Zwei Frauen lieben einen Mann, einen sehr fürsoglichen Mann der mit einer der Frauen lebt. Die Jahre ändern die Schicksale der Frauen wodurch sie nach Jahren wieder zusammengeführt wurden. Was aus dem fürsoglichen Mann wurde möchte ich nicht verraten.
Die Nachmittagssonne stand niedrig. Sie spiegelte sich in den unzähligen Fensterscheiben entlang der Straßen. Für Minuten schienen Asphalt und Fenster mit einer goldenen Folie bezogen zu sein.
In den Gesichtern der vorbeigehenden Menschen konnte man erkennen, wie beruhigend diese Naturstimmung auf sie wirkt. – Aber dann wurde das Idyll rigoros unterbrochen.
Es war die furchterregende, schrille Sirene des Krankenwagens, der die in der Nachbarschaft wohnenden Menschen, und die Passanten, wie eine Warnung aufhorchen ließ.
Dore Krüger, kam langsam aus ihrer Versunkenheit, reckte sich kurz und lief zum Fenster um nachzusehen. Es gab nichts zu sehen. Trotzdem beobachtete sie, wie Passanten plötzlich stehen blieben, sich umdrehten und dem lärmenden Auto nachsahen. Die Stimmung war zerrissen, die Harmonie war zerstört. Dieser Augenblick wird nie mehr wiederkehren. Schrille Signale, wie die Sirene des Krankenwagens gehen manchem unter die Haut. Warum eigentlich?
Dora Krüger fröstelte, rieb sich die Arme und fuhr sich mit der blasen, zarten Hand über die Stirn, als wollte sie den Lärm fortwischen. Irgendwo hörte man die Pfeife eines Wasserkessels. Aber dieses Geräusch war lediglich penetrant, aber nicht beängstigend. Sie zog das Fenster bei. Diese grässlichen Geräusche taten ihr weh. Sie konnte sie bis in die Gelenke spüren.
Menschen, die Dore Krüger kennen, finden ihr Gehör übertrieben scharf. Bei ihr kann man von der fallenden Stecknadel sprechen. Dore hörte einen Säugling weinen, nicht schreien, sondern weinen, der vier Häuser entfernt zur Welt kam. Auch hörte sie damals die Mutter stöhnen, als sie das Kind zur Welt brachte. Ihr Gehör, sagt sie, ist ihr drittes Auge. Sie hört was in den umliegenden Wohnungen vor sich geht, und das zu ihrem Leid, denn sie liebt die Stille. Für Dore war es eindeutig ein Fluch, so gut hören zu können. Es schmerzt sie, mehrere Menschen gleichzeitig zuhören zu müssen. Wenn sie in einem Wartezimmer sitzt, und ganz zu schweigen, wenn sie eine Zahnarztpraxis besucht. Es schmerzt sie auch, eine quietschende Straßenbahn um die Ecke fahren zu hören. Damit muss sie leben. Im Sommer kann man nicht bei geschlossenen Fenstern in der Wohnung sitzen, trotz der hohen Räume und der kleinen Ventilatoren die bei ihr überall, in jedem Zimmer herumstehen.
Dore schloss das Fenster, zog die Übergardinen zu und legte sich eine CD auf um sich abzulenken. Sie ist eine feinfühlige Frau, Mitte vierzig, alleine lebend mit ihren beiden Katzen. Sie verlässt ihre Wohnung nur ganz früh morgens noch bevor die Menschen zu den Haltestellen jagen. Nur dann kann man sie im Park laufen sehen.
Bachs Orgelwerke füllten ganz leise den Raum. Ein anderer hätte die Musik gar nicht wahrnehmen können, aber für sie war es so richtig. Sie nahm den Brief einer geliebten Freundin zur Hand, den sie gestern zugestellt bekam, und begann zu lesen.
Meine geliebte Dore,
Es fällt mir nicht leicht dir heute, nach so vielen Jahren des Schweigens, zu schreiben. Plötzlich war damals in meinem Leben alles anders geworden. Ja, es kam so plötzlich, es war, wie soll ich es dir sagen, es war nach meinem letzten Besuch in deinem Haus. Ich besuchte dich damals ein Tag nach deinem zweiundzwanzigsten Geburtstag, kurz vor deiner geplanten Verlobung. An diesem Tag lernte ich auch Walter, deine große Liebe kennen, ein treusorgender Mensch, der einzige in deinem Leben. Er war dein Schutz, dein Augenlicht, dein Lebensinhalt. Aber ich verliebte mich in ihn, und trotz deiner Blindheit zog ich ihn erbarmungslos in meinen Bann. Es muss sehr, sehr schmerzhaft für dich gewesen sein ihn zu verlieren. Ich frage mich, woher hattest du die Kraft dazu genommen? Wer kümmerte sich nun damals um dich, und wer tut es heute?
Walter und ich heirateten schließlich. Hattest du davon erfahren? Aber er gehörte nie ganz mir. Ich habe eine Hälfte von ihm, du die andere Hälfte. Seine Seele gehörte immer dir, aber ich darf mit ihm leben, dabei hätte es umgekehrt sein müssen. Nun leben wir in Berlin, in einem netten Haus von blühenden Bäumen und Büschen umgeben. Zauberhaft, versichert mir jeder der kommt. Und der Mann, der uns beide liebt, übersieht hier alles mit Geduld. Er ist so wundervoll, so einfühlsam.
In unserem Garten stehen Birken, nichts als Birken und Jasmin. Ach, wie sehr ich die Birken liebe, ihre sanfte Rinde mit den Fingerspitzen zu berühren ist schon etwas ganz besonderes. Es fühlt sich an, als würde ich das Händchen eines Kindes streicheln.
Aber warum schweife ich vom Thema ab? Ich wollte mich bei dir rechtfertigen. Mein Gewissen überschattet mein Leben. Dieser Stachel meiner Unvernunft ist giftig und dieses Gift verbreitet sich langsam in meinem Körper und bildet eine Lähmung. Meine Gelenke... ach, ich soll nicht darüber reden.
