Biografien & Erinnerungen
Zu Leben gelernt

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"Zu Leben gelernt"
Veröffentlicht am 25. August 2010, 38 Seiten
Kategorie Biografien & Erinnerungen
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Zu Leben gelernt

Zu Leben gelernt

Beschreibung

Dies ist ein Stück meines Lebens, eigentlich der Teil, der mir am meisten geschadet hat, aber auch der, aus dem ich am meisten gewachsen bin.

Erste Seite und Danksagung

 „Früher sammelte ich Überraschungseierfiguren – heute sammele ich Erfahrungen und schöne Momente“

 

- Für Sascha -

„...far away this ship has taken me far away; far away from that memories of the people who care if I live or die...“ („Starlight“, MUSE)

 

Von damals bis heute

Ich stehe hier und blicke an mir herunter. Es ist ein schöner Anblick. Dass ich das einmal behaupten könnte, hätte ich nie gedacht. Denke ich einige Jahre zurück, dann hätte ich den Anblick mit „zu dick“ assoziiert. Heute bin ich fast 27 Jahre alt. Und, so lächerlich es klingen es mag, einigermaßen erwachsen. Von den täglichen kindlichen Verhaltensweisen einmal abgesehen, wie z.B. das Rumgekichere und -gealbere. In dieser Geschichte drehe ich nun an der Uhr der Zeit. Es gibt genügend Momente, besser gesagt, es gab sie, an die ich mich mehr oder weniger gut erinnere, die mir aber im Nachhinein erst klar wurden.

 

Es beginnt vor etwa 21 Jahren (anno 1989). Da wurde mein Bruder geboren. Ob damit die Katastrophe begann frage ich mich heute. Ehrlich gesagt, ich weiß die Antwort nicht. Vielleicht. Mein Bruder Marvin war (und ist es auch heute noch) ein Sonnenschein. Er hatte stets die Aufmerksamkeit der anderen Leute, er brauchte nichts dafür zu tun. Das begann bereits mit seiner Frühgeburt. Ab da wurde er bevorrechtigt behandelt, war er noch zu klein, um selbstständig zu leben. Den Sommer, in dem er geboren wurde, war ich mit Mama und Papa auf Pellworm. Und dann waren sie plötzlich weg, es musste alles schnell gehen, Mama kam nach Husum ins Krankenhaus, per Hubschrauber. Ich blieb bei Oma und Opa. An dem Tag habe ich mit Opa Ernst drei oder fünf Eis gegessen. Keiner wusste, wie es jetzt weitergehen sollte. Was mit mir passieren würde, wohin mit mir. Im Nachhinein verstehe ich, dass mein Bruder auch hätte sterben können. Trotzdem fühlte ich mich damals als „im Weg“, was machen die Erwachsenen für einen Wirbel? Himmel, ich war sechs Jahre alt! Weiter ging es, irgendwann kam er nach Hause, Marvin hier, Marvin da. Immer nur er, ständig musste er sich übergeben, er war und blieb das Sorgenkind. Es gibt nich so viele Fotos mit mir und ihm aus dieser Zeit. Ich traute mich nicht, ihn anzufassen, womöglich hätte ich ihn kaputt gemacht und dann? Auch war da immer Mama, die sich um ihn sorgte. Und ich, was war mit mir? Ich bekam wenig Aufmerksamkeit, wenn, dann nur, weil ich so grimmig dreinschaute. Toll. Ich war nie die Dauergrinserin, lächeln auf Bildern – ganz schwierig. Marvin hingegen war überall beliebt und soooo süß, mit seinen lustigen Mützen und Brillen und überhaupt. Dafür sorgte Mama schon. Aus mir wurde eine Eigenbrötlerin. Mein Schneckenhaus gehörte mir. Und für sämtliche Dinge wollte ich eine Belohnung. Die gab es auch von Mama. Gekaufte Liebe sozusagen, die die Mutterliebe jedoch nicht ersetzen kann. Niemals. Später ging es weiter. Bekam ich etwas nicht, war ich maulig. Heute würde man „zickig“ dazu sagen. Ja, das bin ich heute auch ganz gerne mal, aber dazu stehe ich auch. In der Schule war ich eine sehr gute Schülerin, sehr ehrgeizig. Manchmal zu strebsam. Irgendwann fing es an. In der 5. Klasse? In der 6.? Ich weiß es gar nicht so genau. In der 4. Klasse hatten einige Mädchen schon ihre Tage, das war eine „Attraktion“. Ich war neidisch, denn sie prahlten damit und mindestens fünf andere konnten nicht zu ihnen gehören. Auch auf Klassenreise gab es Situationen, in denen ich besonders eines wollte: Aufmerksamkeit. Gleichzeitig war es mir aber auch peinlich, wenn alle Augen auf mich gerichtet waren, hatte ich kein Selbstbewusstsein, um dazu zu stehen. Ich heulte um meinen Kater, als dieser weggelaufen war, obwohl dies auf Pellworm bei meiner Tante passiert war, das muss man sich mal vorstellen! Meine blonden Haare fand ich so toll und nutzte sie, um anzugeben.

