Kurzgeschichte
Begegnung

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"Begegnung"
Veröffentlicht am 12. November 2010, 8 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Rainer Güllich, Jahrgang 1954, lebt in Marburg/Hessen. Als begeisterter Leser schon ewig von dem Wunsch getrieben selbst zu schreiben, nahm er an einem Kurzkrimiwettbewerb teil, der im Rahmen des 1. Marburger Krimifestivals stattfand. Er kam auf einen der vorderen Plätze und sein Kurzkrimi ?Hass? wurde in der regionalen Presse veröffentlicht. Dadurch motiviert belegte er seinen ersten Schreibkurs in kreativem Schreiben. Weitere schlossen sich an ...
Begegnung

Begegnung

Begegnung

Paul Heister ging langsamen Schrittes die Mahlerstraße entlang. Er kam gerade aus dem Discounter. Hier kaufte er regelmäßig ein. Mit seiner kleinen Rente konnte er keine großen Sprünge machen, so kam ihm das Angebot des Billig-Discounters sehr zupass.

Dumm war nur, dass der Einkaufsmarkt in der Innenstadt lag. Paul wohnte in einem der Randbezirke, er musste um einzukaufen den Linienbus nehmen. War zeitaufwändig.

Kosten entstanden ihm keine für das Bus fahren. Er hatte einen Schwerbeschädigtenausweis, durch seine Gehbehinderung konnte er öffentliche Verkehrsmittel umsonst benutzen.

Vor 10 Jahren hatte ihn ein Autofahrer beim Überqueren eines Fußgängerüberweges angefahren. Einen Tag vorher war er gerade 65 Jahre alt geworden. Paul hatte einen komplizierten Kniegelenksbruch erlitten. Trotz einiger Operationen und anschließender Heilbehandlungsverfahren war die Beweglichkeit seines rechten Knies eingeschränkt und er bekam bei längerem Gehen Schmerzen. Seitdem er einen Spazierstock benutzte, konnte er jedoch auch weitere Strecken ohne größere Probleme bewältigen.

Er strich eine Strähne seines weißen Haares aus der Stirn und fuhr sich mit der rechten Hand über sein, von tiefen Falten, gefurchtes Gesicht.

Als er um die Ecke, in die Bergstraße, einbog, sah er vor sich die Bushaltestelle. Hier stieg er immer in den Bus nach Hause ein. Er konnte zwar eine Haltestelle früher einsteigen, doch war dort keine Bank. Hier konnte er in Ruhe auf den Bus warten. Die Busse fuhren nur jede halbe Stunde, da war es angenehm, wenn er sitzend warten konnte. Wenn er lange stehen musste schmerzte sein Knie zu sehr.

Manchmal, meist wenn schönes Wetter war, ließ er den ankommenden Bus auch einfach weiterfahren und wartete auf den nächsten. Es war angenehm hier zu sitzen und die Leute, die geschäftig die Straße rauf und runter gingen, zu beobachten. Er malte sich aus was den ein oder anderen wohl beschäftigte, ob die Frau in dem blauen Kleid nach Hause musste, um ihrem heimkehrenden Mann das Essen zu bereiten, oder ob sie allein erziehend war und eiligst in den Kinderhort musste, um ihr kleinstes Kind dort abzuholen. Der Mann in dem dunklen Anzug konnte ein Bankangestellter sein, der aus der Mittagspause an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte oder ein Vertreter, der gerade ein gutes Geschäft abgeschlossen hatte.

So vertrieb er sich die Zeit.

Seit 5 Jahren lebte Paul Heister allein in der kleinen Mietwohnung, die er vorher zusammen mit seiner Frau bewohnt hatte. Sie war vor 5 Jahren an einer Krebserkrankung gestorben. Sie hatte sehr gelitten. Eine Zeit an die er nicht gerne dachte.

Es fiel ihm anfangs schwer sein Leben allein zu bestreiten. Ihm war vor dem Tod seiner Frau nicht klar gewesen wie sehr sie sich eigentlich ergänzt hatten. Nun musste er ihren Part mit übernehmen. Es war ihm gelungen, doch hatte es seine Zeit gebraucht.

 

Er war an der Haltestelle angekommen. Eine junge Frau saß mit zwei Kindern zusammen auf der Bank, einem ungefähr achtjährigem Mädchen und einem kleineren Jungen. Der mochte ungefähr 6 Jahre alt sein.

Paul stellte seine Plastiktüte auf die Bank und machte Anstalten sich hinzusetzen, als die junge Frau den Jungen ansprach: „Mach mal ein bisschen Platz, damit sich der Herr hinsetzen kann. Du brauchst dich nicht so breit machen.“

Der Junge rutschte etwas zur Seite und Paul nahm Platz. Der Junge schaute zu ihm auf. Er hatte braune Augen, ein pausbäckiges Gesicht und eine kleine Nase. Seine dunkelblonden Haare fielen ihm in die Stirn.

„Warst du einkaufen?“, fragte der Junge. „Hast du was Süßes für mich?“

„Jetzt stör mal den Herrn nicht“, mischte sich die Frau ein und an Paul Heister gewandt sagte sie:„Mein Sohn ist leider etwas vorwitzig. Ich hoffe Sie nehmen es nicht übel?“

„Nein, das ist für mich kein Problem.“ Er schaute die Frau an. Sie hatte ihr dunkles Haar zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden, trug eine Hornbrille, die ihr ein strenges Aussehen verlieh. Sie war jünger wie man auf den ersten Blick meinte.