Ich wünsche mir das alte Gefühl unserer einstigen Verbundenheit wieder zu gewinnen. Du und ich, wir waren wie Zwillinge. Als wären wir einer Mutter entschlüpft. Ach, geliebte Freundin, du kannst es dir nicht vorstellen, wie ich darunter leide dir weh getan zu haben. Walter weiß wohl darüber Bescheid und manchmal tröstet er mich mit den Worten, „wir können nicht Schicksal spielen, denn unsere Rollen sind im Schicksal enthalten. Wir spielen nur uns selbst.“
Sind das tröstende Worte? Nein, sie sind nur ein kleines Trostpflaster, dass an der Wunde klebt, und nimmt man es ab, reißt es die Wunde wieder auf.
Drei Tage vor unserer Hochzeit kaufte sich Walter einen nagelneuen BMW. Er sprach damals in seiner Glückseligkeit von seinem Geschoss auf vier Rädern. Ach, wie stolz er auf sein Geschoss war. Und ich, ja, ich saß wie eine Verzauberte neben ihm. Wir fuhren entlang der einsamen Landstraßen mit blühenden Apfelbäumen welche die Straße säumten. Für meine Begriffe fuhr er zu schnell. Der Motor müsse eingefahren werden erklärte er mir. Schnell und hochtourig muss er eingefahren werden. Mir wäre lieber gewesen, hätte ich etwas von den Bäumen und Feldern auf beiden Seiten der Straßen zu sehen bekommen. Dann geschah das unglaubliche. Ein Fuhrwerk mit zwei Kühen davor gespannt kam langsam um die Ecke. Wo sah man denn überhaupt noch Bauern mit Kühen vor einem Wagen gespannt? Wer rechnete denn schon damit?
Ich höre noch heute Walters arrogantes Hupen, als hätte er von den Kühen erwartet schnell zu Seite zu springen. Quietschende Reifen, der Gestank von verbrannten Gummi, das frische, warmen Blut der Tiere. Dann fiel ich in eine Dunkelheit.
Ich erlangte mein Bewusstsein erst zwölf Tage danach. Walter saß an meinem Bett und hielt mir die Hand.
„Sie wird doch noch so schön sein wie sie war, Schwester?“ hörte ich ihn einige Male fragen. Seine Fürsorge und Liebe ließen mich genesen. Die Monate im Krankenhaus waren schrecklich, ja grauenvoll. Ich war von Kopf bis Fuß bandagiert, auch mein Gesicht. Ich wusste nicht ob es Tag oder Nacht war und da dachte ich an dich, an die vielen Jahre deiner Nächte denen nie ein Tag folgt.
Nach Monaten, verlor ich endlich Stück für Stück von meinen Bandagen. Als mein Gesicht schließlich und endlich enthüllt wurde und ich mich auf das Tageslicht so freute, blieb ich in der Dunkelheit stecken. Das Licht kam nicht mehr. Ich habe mein Augenlicht verloren – ich bin blind, Dore. Ansonsten ist bei mir alles gut verheilt. Die Narben, sagt Walter, sind so fein, man sieht sie nicht. Und mit etwas Puder kann man sie sogar unsichtbar machen. Nun wurde ich den Augenspezialisten vorgeführt von denen mir jeder Hoffnung gab, denn man konnte in meinen Augen nichts finden, was mir das Sehen hätte verhindern können. Alles sei ganz normal. Es wäre noch von dem enormen Schock, oder es käme vom Nervensystem, sagte man und suchte weiter. Mein armer Walter lebt nun mit einer blinden Frau, wie er damals mit dir gelebt hat. Er ist sehr führsorgend, es fehlt mir an nichts, nur am Augenlicht. Walter liest mir jeden Abend vor, legt meine Lieblingsmusik auf, badet mich, er schminkt mich sogar, kämmt mir die Haare und füttert mich wie ein kleines Kind. Er führt mich durch den Garten und pflückt mir Blumen, damit ich an ihnen riechen kann. Er liebt es mit mir durch den Park zu gehen, kauft mir hübsche Kleider und geht mit mir in die Oper oder ins Theater. Wir haben liebe Freunde die uns besuchen kommen, ja, und manche kommen auch bei Tage, wenn Walter im Büro ist, damit ich nicht so alleine bin.
Meine liebe Freundin Vera schreibt diesen Brief für mich. Sie ist eine Nachbarin von uns, aber sie versteht nicht warum ich an dich überhaupt schreibe. Aus meinem Inhalt weiß sie, dass ich dir das wertvollste in deinem Leben weggenommen habe. Glaube mir, Walter hätte dich nicht verlassen, hätte ich mich nicht so...
Ach, das ist nun so lange her. Ich bin in den Jahren reifer geworden, quäle mich aber noch immer wegen meiner damaligen Unvernunft. Ich kann nur hoffen, dass du mir verzeihen kannst, liebe Dora. Dann könnte ich meine Blindheit leichter ertragen. Ich hoffe auch du hast eine liebe Person, die dir meine Zeilen vorlesen kann.
Ich grüße dich in Liebe,
deine Freundin,
Renate
Dore Krüger las sich den Brief zweimal durch. Sie war erschüttert. Wie konnte es möglich sein. Renate blind? Dabei hat sie keine optische Erinnerung an sie, weiß ja gar nicht wie Renate ausgesehen hat, denn als sie Renate kennen lernte waren sie beide vier Jahre alt, ja, auch Renate. Sie kann sich keine Bilder hervorrufen, denn sie war ja blind. Sie erinnert sich aber daran, dass Renate ihre Spielsachen gerne wegnahm, weil sie wusste, sie konnte sie nicht finden. Da sie aber Nachbarskinder waren und keine anderen Kinder im Haus wohnten, spielten sie täglich miteinander. An Renates Stimme kann sich Dore aber noch sehr gut erinnern, ja sehr gut sogar, und auch an das Lachen von Renates Mutter. Es tat ihren Ohren weh, wie auch heute die Sirene des Krankenwagens ihren Ohren weh tat.
Mit einem tiefen Seufzer, hörte sie sich den letzten Teil des Orgelkonzertes an. Dabei holte sie sich ihre Stimmbilder von damals ins Gedächtnis. Wie anders ihre Vorstellungen doch in dieser Zeit waren. Ihre dunkle Welt, die so lebendig war, in der es jederzeit blühen konnte und jede Blüte anders tönte, war zauberhafter als das was sie mit sehenden Augen sehen kann.