Heute weiß ich den wirklichen Grund. Naja, irgendwann merkte ich, dass ich auch eine „ganz nette Figur“ hatte, ich war nämlich schlank. Und zwei Tage nach meinem zwölften Geburtstag bekam ich auch meine Tage. Das war mal wieder auf Pellworm in den Sommerferien. Hafengeburtstag, ich musste mal ganz dringend und dann das! Ich rief meine Cousine, sie meine Mutter. An das Gefühl, das mich in dem Moment beflügelte, erinnere ich mich noch genau. Weiche Knie hatte ich. Der einzige Kommentar meiner Mutter zu dem ganzen „Thema“: jetzt kannst du Kinder kriegen Ich begriff gar nichts, wie auch? Sie hielt es aber auch nicht für nötig, mich aufzuklären. Da stand ich jetzt mit dem Elend, was gleichzeitig die Erlaubnis war, die „Bravo“ zu lesen. Denn nun gehörte ich dazu. Mit meiner Cousine konnte ich reden. Ich fühlte mich gut, weiblich, einfach toll. Und die Wirkung musste ich auch ausprobieren. Bei den Jungs natürlich. Da war Roland. Den fand ich ganz toll. Bis ich sah, dass er noch ein Kind war und er irgendwann abreiste. Ich glaube, ich habe ihm sogar noch einen Brief geschrieben, aber nie eine Antwort erhalten. Es ging weiter, Take That trennten sich, die Schule begann. Mit dem Älterwerden wurde auch das Aussehen immer wichtiger. Ich achtete auf meine Figur, anfangs noch nicht so stark. Meine Freundin Marieke war weggezogen, aber mit meiner neuen besten Freundin Nadine ging das Leben weiter. Wir machten sehr viel Blödsinn. Z.B. wurde der Ladendetektiv bei C&A auf uns aufmerksam oder wir warfen Murmeln an Fensterscheiben. Das war lustig – für uns zumindest. Über die Geschichte bei C&A wurde bei uns zu Hause nicht gesprochen. Es gab keinen Ärger, nichts. Es wurde totgeschwiegen, das war ja auch viel bequemer. Mit Nadine traf ich mich sehr oft. Wir aßen dann Kuchen und schauten „Biolek“ oder „Aktenzeichen XY ungelöst“. Das war eine schöne Zeit. Einmal luden wir uns die drei coolsten Typen aus der Klasse ein, aber getanzt hat niemand. Und als sie einen PC hatte, habe ich geheult, weil ich auch einen haben wollte. Die Freundschaft mit ihr war schön, sie verlief sich aber mit der Zeit. Irgendwann fand sie Jungs toller als alles Andere, probierte aus, knutschte herum und lernte Rona kennen. Die war unanständig, kam aus einer zerrütteten Familie. Aber sie hatte Erfahrungen – positive wie negative. Nadine war von da an besser mit ihr befreundet und verbrachte viel Zeit mit ihr. Ich bin nicht ganz unschuldig, begann ich irgendwann unsere Verabredungen abzusagen. Aus abstrusen Gründen, die heute keinen Sinn mehr machen. Vielleicht wollte ich die „neue“ Nadine nicht, weil ich selber nicht so bin/war wie sie. Also stand ich wieder alleine da, von meinen Eltern erhielt ich keine Unterstützung. Nie wurde über Verhaltensweisen geredet. Mein Vater arbeitete den ganzen Tag, bekam also nicht viel mit von uns. Nur an den Wochenenden und abends war er zu hause. Manchmal sind wir im Sommer zusammen an die Ostsee gefahren oder haben nachmittags Tee getrunken, das war schön. Altmodisch aber schön. Leider hat meine Mutter immer alles erlaubt, und als ich älter war, entwickelte ich Ticks, z.B. wollte ich nicht mehr mit meinen Eltern essen, da ich das Geschmatze meines Vaters nicht ertrug (ertrage). Früher hatte es mich nicht gestört. Und Mama unterstützte dieses Verhalten. In unserer Familie lief so einiges schief, weil keiner wusste und weiß, wie es richtig ist. Es gab keine Regeln und Gesetze, alles war erlaubt, „mach wie du denkst. Du wirst es schon richtig machen“ hieß es stets. Aber wie soll ein 14-jähriges Mädchen wissen was richtig oder falsch ist? Irgendwann hörte ich auf, Fleisch zu essen. Egal, ob ich in der Pubertät war und bestimmte Nährstoffe brauchte.

