Romane & Erzählungen
Verlorene Seelen

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"Verlorene Seelen"
Veröffentlicht am 28. August 2010, 14 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Verlorene Seelen

Verlorene Seelen

Als das Telefon klingelte, erschrak Gerd Weiss so sehr, dass das halbe Brötchen, welches dick mit Marmelade bestrichen war, aus seiner Hand glitt und mit der beschmierten Seite auf seiner Hose landete. Doch der Schreck des Klingelns setzte ihm derart zu, dass ihm dieses Missgeschick nicht den leisesten Fluch entlockte. Er klaubte die Brötchenhälfte von seiner Hose und eilte zum Telefon. Sein Atem ging hastig und er verzog sein Gesicht zu einer flehentlichen Grimasse, als er zum Hörer griff.

"Weiss", sagte er. Die Betonung seines Namens drückte aus, was er empfand: Furcht. Kalte, nackte Furcht.

Niemand antwortete ihm, lediglich ein leises statisches Rauschen drang an seine Ohren und, aber das mochte genauso gut eine Täuschung seiner Sinne sein, ein Schnaufer der Person am anderen Ende der Leitung. "Hallo? Wer ist denn dort?"

Stille. Seine Hand umschloss das Telefon so heftig, dass die Ummantelung aus billigem Plastik knirschte. Die Furcht in ihm steigerte sich zu Panik, als ihm dämmerte, dass seine Befürchtung nun Wahrheit zu werden drohte. Alles vorbei, alles verloren! Gedanken schossen durch seinen Schädel, ungezügelt und düster und so scharf wie ein Rasiermesser.

Er legte auf und verharrte für eine Weile mit geschlossenen Augen, als wäre er dadurch in der Lage, die Welt mit all ihren Problemen auszublenden.

Plastik knirschte. Die Furcht in ihm steigerte sich zu Panik, als ihm dämmerte, dass seine Befürchtung nun Wahrheit zu werden drohte. Alles vorbei, alles verloren! Gedanken schossen durch seinen Schädel, ungezügelt und düster und so scharf wie ein Rasiermesser.

Er legte auf und verharrte für eine Weile mit geschlossenen Augen, als wäre er dadurch in der Lage, die Welt mit all ihren Problemen auszublenden.

"Wer war es denn, Schatz?", rief Astrid aus der Küche zu ihm hinüber.

"Niemand", antwortete Gerd Weiss und öffnete seine Augen zu schmalen Schlitzen. "Falsch verbunden."

"Ist mit dir alles in Ordnung?"

Schrill antwortete er: "Was meinst du?

"Ich meine nichts, Schatz." Astrid erschien auf der Schwelle der Küchentür, ein Geschirrtuch in ihrer Hand. "Ich frage nur." Sie betrachtete

ihn prüfend und Gerd war froh, dass er im Halbschatten stand, sodass der Schreck selbst für seine Frau, die eine wahre Expertin im Aufspüren von Kummer und Sorgen war, nicht sofort ersichtlich war.

"Mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung. Ich fühle mich nur ein wenig müde."

Sie lächelte ihn strahlend an. "Ja, es war ein langer Tag. Möchtest du einen Tee?"

Er winkte ab. "Nein, vielen Dank." Er war erleichtert, dass Astrid wieder die Küche betrat. Mit einer fahrigen Geste strich er über seine Stirn

Was bist du für ein Narr!, dachte er, während er wieder in dem Sessel Platz nahm und mit gequältem Blick auf den Fernseher starrte, ohne etwas von dem Programm wahrzunehmen. Seit gestern vermisste er sein Handy, entweder hatte er es verloren oder er war Opfer eines Diebstahls geworden. Vielleicht aus Leichtsinn oder Bequemlichkeit

 

hatte er es nicht mit einem Sicherheitscode geschützt, somit hatte der Finder oder Dieb keinerlei Mühe, sich einen Überblick über die abgespeicherten Nachrichten zu verschaffen. Und dort gab es einiges zu lesen, das einen Unbefugten in helle Aufregung versetzen musste: über Spielschulden, die Weiss plagten, über ungeduldige Schuldner, die ihn belästigten und Geld einforderten, und über einen Auftrag, den Gerd Weiss an einen Mann oder eine Frau namens M vergeben hatte.

Trotz des unleugbar perfiden Charakters war der Plan simpel und sicher: ein Kleinkind hätte ihn ohne Mühe aushecken können.

Ein Geräusch schreckte Gerd Weiss aus seinen Gedanken auf. Als es sich wiederholte, stellte er fest, dass es von seinen knirschenden Zähnen herrührte. Sein ganzes Gesicht schmerzte vor Anspannung.

Der Plan sah vor, dass seine Frau Opfer eines Autounfalls wurde. Der Fahrer des Wagens sollte sie überfahren und  anschließend Fahrerflucht begehen. Der tragische Unfall würde Gerd am Ende ein kleines Vermögen aus Astrids Lebensversicherung einbringen; genug allemal, um seine Schuldner zu besänftigen und den verbleibenden Rest als Startkapital für ein besseres Lebens zu verwenden.