Dore legte Renates Brief in die Schale auf dem Kaffeetisch. Es vergingen Stunden in der Tiefe ihrer Gedanken. Dore nannte diese Versunkenheit ihren Gedankenkeller. Täglich nahm sie sich Renates Brief wieder zur Hand und las ihn mit Andacht. Danach schloss sie wieder ihre Augen und teilte sich die Dunkelheit mit ihrer Freundin, bis sie eines Tages, es war wie eine Eingebung, ein Gedanke sie buchstäblich ergriff und sie nicht mehr losließ.
Des Nachts wälzte sich Dore im Bett. Sie träumte furchtbare, erschreckende, zusammenhanglose Dinge. In ihren Träumen wurde sie von der Sonne so geblendet, dass sie nichts sehen konnte, wie während ihrer Blindheit, nur eben nicht im Dunkel. Und dieser Zustand hielt auch dann noch an, nach dem die Sonne schon untergegangen war. Was war es, was sie bis in der Tiefe ihrer Seele verfolgt? Was hatte es mit dieser Verblendung auf sich? Mit Renates Unfall hatte sie ja rein überhaupt nichts zu tun. Es traf sie keine Schuld. Nie hatte sie ihrer Freundin etwas schlechtes gewünscht und als sie von der Hochzeit zwischen Renate und Walter erfuhr, hegte sie keinen Zorn, sondern Verständnis. Walter, der junge, fürsorgliche Mann, der für sein Alter viel zu ernst war und seine ganze Liebe in die Pflege für sie gelegt hatte, er sollte sich seines Lebens erfreuen, und das konnte er nicht mit einer Blinden. Ja, sie versuchte sogar damals Walter und Renate ihr Glück zu gönnen was ihr über die Jahre gelang.
Dore überschlief für eine weitere Woche diesen Brief, bevor sie ihn endlich beantwortete.
Meine geliebte Freundin Renate.
Es schmerzte mich so sehr zu lesen, dass du dein Augenlicht durch einen Unfall verloren hast. Wie ungerecht. Wo ich doch Walter und dir nichts als Glück wünsche. Ja, ich weiß wie dunkel die Dunkelheit ist, wie ausweglos und hilflos man sein kann und wie man das Ticken der Uhr an der Wand mitzählt um sich zu beschäftigen. Es gibt nur Nächte. Die Nächte bei Helligkeit, wie ich die Tage immer nannte, waren geräuschvoll. Das Gehör schärft sich so sehr, dass man unglaubliches hören kann. Ich hörte meine Eltern in der Küche flüstern, wenn ich die Bettdecke über den Kopf gezogen hatte. Aber mein Gehör war der einzige Schutz den ich hatte, wenn ich alleine war. Ich konzentrierte mich mit dem Gehör auf alle Geräusche, sodass sie manchmal Farben in mir hervorriefen. Wie das geschehen konnte weiß ich nicht, aber es war schön, Farben in meiner Dunkelheit mit geschlossenen Augen sehen zu dürfen. Wie du dich sicherlich noch erinnerst, meine Mutter erzählte es dir, wurde ich blind, als ich als Säugling vom Wickeltisch rollte. Es dauerte lange bis meine Eltern es bemerkt hatten, dass ich nichts sehen konnte. Sie mussten verzweifelt gewesen sein, als sie es erfuhren. Sie vermuteten es endlich, als ich ständig in Gegenstände rein gelaufen bin und mir weh tat. Oder, wenn sie mir etwas reichten und ich nicht danach griff.
Aber die Liebe und endlose Geduld meiner Eltern erleichterten mir meine Blindheit. Ich bildete mir sogar manchmal ein, jeder sei blind, nicht nur ich, besonders wenn mein Papa sagte, „Ach, ich habe dich gar nicht kommen sehen.“ Papa und ich spielten viel Versteck. Ich lernte seiner Stimme zu folgen.
Nun stell dir vor, Renate, auch ich hatte einen Unfall und fast zur gleichen Zeit wie du. Ich musste mit einer Blindarmentzündung zum Krankenhaus eingeliefert werden. Es war ein schrecklicher Wintertag. Du erinnerst dich vielleicht an den Winter von 1999, wo es schon im November bitterkalt war und das Eis dick auf den Gehwegen lag. Man trug mich auf der Bahre vom Parkplatz zur Notaufnahme, denn die Operation sollte umgehend durchgeführt werden. Einer der Sanitäter rutschte auf einem kleinen Stück Eis aus, was merkwürdigerweise nicht größer war als eine Schuhsohle. Und genau darauf musste er treten? Wie seltsam. Als hätte jemand seinen Fuß auf dieses kleine Stück Eis gezogen. Ich rutschte von der Bahre und fiel zu Boden. Daran kann ich mich noch gut erinnern, denn als ich mit dem Kopf aufschlug, sah ich buchstäblich Sterne vor den Augen. Dann fiel ich in ein Koma. Erstaunlicherweise hatte ich mir keine Finger oder Rippen gebrochen. Ich hatte keinen Kratzer, nur ein Loch im Kopf. Als ich aus dem Koma erwachte spürte ich die Hand meines Vaters. Ich wusste nicht wo ich war. Ich sagte: “Papa, du bist es. Ist es schon spät? Warum schläfst du denn nicht. Und wo ist Mutti?“
Mein Vater war überglücklich, mich sprechen zu hören. Ja, überglücklich. In seiner Freude klingelte er der Schwester, sie rief den Arzt und das ganze Team kam zur gleichen Zeit in mein Zimmer und ihre Stimmen taten mir weh. Es war so laut, so entsetzlich laut. Mein Kopf dröhnte. Als ich plötzlich die Sirene eines Krankenwagens hörte, schrie ich hysterisch, setzte mich im Bett auf und öffnete die Augen. Da prallte das Tageslicht mit aller Wucht in meine Augen und blendete mich, sodass ich Schmerz empfand und mir blitzschnell mit beiden Händen die Augen zuhielt.