Der Zwang begann. Und dann fing ich an, Kalorien zu zählen. Und Fett. Es durfte auf keinen Fall zu viel sein. Meine Mutter „half“ mir sogar, ich hatte eine ausführliche Kalorientabelle und schrieb sorgfältig auf. Mein Tag war ein Plan: zwei trockene Brötchen, Milch, Gemüse, etwas Süßes, trockene Brötchen, Obst. Alles. Das war noch viel! In der Schule aß ich nichts, wollte auch nie etwas von anderen abbekommen. Im Gegenteil, umso mehr ich nein sagte, umso besser ging es mir. Ein Klassenkamerad – Mehdi sein Name – wollte mich zum Essen zwingen. Später hat er mich oft geärgert. Ich wollte ihm mal einen Brief schreiben, weil ich ihm anfangs die Schuld für alles gab. Er war nicht schuld, er hat es nur ausgenutzt, dass ich kein Selbstbewusstsein hatte. Wo sollte das auch herkommen? Wenn man nie lernt, sich selber zu akzeptieren, sondern immer unzufrieden ist? Mit sich und der Welt? Wenn man immer versucht die fünf gerade zu biegen? Es geht nicht. Heute weiß ich auch das. Zurück zu Mehdi. Er war irgendwie toll, denn er konnte auch nett sein. Vor zwei Jahren habe ich ihm mal eine Mail über StudiVZ geschrieben, er war noch wie damals. Oh nein, ich entwickele mich bestimmt nicht zurück. Mehdi war mit Sezer befreundet, den fand ich auch toll. Überhaupt war ich permanent auf der Suche nach Liebe und erfuhr immer nur „normale“ Freundschaft oder Ablehnung. Das zweitere tat schon weh. Die Mauer baute sich immer weiter auf. Sie wurde auch immer höher. Zu meiner Mutter konnte ich auch nie gehen, es war ihr ja immer alles peinlich. Sex, Busen, ist dies und das normal? o.b.'s? Ist es normal, wenn meine Tage so stark sind? Fragen über Fragen, die ich lieber für mich behielt! Einmal fragte ich sie etwas und erfuhr eine knappe Antwort: ja. Toll! Auch hat sie mich nie in den Arm genommen oder gab es mal einen Kuss? Nein. Und heulen ging auch nicht, so etwas Peinliches. Wie alt bist du eigentlich? Gefühle passen nicht in das Leben. Stimmt nicht und deswegen sind sie so toll. Sie bestimmen es nämlich. Die tollsten Dinge im Leben sind nämlich keine materiellen Dinge. Das haben meine Eltern bis heute nicht verstanden. Dann war irgendwann Elternabend. Papa ging hin, kam wieder (Mama ging zu Marvin's Elternabenden, Rollenverteilung sozusagen). Ich lauschte, als er Mama erzählte, dass eine Frauenärztin bei uns war, um den Mädchen Frage und Antwort zu stehen. „WAS? Das hat sie gar nicht erzählt!“ Ha, frag dich mal warum. An eine andere Szene erinnere ich mich, wo mich ein Typ wegen meiner Brille ärgerte. Ja, sie war hässlich, aber damals fand ich sie schön. Ich bin dann heulend aus dem Klassenraum gerannt. Auch der restliche Stil war eher zum Verstecken geeignet. Jeans und Pullis, die über den Hintern gehen mussten. Den dicken Popo will keiner sehen! Nadine trennte sich irgendwann von der Einstellung, ich noch nicht Dann, in der 8. Klasse oder eher, war auf einmal Korosh in mich verliebt. Ich glaubte es nicht und wollte davon nichts wissen. Also ignorierte ich es, ich schämte mich für mich selber, wie sollte sich da jemand in mich verlieben? Nein, das ging nicht, und wenn doch: was ist Liebe? In Wirklichkeit war ich auch interessiert an ihm, aber das Gefühl ihn abzulehnen beschwor ich so lange herauf, bis es stärker war. Ich machte dicht, würde man heute sagen. Dann gab es noch einen Verliebten und danach weiß ich von keinem Jungen mehr, der mich liebte. Mit Marc redete ich gerne, er war aber auch der, der mich fragte, warum ich so oft wegschauen würde, wenn ich mit ihm sprach. Tja, warum wohl? Aus Unsicherheit. Und weiter ging es, ändern konnte ich das Verhalten nicht. Melden in der Stunden – ausgeschlossen, wozu auch?