Sich zu dem Jungen neigend meinte er: „Ich will mal in meiner Tasche kucken ob da was Süßes drin ist. Wir müssen deiner Schwester aber auch was abgeben. Es ist doch deine Schwester?“

„Jaaa, schon. Aber die brauch nix Süßes. Die will nämlich immer bestimmen.“

Er schaute seine Schwester grimmig an.

„Kein Grund ihr nichts abzugeben“, lachte Paul Heister. „Wie heißt ihr beide denn?“

Jetzt meldete sich das Mädchen zu Wort. Sie hatte dunkelblondes, schulterlanges Haar, hellgrüne Augen. Am Kinn hatte sie eine halbmondförmige Narbe.

„Ich heiße Janina und mein Bruder heißt Max. Wir nennen ihn aber Mäxchen.“

 

Paul hatte während des Gesprächs in seiner Tasche gekramt und hatte eine Tafel Schokolade herausgeholt. Er aß für sein Leben gerne Schokolade. Eine Tafel in der Woche war seine Ration. Er konnte sich eine neue holen oder die Woche mal auf Schokolade verzichten.

Die Schokolade hochhaltend und den Blick auf die Frau gerichtet sagte er: „Ich darf doch…?“

Die Frau nickte. Paul brach die Schokolade in der Mitte durch und gab jedem der beiden Kinder eine Hälfte.

Zu den Kindern gewandt sagte er: „Lasst euch die Schokolade schmecken. Aber versprecht mir eines … versucht euch zu vertragen.“

Max schaute schon etwas friedlicher drein.

„Na ja“, sagte er, „versuchen geht ja. Ich versprech’s.“

Janina sagte: „Wir vertragen uns doch soundso immer wieder. Er ist doch mein Bruder.“

Paul sah ihr in die Augen.

„Ich verstehe, Janina. Das ist schön.“

Der Bus kam. Die Linie 7. Nicht seine Linie.

Die Frau stand auf. „Los kommt, Kinder. Unser Bus.“ Und zu Paul gewandt sagte sie: „Vielen Dank für die Schokolade. Auf Wiedersehen.“

Die beiden Kinder verschwanden im Bus.

„Machs gut, Opa!“ riefen sie und winkten Paul Heister zu. Paul lächelte erfreut. Eine schöne Begegnung, dachte er.

Lebenswert.

Ein Wort, das lange in ihm nachhallte …

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Hörbuch

Über den Autor

Epilog
Rainer Güllich, Jahrgang 1954, lebt in Marburg/Hessen. Als begeisterter Leser schon ewig von dem Wunsch getrieben selbst zu schreiben, nahm er an einem Kurzkrimiwettbewerb teil, der im Rahmen des 1. Marburger Krimifestivals stattfand. Er kam auf einen der vorderen Plätze und sein Kurzkrimi ?Hass? wurde in der regionalen Presse veröffentlicht. Dadurch motiviert belegte er seinen ersten Schreibkurs in kreativem Schreiben. Weitere schlossen sich an und als Folge davon erschienen in kurzer Zeit seine beiden ersten Krimianthologien. Der Kriminalroman ?Unter Druck - Ein Marburg Krimi? folgte.

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Epilog Re: -
Zitat: (Original von littleute am 15.11.2010 - 08:50 Uhr) Eine berührende Geschichte, mitten aus dem Leben. Die Vereinsamung wird schön geschildert durchbrochen, menschen kommen ins Gespräch...

einfach wundervoll
Liebe Grüße
littleute (Ute)


Liebe Ute,
es freut mich wenn dir meine Geschichte gefällt.
Liebe Grüße
Rainer
Vor langer Zeit - Antworten
littleute Eine berührende Geschichte, mitten aus dem Leben. Die Vereinsamung wird schön geschildert durchbrochen, menschen kommen ins Gespräch...

einfach wundervoll
Liebe Grüße
littleute (Ute)
Vor langer Zeit - Antworten
Epilog Re: Wer von solchen Begegnungen ein Stück Dankbarkeit -
Zitat: (Original von UteSchuster am 12.11.2010 - 22:16 Uhr) mitnimmt, der kann sich glücklich schätzen.

Eigentlich ist nichts passiert, aber doch haben sich 4 Herzen einander geöffnet. Schön und schlicht und deshalb sehr berührend.

Liebe Grüße deine Ute


Liebe Ute,
ich finde es schön wenn dich meine Geschichte berührt hat.
Schönes WE
Rainer
Vor langer Zeit - Antworten
Epilog Re: Es ist ... -
Zitat: (Original von Gunda am 12.11.2010 - 19:55 Uhr) ... wunderbar, wenn man in der Lage ist, solche Begegnungen als die kleinen Freuden des Lebens auszukosten. Eine schöne, ruhige Geschichte, Rainer.

Lieben Gruß
Gunda


Liebe Gunda,
es freut mich, dass dir meine kleine Geschichte gefällt.
Liebe Grüße
Rainer
Vor langer Zeit - Antworten
UteSchuster Wer von solchen Begegnungen ein Stück Dankbarkeit - mitnimmt, der kann sich glücklich schätzen.

Eigentlich ist nichts passiert, aber doch haben sich 4 Herzen einander geöffnet. Schön und schlicht und deshalb sehr berührend.

Liebe Grüße deine Ute
Vor langer Zeit - Antworten
Gunda Es ist ... - ... wunderbar, wenn man in der Lage ist, solche Begegnungen als die kleinen Freuden des Lebens auszukosten. Eine schöne, ruhige Geschichte, Rainer.

Lieben Gruß
Gunda
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