 

Fahrerflucht begehen. Der tragische Unfall würde Gerd am Ende ein kleines Vermögen aus Astrids Lebensversicherung einbringen; genug allemal, um seine Schuldner zu besänftigen und den verbleibenden Rest als Startkapital für ein besseres Lebens zu verwenden.

Der Täter – der Gedanke, dass es sich um eine Frau handeln konnte, war aus Gerds Sicht abwegig – wartete bereits in der Nähe ihres Haus auf das per Kurznachricht vereinbarte Startsignal: Gerd Weiss sollte die Nummer von M wählen und es dreimal klingeln lassen. Sobald Astrid das Haus verließ, würde der Mörder sie überfahren und sich anschließend wie ein Phantom in Luft auflösen.

Selbstverständlich war dieser Plan nun hinfällig. Schlimmer noch: da Gerd es an jeglichem Sicherheitsdenken hatte vermissen lassen, gab es nun einen Mitwisser, der nun nach Belieben das tun konnte, was er für richtig hielt: die Polizei einschalten, Astrid warnen oder Gerd erpressen.

Warum hatte er ausgerechnet in dieser Angelegenheit dieses geradezu fahrlässige Verhalten an den Tag gelegt! Warum hatte sein Handy keinen Sicherheitscode, warum waren sämtliche Nachrichten auf der Karte gespeichert? Immer wieder: Warum? Obwohl er kein gläubiger Mann war, sann er für eine Weile darüber nach, ob höhere Mächte für sein Versagen verantwortlich sein konnten. Wie anders ließ es sich erklären, dass er, ansonsten ein ausgemachter Pedant, der nichts dem Zufall überließ, derart leichtfertig war?

 

oder Gerd erpressen.

Warum hatte er ausgerechnet in dieser Angelegenheit dieses geradezu fahrlässige Verhalten an den Tag gelegt! Warum hatte sein Handy keinen Sicherheitscode, warum waren sämtliche Nachrichten auf der Karte gespeichert? Immer wieder: Warum? Obwohl er kein gläubiger Mann war, sann er für eine Weile darüber nach, ob höhere Mächte für sein Versagen verantwortlich sein konnten. Wie anders ließ es sich erklären, dass er, ansonsten ein ausgemachter Pedant, der nichts dem Zufall überließ, derart leichtfertig war?

Aber all diese Überlegungen führten zu nichts. Vielleicht war es Schicksal oder ein Teil in ihm, der Astrid liebte und nicht umbringen wollte. Doch am Ende spielte das keine Rolle mehr; es gab nun einen Mitwisser, dem er hilflos ausgeliefert war.

Wie in Trance fuhr seine rechte Hand über die von der Marmelade klebrige Hose, doch er nahm das nicht wahr. Seine Augen starrten ins Nichts wie die eines Toten.

 

nahm das nicht wahr. Seine Augen starrten ins Nichts wie die eines Toten.

"Du gefällst mir gar nicht." Astrid war unbemerkt ins Wohnzimmer getreten und stand nun dicht neben ihm. Gerd zuckte wie unter einem Hieb zusammen und beinah wäre ihm ein Schrei entschlüpft. Aber dennoch spürte Astrid, dass etwas nicht in Ordnung war; dazu bedurfte es nicht ihrer untrüglichen Menschenkenntnis. Sein Blick, sein Verhalten, der saure Geruch der Angst an ihm: all das war Schuldbekenntnis genug.

Er nahm den wohlbekannten Duft ihres Körpers wahr und plötzlich durchströmte ihn die Gewissheit, wie sehr er sich verrannt hatte. Wie hatte er nur bis ins Detail planen können, Astrid des Geldes wegen zu töten? Machte es Sinn, sich ein Leben ohne sie vorzustellen? Wie elendig war diese ganze Situation, dachte er. Wie elendig diese verdammte Spielerei, die ihm sein ganzes Geld gekostet hatte. Hinzu kamen Schuldscheine, die er nun sehr bald

begleichen musste. Furcht einflößende Männer mit stark osteuropäischem Akzent hatten ihm dies mehrere Male mitgeteilt – beim letzten Mal mit unverhohlenen Drohungen und gezückten Messern. Der kalte Stahl der Klingen wenige Zenitmeter von seinen Augen entfernt war die schrecklichste Situation, die Gerd Weiss jemals erlebt hatte.

Er blickte zu Astrid hinauf, die eine Hand auf seine Schulter gelegt hatte und ihn mit ernstem Blick musterte. In ihren Augen, die so braun und unschuldig wie die eines Rehs waren, stand soviel Liebe und Güte, dass Gerd zu schluchzen begann und nach ihrer Hand griff.

"Sag mir doch endlich, was mit dir los ist", sagte sie und erwiderte die schmerzhafte Umklammerung seiner Hand. "Gerd, bitte! Du machst mir ja Angst!"