Erschrocken und bekümmert fragte mein Vater: „Was ist es, mein Kind? Tun die Äuglein weh?“
Ich öffnete die Augen wieder, diesmal nur einen Spalt und ich sah viele Menschen im Raum. An den Stimmen hörte ich, dass es Frauen und Männer waren aber ich wusste nicht wer eine Frau war und wer ein Mann war. Und ich wusste nicht, welcher mein Vater war. Ich starrte sie alle an und begann in meiner Hilflosigkeit zu weinen.
„Papa, wo bist du,“ weinte ich, sah mich um und ich spürte wieder seine Hand. Nun sah ich diese seine Hand und ich sah Papa zum ersten Mal in meinem Leben. Kurz darauf kam meine Mutter und ich sah meine Mutter zum ersten Male. Wie fremd sie mir ohne ihre Stimmen waren. Sie waren plötzlich die Menschen, die ohne ihre Stimmen für mich nie existiert haben. Ich musste sie zusammenfügen. Körper und Stimme zu einer Einheit machen. Die Stimmen meiner Eltern hatten jetzt einen Körper. Ich hatte nie eine Vorstellung von meinen Eltern, nur ihre Stimmen kannte ich, obwohl ich ihnen ja ständig nah war, von ihnen getragen, und gestreichelt wurde. Unterscheiden konnte ich sie auch an ihrem Hautgeruch.
Es war so seltsam, aus meiner Dunkelheit ins Licht zu kommen. Ich wollte die Augen nicht mehr schließen, weil ich Angst davor hatte, mein Licht wieder zu verlieren. Meine Eltern ließen immer eine kleine Lampe in meinem Zimmer brennen und die Türen waren alle offen.
Ach, meine liebe Renate. Nun lebe ich mit meinen beiden Katzen in meiner wunderschönen Wohnung. Ich habe eine gut bezahlte Arbeitsstelle. Ach, was sage ich denn, ich arbeite von meiner Wohnung aus. Da ich das Lesen und Schreiben erst als Erwachsene erlernen konnte, wählte ich mir einen Beruf, den ich auch mit fehlerhaftem Schreiben und Lesen durchführen kann. Ich beziehe sehr kunstvoll wunderschöne Lampenschirme, mit den schönsten Seidenstoffen, in den herrlichsten Farben. Ja, ich sitze hier an meinem Tischchen am Fenster und das ist mein Arbeitsbereich. Meine Eltern kommen täglich gegen drei Uhr zum Tee und Gebäck. Mein Leben ist herrlich und ich bin glücklich. Vielleicht, wenn das Leben es so will, treffe ich eines Tages einen lieben Menschen einen wie Walter, der mit mir die restlichen Jahre teilen möchte.
Aber nun zu dir, meine geliebte Freundin. Ich würde dir gerne, und das ist mein absoluter Ernst, ich würde dir gerne eines meiner gesunden Augen abgeben. Nun, meine Augen sind braun, und welche Farbe haben deine Augen? Falls du blaue Augen hast, würde es dich stören? Mich nicht. Ich sprach schon mit meinem Augenarzt der mich zwar für verrückt erklärt, aber sagte, es sei machbar, denn meine Augen sind gesund. Ich lasse dir Zeit es zu überdenken. Wie sagt man, geteiltes Leid ist halbes Leid.
In Liebe, deine Dore
Es ergab sich, dass Renates Augenoperation an genau dem gleichen Datum durchgeführt wurde, an welchen sie vor Jahren ihren Unfall erlitten hatte und ihr Augenlicht verlor. Hier lagen die beiden Frauen, im gleichen Operationssaal von verschiedenen Ärzten und Schwestern umgeben, behandelt und gepflegt.
Dore bekam ein Glasauge eingesetzt, dass von ihrem eigenen nicht zu unterscheiden war. Man hatte sogar die Augenmuskel so präzise befestigen können, dass sich beide Augen gleichzeitig in die gleiche Richtungen bewegen.
Renate hat jetzt ein braunes Auge und ein blaues Auge aber sie kann wieder sehen. Sie ist aus ihrer endlosen Dunkelheit gerettet worden. Als sich die beiden Frauen ansahen, blieben alle Worte unausgesprochen. Ihre Blicke verfingen sich und glitten in die Wortlosigkeit. Dann schlossen sie die Augen, weil die Dunkelheit plötzlich von innen her erhellt war. Sie hörten Walters Stimme im Raum und keine von beiden wagte sich ihn anzusehen. Erst als er Renates Hand nahm, öffnete sie die Augen und strahlte ihn mit einem blauen Auge und einem braunen Auge an.
„Liebling, ich kann dich sehen“, hauchte sie vor Glück und drückte ihm sanft die linke Hand. Walter starrte mit Entsetzen auf das braune Auge. Das war alles was er sah. Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben und Grauen überkam ihn. Seine Frau die er so liebt, die er mit so viel Hingabe gepflegt hat, sieht ihn nun mit zwei verschiedenen Augen an. Nein, es war noch schlimmer. Es war Dore die in ansah, denn Renates Auge war ja noch blind. Seine Hände wurden feucht, er öffnete seinen oberen Knopf am Hemd. Walter ließ ihre Hand los und verließ das Krankenzimmer, ohne sich umzudrehen, ohne sich bei Dore zu bedanken, ohne sie zu grüßen, ohne sich der Größe dieser beiden Frauen bewusst zu sein. Er sah nur ein braunes Auge und ein blaues Auge. Er war mit Blindheit geschlagen ohne je sein Augenlicht verloren zu haben.
Walter verließ noch am gleichen Tag die Stadt. Er nahm nur einen Koffer mit Wäsche, Hosen, Hemden und Socken. Er besuchte seinen Bruder in den Vereinigten Staaten und dort blieb er.
Dore zog bei Renate in das hübsche Haus ein. Auch sie liebte die Birken im Garten und lies gerne ihre feinfühligen Fingerspitzen über die sanfte Rinde der Bäume gleiten. Der Erker im Wohnzimmer das zum Garten hin lag, diente den beiden Frauen um ihre Lampenschirme mit den feinsten Seidenstoffen in leuchtenden Farben zu beziehen. Sie lieben die gleiche Musik, die gleichen Vorlesungen und Veranstaltungen. Sie lachen gerne und reden noch ab und zu über Walter, den blinden Blindenführer.
