Kurzgeschichte
Regenwetter

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"Regenwetter"
Veröffentlicht am 02. November 2010, 6 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Regenwetter

Regenwetter

Dröhnen hallte durch den dunklen Raum, die Decke bröselte unter den gewaltigen Erschütterungen, der Geruch von Kot und Urin vermischt mit Angstschweiß lag in der Luft.

Wielange sie nun schon hier saßen, wusste er nicht. Von irgendwo her war ein leises weinen zu hören. Erst zaghaft, und dann immer herzzerreissender schluchzte da jemand in der Dunkelheit.
"Pssscht!", eine barsche Stimme liess das Heulen verstummen. "Sie werden dich noch hören und dann sind wir alle dran!"
Er konnte sich nicht vorstellen, womit sie dran sein würden, aber er wusste, dass die Erwachsenen seit Monaten oft solche Dinge sagten.
Monate... Das es nur Monate waren, hatte er vor ein paar Tagen von einem älteren Jungen aufgeschnappt, er selbst hatte schon lange den Überblick verloren, wie lang sich die ganze Sache schon hinzog!
Aus Sekunden waren Stunden geworden, aus Minuten Tage.
Er konnte sich schon garnicht mehr daran erinnern, wie es vor den Bombardierungen gewesen war.

Im war so, als sei seine Seele, sein Geist in einer Art Marionette gefangen, zu keiner Empfindung mehr fähig. Ledigliche Befehle wurden mechanisch, ja fast automatisch ausgeführt.
Sobald der Fliegeralarm durch die Straßen schallte, bewegte sich sein Körper zu irgendeinem Kellerraum. Getreten und geschubst von panischen Menschen, aber er empfand nichts.

Das draußen der penetrante Brandgeruch sich mit dem Geruch von verwesendem Fleisch mischte, war ihm gleichgültig. Auch die Ratten, die an herumliegenden Leichenteilen zerrten, störten ihn nicht.

Seine Mutter hatte ihm schon bei einem der ersten Angriffe eingeschärft, ein "guter Junge" zu sein, der still ist, nicht weint und auf die Erwachsenen hört.
In seinem Kopf kann er immer noch ihre Stimme hören, und auch wie sich ihr Satz in einem Aufschrei verliert, als sie von einem Trümmerteil am Kopf getroffen wird.
Blut fliesst ihr aus den Ohren, aus der Nase und aus dem Mund. Aber er weint nicht, er hat es ihr versprochen. Ohne eine Regung sieht er seiner Mutter beim Sterben zu.
Nun hatte auch sie ihn verlassen. Sein Vater und sein Bruder waren an der Front und von ihnen hatten sie schon lange vor den Angriffen nichts mehr gehört. Aber er blieb stark, er weinte nicht, er war ein guter Junge.

Da war es wieder, das leise Schluchzen. Vorsichtig kroch er durch die Menschengruppe, die sich in Panik auf dem Boden kauerte. Er robbte sich durch die Pfützen von Urin, bis er schliesslich unmittelbar vor dem Erzeuger der Schluchzer innehielt.

Vorsichtig griff eine kleine Hand nach seiner, umfasste sie, drückte sie vorsichtig. Plötzlich wurde ihm komisch ums Herz. Er konnte dieses Gefühl nicht zuordnen, ihm war es, als müsse seine Brust platzen.

"Du bist ein seltsamer Junge!" Er erschrak.
"Warum?", mehr brachte er nicht herraus. " Ich habe dich schon ein paar mal gesehen, du siehst nett aus, aber deine Augen machen mir Angst."
"Meine Augen? Was ist mit ihnen?", automatisch griff er sich ins Gesicht, konnte aber nichts aussergewöhnliches feststellen.
"Sie sind tot. Ich habe schonmal solche Augen gesehen, bei meinem Großvater. Weisst du, er war im 1. Weltkrieg an der Front und jedes Mal wenn ich mich an ihn erinnere, sehe ich seine toten Augen vor mir."
Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.
"Meine Mutter hat immer gesagt, dass es hilft zu weinen. Tränen waschen den Schmerz weg, wie Regen, der auch die Straßen reinigt."
Die Gedanken in seinem Kopf rasten, noch bevor er es wirklich realisieren konnte, umschlossen ihn ihre kleinen, dünnen Arme seinen Körper.

In dem Moment, als seine erste Träne sich ihren Weg über seine Wangen suchte, war der Schmerz in seiner Brust verschwunden...

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Hörbuch

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Jubjub

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NORIS Tränen - .....sind in einer solchen Situation schwer.....ein berührender Text.....und viel Mut, eine solche Geschichte zu schreiben......meine Achtung......

Lieben Gruß
Heidemarie
Besuch mal http://esironasbuecherzauber.npage.de/ Ich würde mich freuen!
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