Womöglich wäre ich rot geworden, weil ich etwas Falsches gesagt hätte. Hätte hätte hätte. Das bestimmte und bestimmt noch immer den Alltag den meiner Eltern. Immer nur Vorwürfe, wie man etwas hätte anders machen können, besser natürlich. Nur, wenn man nie etwas falsch macht, weiß man auch nicht, wie es besser zu machen geht. Lerne durch Fehler. Der Lehrer nannte mich „Sternchen“, warum auch immer. Mir war es peinlich und ob es mir geholfen hat, ist die andere Frage. Irgendwann änderte ich meinen Klamottenstil und Haarschnitt, von leger-gammelig zu figurbetont und kurzen Röcken und Bob. Es kam gut an, ich bekam Aufmerksamkeit. Und da sollte auch so bleiben. Einige Herren wollten plötzlich nach der Schule mit mir gehen – welch ein tolles Vorhaben, das ich leider ablehnen musste. Komm mir bloß nicht zu nahe. Ich zählte fleißig Kalorien, bloß nicht zunehmen. Einen Keks außerhalb der Norm? Nein danke. Das wären 80 kcal zusätzlich, nein, das geht nicht. Allein vom Kopf her schon gar nicht. Zu Hause war es auch nicht besser, Mama holte Marvin von der Schule ab, selbst als er schon in der 4. Klasse war. Ich bin den Weg oft alleine gelaufen. Dann gab es Mittagessen. Jeder bekam seine Extrawurst. Genau erinnere ich mich nicht mehr daran. Im Jahr 2000 begann ich meine Ausbildung. Es begannen Turteleien mit Mit-Azubis. Das war schön aber irgendwie stand ich mir immer selber im Weg, also wurde nichts Festeres daraus. Eine Internetbekanntschaft endete beinahe in einer Katastrophe. Er wollte aus Bayern vorbeikommen, damit er zu seinen sexuellen Erfüllungen kommen konnte. Mama hatte es erlaubt, meinte nur noch: „Vorher muss ich noch mit Daniela zum Arzt, sonst kommen noch kleine Danielas dabei raus.“ Haha, wie lächerlich. „Da war ich schon längst!“ „WAS? Wo denn? „Das geht dich mal gar nichts an.“ Tja, tut mir Leid Mama, aber wenn du es nicht für nötig hältst mit mir zum Gynäkologen zu gehen (aus Scham oder warum auch immer. Alleine schon DA, es wurde nie Frauenärztin oder was Anderes gesagt.), dann mache ich es eben alleine. Den Typen habe ich in letzter Minute von seinem Besuch abgehalten, mir war nicht wohl bei dem Ganzen. Besser so, er war doch etwas psycho wie sich hinterher herausstellte. Seitdem leide ich unter einer Namensallergie gegen „Michael“. Im selben Jahr war ich übrigens schon im Treibsand. Ich aß nicht viel. Ich hatte meinen genauen Plan, was ich wann zu essen hatte. Und da ich nachmittags auch nichts vorhatte, konnte ich mich wunderbar mit Essen beschäftigen. Es ging nach Zeit. Frühstück 6:30 Uhr, Mittag 12 Uhr, Süßes 16 Uhr, Abendbrot 19 Uhr. Fertig. Und wehe, es wich vom Plan ab. So etwas nennt man „sich-selber-unter-Druck-setzen“ oder einfach: Zwang. Such wäre auch passend. Außerdem trank ich Wasser, oft mit Zitronensaft, das unterstützt den Fettabbau. Mama machte mir Salat für mittags, den ich so scharf würzte, wie es nur ging. Schärfe hat den gleichen Effekt. Oh ja, ich kenne sie fast alle. Die Tricks den Fettabbau zu unterstützen und anzuheizen. Heute habe ich übrigens schnell Sodbrennen. Damals hatte ich noch ein Auto, ich war so faul. Mit 19 Jahren zog ich von zu Hause aus. Endlich raus. Mein Zimmer war schön, aber eine eigene Wohnung noch schöner. Da konnte ich machen, was ich wollte. Ich hatte feste Pläne, um durch den Tag zu kommen. Es ging bergab mit mir, ich war überfordert und alleine. Zu allem Überfluss wohnte genau gegenüber in dieser Gafferstraße eine befreundete Familie. Die „Freundschaft“ bestand (den Kontakt zu denen habe ich inzwischen abgebrochen) jedoch nur aus Neid und Missgunst. Heute frage ich mich, ob das überhaupt Freunde waren.