Die Nachmittagssonne stand niedrig. Sie spiegelte sich in den unzähligen Fensterscheiben entlang der Straßen. Für Minuten schienen Asphalt und Fenster mit einer goldenen Folie bezogen zu sein.
In den Gesichtern der vorbeigehenden Menschen konnte man erkennen, wie beruhigend diese Naturstimmung auf sie wirkt. – Aber dann wurde das Idyll rigoros unterbrochen.
Es war die furchterregende, schrille Sirene des Krankenwagens, der die in der Nachbarschaft wohnenden Menschen, und die Passanten, wie eine Warnung aufhorchen ließ.
Dore Krüger, kam langsam aus ihrer Versunkenheit, reckte sich kurz und lief zum Fenster um nachzusehen. Es gab nichts zu sehen. Trotzdem beobachtete sie, wie Passanten plötzlich stehen blieben, sich umdrehten und dem lärmenden Auto nachsahen. Die Stimmung war zerrissen, die Harmonie war zerstört. Dieser Augenblick wird nie mehr wiederkehren. Schrille Signale, wie die Sirene des Krankenwagens gehen manchem unter die Haut. Warum eigentlich?
Dora Krüger fröstelte, rieb sich die Arme und fuhr sich mit der blasen, zarten Hand über die Stirn, als wollte sie den Lärm fortwischen. Irgendwo hörte man die Pfeife eines Wasserkessels. Aber dieses Geräusch war lediglich penetrant, aber nicht beängstigend. Sie zog das Fenster bei. Diese grässlichen Geräusche taten ihr weh. Sie konnte sie bis in die Gelenke spüren.
Menschen, die Dore Krüger kennen, finden ihr Gehör übertrieben scharf. Bei ihr kann man von der fallenden Stecknadel sprechen. Dore hörte einen Säugling weinen, nicht schreien, sondern weinen, der vier Häuser entfernt zur Welt kam. Auch hörte sie damals die Mutter stöhnen, als sie das Kind zur Welt brachte. Ihr Gehör, sagt sie, ist ihr drittes Auge. Sie hört was in den umliegenden Wohnungen vor sich geht, und das zu ihrem Leid, denn sie liebt die Stille. Für Dore war es eindeutig ein Fluch, so gut hören zu können. Es schmerzt sie, mehrere Menschen gleichzeitig zuhören zu müssen. Wenn sie in einem Wartezimmer sitzt, und ganz zu schweigen, wenn sie eine Zahnarztpraxis besucht. Es schmerzt sie auch, eine quietschende Straßenbahn um die Ecke fahren zu hören. Damit muss sie leben. Im Sommer kann man nicht bei geschlossenen Fenstern in der Wohnung sitzen, trotz der hohen Räume und der kleinen Ventilatoren die bei ihr überall, in jedem Zimmer herumstehen.
Dore schloss das Fenster, zog die Übergardinen zu und legte sich eine CD auf um sich abzulenken. Sie ist eine feinfühlige Frau, Mitte vierzig, alleine lebend mit ihren beiden Katzen. Sie verlässt ihre Wohnung nur ganz früh morgens noch bevor die Menschen zu den Haltestellen jagen. Nur dann kann man sie im Park laufen sehen.
Bachs Orgelwerke füllten ganz leise den Raum. Ein anderer hätte die Musik gar nicht wahrnehmen können, aber für sie war es so richtig. Sie nahm den Brief einer geliebten Freundin zur Hand, den sie gestern zugestellt bekam, und begann zu lesen.
Meine geliebte Dore,
Es fällt mir nicht leicht dir heute, nach so vielen Jahren des Schweigens, zu schreiben. Plötzlich war damals in meinem Leben alles anders geworden. Ja, es kam so plötzlich, es war, wie soll ich es dir sagen, es war nach meinem letzten Besuch in deinem Haus. Ich besuchte dich damals ein Tag nach deinem zweiundzwanzigsten Geburtstag, kurz vor deiner geplanten Verlobung. An diesem Tag lernte ich auch Walter, deine große Liebe kennen, ein treusorgender Mensch, der einzige in deinem Leben. Er war dein Schutz, dein Augenlicht, dein Lebensinhalt. Aber ich verliebte mich in ihn, und trotz deiner Blindheit zog ich ihn erbarmungslos in meinen Bann. Es muss sehr, sehr schmerzhaft für dich gewesen sein ihn zu verlieren. Ich frage mich, woher hattest du die Kraft dazu genommen? Wer kümmerte sich nun damals um dich, und wer tut es heute?
Walter und ich heirateten schließlich. Hattest du davon erfahren? Aber er gehörte nie ganz mir. Ich habe eine Hälfte von ihm, du die andere Hälfte. Seine Seele gehörte immer dir, aber ich darf mit ihm leben, dabei hätte es umgekehrt sein müssen. Nun leben wir in Berlin, in einem netten Haus von blühenden Bäumen und Büschen umgeben. Zauberhaft, versichert mir jeder der kommt. Und der Mann, der uns beide liebt, übersieht hier alles mit Geduld. Er ist so wundervoll, so einfühlsam.
In unserem Garten stehen Birken, nichts als Birken und Jasmin. Ach, wie sehr ich die Birken liebe, ihre sanfte Rinde mit den Fingerspitzen zu berühren ist schon etwas ganz besonderes. Es fühlt sich an, als würde ich das Händchen eines Kindes streicheln.
Aber warum schweife ich vom Thema ab? Ich wollte mich bei dir rechtfertigen. Mein Gewissen überschattet mein Leben. Dieser Stachel meiner Unvernunft ist giftig und dieses Gift verbreitet sich langsam in meinem Körper und bildet eine Lähmung. Meine Gelenke... ach, ich soll nicht darüber reden.
