarbeiter, der mir für einige Zeit beim Suchen half. Wir überprüften alle möglichen und unmöglichen Orte, selbst das Mitarbeiterklo. Am Ende lies er für mich für ein kleines Trinkgeld mit einem Security-Angestellten sogar die Überwachungsbänder überprüfen, doch innerhalb der kurzen Zeit, die ich an meinem Auto war, kam niemand der Packstation auch nahe. Der mittlerweile hinzugeholte Filialleiter, der sich bei der Geschichte ein Grinsen nur mühsam verkneifen konnte, versprach mir, sich sofort bei mir zu melden, wenn der Karton wieder auftauchen sollte, was natürlich nicht der Fall war.
Geknickt schlich ich zu meinem Auto und fuhr nach Hause, und den restlichen Tag lenkte ich mich mit der Installation meines neuen Fernsehers ab. Am Abend fasste ich dann endlich allen Mut zusammen und meldete mich bei Claudia. „Schön das du anrufst, mir geht’s nicht gut“ hörte ich sie murmeln. „Ich muss dir etwas sagen“ begann ich, und sie schaltete sofort. „Ist was mit Hansi passiert?“ „Ja, er ist tot. Vor dem Mediamarkt einfach umgekippt.“ Eine halbe Ewigkeit schluchzte sie nur und sagte kein Wort, dann fragte sie: „Hast du ihn begraben?“ „Genau da liegt das Problem...“ begann ich und erklärte ihr die ganze Geschichte. „Du hast meinen Hund wegen eines Fernsehers vor dem Mediamarkt sterben lassen und ihn dann verloren?“ fasste sie ungläubig zusammen. Nach einer kurzen Pause erklärte sie dann: „Ok, ich komme heute noch zurück.“ Ich versuchte es ihr auszureden, doch drei Stunden später stand sie vor meiner Tür.
„Meine Schlüssel.“ forderte sie knapp und bestimmt. Damals wusste ich es nicht, doch dies waren die letzten Worte, die ich jemals von ihr zu Hören bekam. Ich drückte ihr die Schlüssel in die Hand und begann mich zu entschuldigen, doch sie verschwand wortlos in ihrer Wohnung. Beziehungstechnisch war ich nun also sprichwörtlich wieder auf den Hund gekommen.