Damals scheinbar ja, ich wusste es nicht besser, hatte auch keine Meinung. Ich fühlte mich beobachtet. Die Zeit war schlimm, ich quälte mich durch den Tag. Bloß keine Kalorien aufnehmen, und wenn doch, dann müssen sie wieder runter trainiert werden. Schnell schnell. Gekocht habe ich nie, ich aß lieber monotones Zeugs. Brot, Magerquark, scharf, sauer, Schokolade, Gummibärchen, Chili pur, Pfeffer, trockenes Brot, probiotischen Joghurt, literweise Cola light und Süßstoff. Und dazu: jede Menge Bewegung, bis zur Erschöpfung. Es gab wirklich Tage, an denen ich nicht mehr konnte. Meine Beine taten weh und wurden dünner, eine Waage besaß ich noch nie. Es gab mir ein befriedigendes Gefühl zu wissen, dass ich mich selber beherrsche. Und die Leute guckten. Ein Mann nannte mich auf offener Straße „Storchenbein“. Das war mir peinlich, aber er hatte ja Recht. Später aß ich morgens tatsächlich Brot nur mit scharfen Gewürzen und mittags Knäckebrot und einen Apfel. Und dazu bewegte ich mich wie eine Verrückte. Ich hatte nie Bulimie, aber ich war magersüchtig. An den Wochenenden war ich immer bei meinen Eltern. Da hing ich rum, um ja nicht zu Hause zu sein. Bewegung beherrschte meinen Tag, bloß keine Kalorien aufnehmen, lieber abbauen. Es galt die Gleichung: Aufnahme " Verbrauch und niemals andersherum! Niemand fragte, was mit mir los sei. Nicht Jessica, nicht Janine und auch meine Eltern nicht. Hallo, sieht mich denn keiner? Was waren das für Menschen, die sich Freunde und Familie schimpften?? Jessica war meine neue beste Freundin nach Nadine, bis zum Ende ihrer Ausbildung. Dann zog sie zu ihrem Freund. Wir schrieben noch ein paar Briefe, ich besuchte ihre Hochzeit, doch seit einiger Zeit herrscht Funkstille. So ging es oft in meinem Leben. Menschen kamen, Menschen gingen. Die Zeit mit Jessica war auch schön, wir haben viel gelacht, man hielt uns für Zwillinge. Als ich sie das letzte Mal sah, war sie sehr stark abgemagert. Hinterher erfuhr ich, dass sie Probleme mit ihrer Mutter hatte und der Anorexie verfallen war. Sie wurde stationär behandelt. Heute ist sie wohl „geheilt“ (ich weiß es