Ich wünsche mir das alte Gefühl unserer einstigen Verbundenheit wieder zu gewinnen. Du und ich, wir waren wie Zwillinge. Als wären wir einer Mutter entschlüpft. Ach, geliebte Freundin, du kannst es dir nicht vorstellen, wie ich darunter leide dir weh getan zu haben. Walter weiß wohl darüber Bescheid und manchmal tröstet er mich mit den Worten, „wir können nicht Schicksal spielen, denn unsere Rollen sind im Schicksal enthalten. Wir spielen nur uns selbst.“
Sind das tröstende Worte? Nein, sie sind nur ein kleines Trostpflaster, dass an der Wunde klebt, und nimmt man es ab, reißt es die Wunde wieder auf.
Drei Tage vor unserer Hochzeit kaufte sich Walter einen nagelneuen BMW. Er sprach damals in seiner Glückseligkeit von seinem Geschoss auf vier Rädern. Ach, wie stolz er auf sein Geschoss war. Und ich, ja, ich saß wie eine Verzauberte neben ihm. Wir fuhren entlang der einsamen Landstraßen mit blühenden Apfelbäumen welche die Straße säumten. Für meine Begriffe fuhr er zu schnell. Der Motor müsse eingefahren werden erklärte er mir. Schnell und hochtourig muss er eingefahren werden. Mir wäre lieber gewesen, hätte ich etwas von den Bäumen und Feldern auf beiden Seiten der Straßen zu sehen bekommen. Dann geschah das unglaubliche. Ein Fuhrwerk mit zwei Kühen davor gespannt kam langsam um die Ecke. Wo sah man denn überhaupt noch Bauern mit Kühen vor einem Wagen gespannt? Wer rechnete denn schon damit?
Ich höre noch heute Walters arrogantes Hupen, als hätte er von den Kühen erwartet schnell zu Seite zu springen. Quietschende Reifen, der Gestank von verbrannten Gummi, das frische, warmen Blut der Tiere. Dann fiel ich in eine Dunkelheit.
Ich erlangte mein Bewusstsein erst zwölf Tage danach. Walter saß an meinem Bett und hielt mir die Hand.
„Sie wird doch noch so schön sein wie sie war, Schwester?“ hörte ich ihn einige Male fragen. Seine Fürsorge und Liebe ließen mich genesen. Die Monate im Krankenhaus waren schrecklich, ja grauenvoll. Ich war von Kopf bis Fuß bandagiert, auch mein Gesicht. Ich wusste nicht ob es Tag oder Nacht war und da dachte ich an dich, an die vielen Jahre deiner Nächte denen nie ein Tag folgt.
Nach Monaten, verlor ich endlich Stück für Stück von meinen Bandagen. Als mein Gesicht schließlich und endlich enthüllt wurde und ich mich auf das Tageslicht so freute, blieb ich in der Dunkelheit stecken. Das Licht kam nicht mehr. Ich habe mein Augenlicht verloren – ich bin blind, Dore. Ansonsten ist bei mir alles gut verheilt. Die Narben, sagt Walter, sind so fein, man sieht sie nicht. Und mit etwas Puder kann man sie sogar unsichtbar machen. Nun wurde ich den Augenspezialisten vorgeführt von denen mir jeder Hoffnung gab, denn man konnte in meinen Augen nichts finden, was mir das Sehen hätte verhindern können. Alles sei ganz normal. Es wäre noch von dem enormen Schock, oder es käme vom Nervensystem, sagte man und suchte weiter. Mein armer Walter lebt nun mit einer blinden Frau, wie er damals mit dir gelebt hat. Er ist sehr führsorgend, es fehlt mir an nichts, nur am Augenlicht. Walter liest mir jeden Abend vor, legt meine Lieblingsmusik auf, badet mich, er schminkt mich sogar, kämmt mir die Haare und füttert mich wie ein kleines Kind. Er führt mich durch den Garten und pflückt mir Blumen, damit ich an ihnen riechen kann. Er liebt es mit mir durch den Park zu gehen, kauft mir hübsche Kleider und geht mit mir in die Oper oder ins Theater. Wir haben liebe Freunde die uns besuchen kommen, ja, und manche kommen auch bei Tage, wenn Walter im Büro ist, damit ich nicht so alleine bin.
Meine liebe Freundin Vera schreibt diesen Brief für mich. Sie ist eine Nachbarin von uns, aber sie versteht nicht warum ich an dich überhaupt schreibe. Aus meinem Inhalt weiß sie, dass ich dir das wertvollste in deinem Leben weggenommen habe. Glaube mir, Walter hätte dich nicht verlassen, hätte ich mich nicht so...
Ach, das ist nun so lange her. Ich bin in den Jahren reifer geworden, quäle mich aber noch immer wegen meiner damaligen Unvernunft. Ich kann nur hoffen, dass du mir verzeihen kannst, liebe Dora. Dann könnte ich meine Blindheit leichter ertragen. Ich hoffe auch du hast eine liebe Person, die dir meine Zeilen vorlesen kann.
Ich grüße dich in Liebe,
deine Freundin,
Renate
Dore Krüger las sich den Brief zweimal durch. Sie war erschüttert. Wie konnte es möglich sein. Renate blind? Dabei hat sie keine optische Erinnerung an sie, weiß ja gar nicht wie Renate ausgesehen hat, denn als sie Renate kennen lernte waren sie beide vier Jahre alt, ja, auch Renate. Sie kann sich keine Bilder hervorrufen, denn sie war ja blind. Sie erinnert sich aber daran, dass Renate ihre Spielsachen gerne wegnahm, weil sie wusste, sie konnte sie nicht finden. Da sie aber Nachbarskinder waren und keine anderen Kinder im Haus wohnten, spielten sie täglich miteinander. An Renates Stimme kann sich Dore aber noch sehr gut erinnern, ja sehr gut sogar, und auch an das Lachen von Renates Mutter. Es tat ihren Ohren weh, wie auch heute die Sirene des Krankenwagens ihren Ohren weh tat.
Mit einem tiefen Seufzer, hörte sie sich den letzten Teil des Orgelkonzertes an. Dabei holte sie sich ihre Stimmbilder von damals ins Gedächtnis. Wie anders ihre Vorstellungen doch in dieser Zeit waren. Ihre dunkle Welt, die so lebendig war, in der es jederzeit blühen konnte und jede Blüte anders tönte, war zauberhafter als das was sie mit sehenden Augen sehen kann.