"Ich hab Mist gebaut", stammelte er hastig. Hörbar zog er die Nase hoch. "Ganz großen Mist." Seine Zunge war überfordert von der Flut der Worte, die sich in ihm stauten, sein Mund war wie ein verstopftes Nadelöhr, sein Verstand anspruchslos wie der eines Insekts. Er verhaspelte sich, begann von neuem, korrigierte oder verwarf ständig Passagen seines Geständnisses.

war wie ein verstopftes Nadelöhr, sein Verstand anspruchslos wie der eines Insekts. Er verhaspelte sich, begann von neuem, korrigierte oder verwarf ständig Passagen seines Geständnisses.

Sehr weit kam er nicht, denn Astrid unterbrach ihn schon bald. "Mein Gott, du bist ja vollkommen durcheinander. Komm doch erst einmal zur Ruhe."

Gerd schwieg aufgebracht, er wollte nicht zur Ruhe kommen, das ließen die Worte in ihm nicht zu. Sie versprühten ihr Gift und verpesteten seinen Leib und wollten raus, wollten gehört werden. 

Astrid reichte ihm ein Taschentuch und sagte: "Für deine Tränen."

Verblüfft stellte Gerd fest, dass er tatsächlich weinte. Und noch größer war seine Überraschung darüber, dass es ihm nicht peinlich war, vor seiner Frau Tränen zu vergießen.

Er beruhigte sich ein wenig, schluchzte und schniefte vor sich

 

Er beruhigte sich ein wenig, schluchzte und schniefte vor sich hin und genoss es, einen Moment lang ein argloses Opfer des Augenblicks zu sein. Seine Gedanken versiegten und mit ihnen ein wenig auch seine brodelnden Ängste.

Astrid hockte sich neben dem Sessel nieder und küsste ihn sacht auf die Wange. "Hör zu, mein lieber Schatz", hauchte sie, "was hältst du davon, wenn du einen kurzen Spaziergang machst, um wieder zu Sinnen zu kommen? In der Zwischenzeit mache ich uns eine Kleinigkeit zu essen und öffne eine Flasche Wein. Und wenn du wieder da bist, dann reden wir. Es wird dann einfacher für dich sein. Und für mich vermutlich auch", fügte sie nach kurzem Zögern mit genau jenem ironischen Unterton hinzu, für den Gerd sie so sehr bewunderte: Selbst wenn sie Kritik äußerte, tat sie das mit einem Lächeln in der Stimme.

Womöglich hatte sie auch diesmal Recht, dachte er: Ein paar Minuten an der frischen Luft

 

täten ihm gut. Mit der Schwerfälligkeit eines alten Mannes erhob er sich aus seinem Sessel und schlüpfte in Schuhe und Jacke. Astrid reichte ihm seine Mütze.

"Es ist kalt draußen."

"Ich liebe dich", sagte er, bevor Astrid die Tür hinter ihm schloss. Schon wieder rannen Tränen über sein Gesicht, aber er lächelte.

Astrid stand für eine Weile vor dem großen Fenster im Wohnzimmer und blickte auf das Dunkel des kalten Herbstabends. Es war still draußen, lediglich der Wind war zu hören, der unerbittlich die letzten Blätter von den Bäumen rupfte. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem Handy zu, das warm in ihrer Hand lag. Es hatte sich ausgezahlt, dass sie regelmäßig die Nachrichten las, die Gerd bekam oder sendete. Warum sie das tat, vermochte sie nicht zu sagen; das Misstrauen war wie ein zusätzliches Sinnesorgan in ihr, genauso ausgeprägt wie Sehen oder Schmecken. Gerd hatte ihr nie einen Anlass gegeben, ihn zu verdächtigen. Er betrog sie nicht mit einer anderen Frau, schrieb in seinen Kurznachrichten nie schlecht über sie, aber schließlich erfuhr sie von seinen Geldsorgen, dann von seinem makabren Plan. Ihr gelegentliches schlechtes Gewissen, das sie plagte, weil sie ihn ausspionierte, verpuffte kleinlaut.

 

betrog sie nicht mit einer anderen Frau, schrieb in seinen Kurznachrichten nie schlecht über sie, aber schließlich erfuhr sie von seinen Geldsorgen, dann von seinem makabren Plan. Ihr gelegentliches schlechtes Gewissen, das sie plagte, weil sie ihn ausspionierte, verpuffte kleinlaut.

Nachdem sie den Schock der furchtbaren Erkenntnis verdaut hatte, beschloss sie, Gerds Handy zu stehlen. Seine Angst, die ihn seither sichtlich peinigte, war nur eine kleine Entschädigung für sie.

Sie wählte die abgespeicherte Nummer, hörte es dreimal klingeln und unterbrach schließlich die Verbindung. Einige Sekunden später hörte sie einen Wagen am Haus vorbeifahren. Zwar war die Dunkelheit auf ihrer Seite und auch die Mütze, welche sie Gerd gereicht hatte, würde sicher verbergen, dass das Opfer keine blonde Mähne hatte. Aber dennoch befürchtete Astrid einen Moment lang, der Mörder würde seinen Irrtum erkennen und verschwinden, ohne den

 

 

ohne den Auftrag auszuführen.

Doch dann vernahm sie das erhoffte Geräusch: quietschende Reifen und, sehr leise, einen Schrei.

 

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