Yannick lebt. Yannick hat Freunde und Familie. Doch seine Computersucht ändert alles.
Früher hätte er eingegriffen. Jetzt stand er am Rand. Sah zu, wie sie den Jungen vor sich bis hin zur Bewusstlosigkeit schlugen und kämpfte mit den aufkommenden Gefühlen, welche allesamt nichts mit dem sich vor ihm abspielenden Szenario zu tun hatten. Das Wimmern des anderen hatte an Bedeutung verloren. Schmerzensschreie ihre Wirkung. Yannick war taub für sie, blind für die allgegenwärtige Realität, welche sich so unmittelbar vor ihm abspielte, dass er darüber gestolpert wäre, hätte er nur einen einzigen Schritt gewagt. Doch Yannick tat keinen Schritt. Verharrte stattdessen stumm an dem verblassten Bushalteschild, die Hände in die ausgebeulten Taschen seines Sweatshirts vergraben, die sturmgrauen Augen auf zerkratzte und vollgeschmierte Plexiglasscheiben gerichtet. Tanja liebt Markus. Darunter ein Herz. Ob sie umfallen würden, wenn er dagegen trat? Einfach unter dem Druck zusammenbrechen würden? Er wusste es nicht, konnte keinen klaren Gedanken fassen, war an einem anderen Ort. Nur noch zwei Minuten, dann würde er im Bus sitzen. Weitere 15 Minuten, dann würde er sein Zuhause erreicht haben. Keine störenden Geräusche von Verkehrsmitteln und Mitmenschen, die im Grunde genommen schon lange nicht mehr störten. Es war die Gewohnheit von 14 Jahren, die in Yannick das Widerstreben gegen den Lärm seiner Außenwelt weckte. Ein Phantomgefühl, nichts weiter. Endlich kam der Bus. Die Jugendlichen waren längst verschwunden, die Stille wurde durch das laute Rasseln des Motors durchbrochen. Yannick bemerkte es nur am Rande, stieg ein, ließ sich auf einen noch freien Platz fallen. Lehnte seine Schläfe gegen das kühle Glas. Für einen Wimpernschlag zuckte er zusammen. Einfach, weil etwas in ihm sagte, dass dies die richtige Reaktion sei. Nicht, weil er bewusst so fühlte. Denn das hatte er schon lange nicht mehr getan.
Damals war alles anderes gewesen.
War Yannick anderes gewesen.
Und mit ihm seine Familie, doch die Veränderungen des damals 13jährigen gingen auch an seiner Familie nicht spurlos vorbei.
Nicht plötzlich. Wie ein Virus, der sich durch das System fraß. Erst heimlich, dann offensichtlich, wenn der Schaden irreparabel war. Oder zumindest so schien.
Yannick hatte Fußball gespielt, an die Wände seines Zimmers Poster seiner Idole gepinnt. Niemand wusste, wann sie verschwunden waren, doch irgendwann waren die Wände leer gewesen. Und auch seine Leidenschaft für den Sport war aufgebraucht.
Abgelöst durch ein harmloses Weihnachtsgeschenk, welches auch Tobi und Jan besaßen. Johanna und Lisa. Yannick hatte gebettelt und argumentiert. Und schlussendlich seinen Willen bekommen.
Man wollte dem Jungen ja nichts vorenthalten, ermöglichen, mit zu reden. Informationen zu sammeln und sich besser für Arbeiten in der Schule vorzubereiten.
Am Weihnachtsabend im Jahre 2006 hielt Yannicks erster Computer Einzug. Nichts Besonderes. Ein großer, summender Staubfänger, der in seinem ersten Jahr keinen regen Zuspruch fand.
Die Euphorie war kurzweilig, Tobi und Jan, Johanna und Lisa schon bald abgeschrieben, auch wenn ersteres ein Jahr später wieder aufleben sollte.
Damals war alles in Ordnung gewesen.
Yannick ein normaler Junge, nicht anders als andere.
Seine Familie ebenfalls. Durchschnitt.
In einem durchschnittlichen Zweifamilienhaus in einem durchschnittlichen Stadtteil unweit Wiesbadens.
Keiner konnte damals ahnen, dass Yannick nicht ganz so durchschnittlich war. Und es auch sein Tod nicht sein würde.
Es gab viele Dinge, die Yannick hasste.
Hochgezogene Rollladen war eines von ihnen.
Innerhalb weniger Sekunden brannte er. Vor Wut. Innerlich.
Mit einem lauten Krachen landete seine Schultasche an der ihm gegenüber liegenden Wand, mit dem Fuß trat er gegen den Türrahmen. Der Schmerz tat gut, kitzelte ihn.
Dann stürmte er aus seinem Zimmer, hinein in die Küche.
Er wartete nicht ab, als seine Mutter den Mund öffnete, um etwas zu sagen, fasste sie grob am Kragen ihrer säuberlich gebügelten Bluse, welche so perfekt in das saubere Image seiner Familie passte.
Yannick vergaß vieles. Unwichtige Tatsachen fanden keinen Platz in seinem überfüllten Gehirn. Doch die Einstellung seiner Eltern war etwas, das sich einfach ungefragt einbrannte.
Wie so vieles.
Ungebeten und äußerst störend.
Er wollte sie anschreien. Doch er konnte nicht.
Schon lange waren ihm die Worte abhanden gekommen, die seine Erzeuger auch nur im entferntesten Sinne beschrieben hätten.
Deswegen schüttelte er sie. Einfach, weil er der Hilflosigkeit ihr gegenüber entfliehen wollte.
Nur leicht. Nicht zu sehr.
Für die Angst, die in den Augen seiner Mutter flackerte, fehlte ihm dennoch jegliches Verständnis.
Wenn Yannick wütend war, dann nur für eine kurze Zeit. Meistens.
So auch jetzt.
Innerhalb eines Sekundenbruchteils ließ er seine Hände wieder sinken, strich über die Falten, die seine Hände auf dem weißen Stoff hinterlassen hatten. Über ihr seidiges, durcheinander geratenes Haar. Trat einen Schritt zurück.
Sein Blick glitt suchend über das Gesicht der Frau vor sich. Wurde jedoch nicht fündig.
Er wusste nicht mehr, was genau er gesucht hatte, wandte sich verwirrt um und verließ die Küche. Betrat sein Zimmer. Ließ die Rollladen wieder in ihren gewohnten Zustand gleiten.
Jede seiner Bewegungen war eine eingespielte Routine, das Hochfahren des Laptops eine unterbewusste Handlung, die er nicht zu steuern brauchte.
Die Dunkelheit um ihn herum fühlte sich so viel besser an. Sonnelicht verwandelte den Bildschirm nur in einen Spiegel.
Und sich selbst zu sehen war etwas, was Yannick schon seit langem nicht mehr ertrug.