Dore legte Renates Brief in die Schale auf dem Kaffeetisch. Es vergingen Stunden in der Tiefe ihrer Gedanken. Dore nannte diese Versunkenheit ihren Gedankenkeller. Täglich nahm sie sich Renates Brief wieder zur Hand und las ihn mit Andacht. Danach schloss sie wieder ihre Augen und teilte sich die Dunkelheit mit ihrer Freundin, bis sie eines Tages, es war wie eine Eingebung, ein Gedanke sie buchstäblich ergriff und sie nicht mehr losließ.
Des Nachts wälzte sich Dore im Bett. Sie träumte furchtbare, erschreckende, zusammenhanglose Dinge. In ihren Träumen wurde sie von der Sonne so geblendet, dass sie nichts sehen konnte, wie während ihrer Blindheit, nur eben nicht im Dunkel. Und dieser Zustand hielt auch dann noch an, nach dem die Sonne schon untergegangen war. Was war es, was sie bis in der Tiefe ihrer Seele verfolgt? Was hatte es mit dieser Verblendung auf sich? Mit Renates Unfall hatte sie ja rein überhaupt nichts zu tun. Es traf sie keine Schuld. Nie hatte sie ihrer Freundin etwas schlechtes gewünscht und als sie von der Hochzeit zwischen Renate und Walter erfuhr, hegte sie keinen Zorn, sondern Verständnis. Walter, der junge, fürsorgliche Mann, der für sein Alter viel zu ernst war und seine ganze Liebe in die Pflege für sie gelegt hatte, er sollte sich seines Lebens erfreuen, und das konnte er nicht mit einer Blinden. Ja, sie versuchte sogar damals Walter und Renate ihr Glück zu gönnen was ihr über die Jahre gelang.
Dore überschlief für eine weitere Woche diesen Brief, bevor sie ihn endlich beantwortete.
Meine geliebte Freundin Renate.
Es schmerzte mich so sehr zu lesen, dass du dein Augenlicht durch einen Unfall verloren hast. Wie ungerecht. Wo ich doch Walter und dir nichts als Glück wünsche. Ja, ich weiß wie dunkel die Dunkelheit ist, wie ausweglos und hilflos man sein kann und wie man das Ticken der Uhr an der Wand mitzählt um sich zu beschäftigen. Es gibt nur Nächte. Die Nächte bei Helligkeit, wie ich die Tage immer nannte, waren geräuschvoll. Das Gehör schärft sich so sehr, dass man unglaubliches hören kann. Ich hörte meine Eltern in der Küche flüstern, wenn ich die Bettdecke über den Kopf gezogen hatte. Aber mein Gehör war der einzige Schutz den ich hatte, wenn ich alleine war. Ich konzentrierte mich mit dem Gehör auf alle Geräusche, sodass sie manchmal Farben in mir hervorriefen. Wie das geschehen konnte weiß ich nicht, aber es war schön, Farben in meiner Dunkelheit mit geschlossenen Augen sehen zu dürfen. Wie du dich sicherlich noch erinnerst, meine Mutter erzählte es dir, wurde ich blind, als ich als Säugling vom Wickeltisch rollte. Es dauerte lange bis meine Eltern es bemerkt hatten, dass ich nichts sehen konnte. Sie mussten verzweifelt gewesen sein, als sie es erfuhren. Sie vermuteten es endlich, als ich ständig in Gegenstände rein gelaufen bin und mir weh tat. Oder, wenn sie mir etwas reichten und ich nicht danach griff.
Aber die Liebe und endlose Geduld meiner Eltern erleichterten mir meine Blindheit. Ich bildete mir sogar manchmal ein, jeder sei blind, nicht nur ich, besonders wenn mein Papa sagte, „Ach, ich habe dich gar nicht kommen sehen.“ Papa und ich spielten viel Versteck. Ich lernte seiner Stimme zu folgen.
Nun stell dir vor, Renate, auch ich hatte einen Unfall und fast zur gleichen Zeit wie du. Ich musste mit einer Blindarmentzündung zum Krankenhaus eingeliefert werden. Es war ein schrecklicher Wintertag. Du erinnerst dich vielleicht an den Winter von 1999, wo es schon im November bitterkalt war und das Eis dick auf den Gehwegen lag. Man trug mich auf der Bahre vom Parkplatz zur Notaufnahme, denn die Operation sollte umgehend durchgeführt werden. Einer der Sanitäter rutschte auf einem kleinen Stück Eis aus, was merkwürdigerweise nicht größer war als eine Schuhsohle. Und genau darauf musste er treten? Wie seltsam. Als hätte jemand seinen Fuß auf dieses kleine Stück Eis gezogen. Ich rutschte von der Bahre und fiel zu Boden. Daran kann ich mich noch gut erinnern, denn als ich mit dem Kopf aufschlug, sah ich buchstäblich Sterne vor den Augen. Dann fiel ich in ein Koma. Erstaunlicherweise hatte ich mir keine Finger oder Rippen gebrochen. Ich hatte keinen Kratzer, nur ein Loch im Kopf. Als ich aus dem Koma erwachte spürte ich die Hand meines Vaters. Ich wusste nicht wo ich war. Ich sagte: “Papa, du bist es. Ist es schon spät? Warum schläfst du denn nicht. Und wo ist Mutti?“
Mein Vater war überglücklich, mich sprechen zu hören. Ja, überglücklich. In seiner Freude klingelte er der Schwester, sie rief den Arzt und das ganze Team kam zur gleichen Zeit in mein Zimmer und ihre Stimmen taten mir weh. Es war so laut, so entsetzlich laut. Mein Kopf dröhnte. Als ich plötzlich die Sirene eines Krankenwagens hörte, schrie ich hysterisch, setzte mich im Bett auf und öffnete die Augen. Da prallte das Tageslicht mit aller Wucht in meine Augen und blendete mich, sodass ich Schmerz empfand und mir blitzschnell mit beiden Händen die Augen zuhielt.
Erschrocken und bekümmert fragte mein Vater: „Was ist es, mein Kind? Tun die Äuglein weh?“
Ich öffnete die Augen wieder, diesmal nur einen Spalt und ich sah viele Menschen im Raum. An den Stimmen hörte ich, dass es Frauen und Männer waren aber ich wusste nicht wer eine Frau war und wer ein Mann war. Und ich wusste nicht, welcher mein Vater war. Ich starrte sie alle an und begann in meiner Hilflosigkeit zu weinen.
„Papa, wo bist du,“ weinte ich, sah mich um und ich spürte wieder seine Hand. Nun sah ich diese seine Hand und ich sah Papa zum ersten Mal in meinem Leben. Kurz darauf kam meine Mutter und ich sah meine Mutter zum ersten Male. Wie fremd sie mir ohne ihre Stimmen waren. Sie waren plötzlich die Menschen, die ohne ihre Stimmen für mich nie existiert haben. Ich musste sie zusammenfügen. Körper und Stimme zu einer Einheit machen. Die Stimmen meiner Eltern hatten jetzt einen Körper. Ich hatte nie eine Vorstellung von meinen Eltern, nur ihre Stimmen kannte ich, obwohl ich ihnen ja ständig nah war, von ihnen getragen, und gestreichelt wurde. Unterscheiden konnte ich sie auch an ihrem Hautgeruch.
Es war so seltsam, aus meiner Dunkelheit ins Licht zu kommen. Ich wollte die Augen nicht mehr schließen, weil ich Angst davor hatte, mein Licht wieder zu verlieren. Meine Eltern ließen immer eine kleine Lampe in meinem Zimmer brennen und die Türen waren alle offen.
Ach, meine liebe Renate. Nun lebe ich mit meinen beiden Katzen in meiner wunderschönen Wohnung. Ich habe eine gut bezahlte Arbeitsstelle. Ach, was sage ich denn, ich arbeite von meiner Wohnung aus. Da ich das Lesen und Schreiben erst als Erwachsene erlernen konnte, wählte ich mir einen Beruf, den ich auch mit fehlerhaftem Schreiben und Lesen durchführen kann. Ich beziehe sehr kunstvoll wunderschöne Lampenschirme, mit den schönsten Seidenstoffen, in den herrlichsten Farben. Ja, ich sitze hier an meinem Tischchen am Fenster und das ist mein Arbeitsbereich. Meine Eltern kommen täglich gegen drei Uhr zum Tee und Gebäck. Mein Leben ist herrlich und ich bin glücklich. Vielleicht, wenn das Leben es so will, treffe ich eines Tages einen lieben Menschen einen wie Walter, der mit mir die restlichen Jahre teilen möchte.
Aber nun zu dir, meine geliebte Freundin. Ich würde dir gerne, und das ist mein absoluter Ernst, ich würde dir gerne eines meiner gesunden Augen abgeben. Nun, meine Augen sind braun, und welche Farbe haben deine Augen? Falls du blaue Augen hast, würde es dich stören? Mich nicht. Ich sprach schon mit meinem Augenarzt der mich zwar für verrückt erklärt, aber sagte, es sei machbar, denn meine Augen sind gesund. Ich lasse dir Zeit es zu überdenken. Wie sagt man, geteiltes Leid ist halbes Leid.
In Liebe, deine Dore
Es ergab sich, dass Renates Augenoperation an genau dem gleichen Datum durchgeführt wurde, an welchen sie vor Jahren ihren Unfall erlitten hatte und ihr Augenlicht verlor. Hier lagen die beiden Frauen, im gleichen Operationssaal von verschiedenen Ärzten und Schwestern umgeben, behandelt und gepflegt.
Dore bekam ein Glasauge eingesetzt, dass von ihrem eigenen nicht zu unterscheiden war. Man hatte sogar die Augenmuskel so präzise befestigen können, dass sich beide Augen gleichzeitig in die gleiche Richtungen bewegen.
Renate hat jetzt ein braunes Auge und ein blaues Auge aber sie kann wieder sehen. Sie ist aus ihrer endlosen Dunkelheit gerettet worden. Als sich die beiden Frauen ansahen, blieben alle Worte unausgesprochen. Ihre Blicke verfingen sich und glitten in die Wortlosigkeit. Dann schlossen sie die Augen, weil die Dunkelheit plötzlich von innen her erhellt war. Sie hörten Walters Stimme im Raum und keine von beiden wagte sich ihn anzusehen. Erst als er Renates Hand nahm, öffnete sie die Augen und strahlte ihn mit einem blauen Auge und einem braunen Auge an.
„Liebling, ich kann dich sehen“, hauchte sie vor Glück und drückte ihm sanft die linke Hand. Walter starrte mit Entsetzen auf das braune Auge. Das war alles was er sah. Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben und Grauen überkam ihn. Seine Frau die er so liebt, die er mit so viel Hingabe gepflegt hat, sieht ihn nun mit zwei verschiedenen Augen an. Nein, es war noch schlimmer. Es war Dore die in ansah, denn Renates Auge war ja noch blind. Seine Hände wurden feucht, er öffnete seinen oberen Knopf am Hemd. Walter ließ ihre Hand los und verließ das Krankenzimmer, ohne sich umzudrehen, ohne sich bei Dore zu bedanken, ohne sie zu grüßen, ohne sich der Größe dieser beiden Frauen bewusst zu sein. Er sah nur ein braunes Auge und ein blaues Auge. Er war mit Blindheit geschlagen ohne je sein Augenlicht verloren zu haben.
Walter verließ noch am gleichen Tag die Stadt. Er nahm nur einen Koffer mit Wäsche, Hosen, Hemden und Socken. Er besuchte seinen Bruder in den Vereinigten Staaten und dort blieb er.
Dore zog bei Renate in das hübsche Haus ein. Auch sie liebte die Birken im Garten und lies gerne ihre feinfühligen Fingerspitzen über die sanfte Rinde der Bäume gleiten. Der Erker im Wohnzimmer das zum Garten hin lag, diente den beiden Frauen um ihre Lampenschirme mit den feinsten Seidenstoffen in leuchtenden Farben zu beziehen. Sie lieben die gleiche Musik, die gleichen Vorlesungen und Veranstaltungen. Sie lachen gerne und reden noch ab und zu über Walter, den blinden Blindenführer.