nicht); zumindest ist sie inzwischen selber Mutter. Irgendwann blieb dann meine Regel aus. Einfach so. Ich schämte mich so sehr, denn das zeigte, dass ich jetzt wirklich keine Frau mehr war. Aber mit wem hätte ich reden sollen? Ich lebte doch in meiner eigenen Welt. Da gab es nur mich und meine Musik und die tollen Sänger. Unerreichbare Männer, gut so. Es sollte eh keiner zu nah an mich herantreten. Die Musik hielt mich am Leben. Ich dachte, diese Männer wollen nur dünne Frauen, also wollte ich für sie dünn sein. Ohne die Musik weiß ich nicht, was heute wäre. Abschiedsbriefe habe ich oft genug geschrieben, in der Hoffnung, wen ich tot bin, kriege ich ein bisschen Aufmerksamkeit. So war das. Besagte Musik war von HIM, The Rasmus, Lovex, Reflection und Negative. Letztere höre ich auch heute noch sehr gerne, sie sind eher im Stil von Guns'N'Roses. Dadurch entstand meine Liebe zu Finnland. Inzwischen liebe ich das Land aber wegen der Leute, der Sprache, allgemein wegen der Kultur und nicht bloß wegen der melancholischen Bands. Die Zeit verrann. Die Ausbildung hatte ich längst beendet, arbeitete im Büro. Ich habe immer früh Feierabend gemacht, damit ich genug Zeit zum Kalorienverbrauchen hatte. Regen bedeutete Krise, denn dann konnte ich nicht mit dem Fahrrad fahren! Alarm Alarm! Außerdem suchte ich mir Beschäftigung in Form von Gitarre spielen und Sprachen lernen. So lernte ich neue Dinge, es war schön, aber war auch sehr stressig. Ich litt ständig unter der Angst, etwas nicht zu schaffen. Stress beherrschte den Ablauf.

Gleichzeitig wollte ich neue Leute kennen lernen, klammerte und merkte nichts. Es war so schlimm. Es ging noch weiter bergab. Eines Tages auf der Arbeit fragte mich eine Kollegin, ob ich immer dünner werde. Ich bin weggelaufen. Sie hat genau das Richtige gemacht, aber in dem Moment hätte ich ihr eine kleben können. Bei einem Vorstellungsgespräch bei einem großen Schuhunternehmen fragte mich die Personalchefin, ob ich mal krank gewesen wäre, da ich so dünn sei. Oh Gott, war mir das unangenehm! Es gab noch mehr solcher Momente, z.B. als ich beim Betriebsarzt war, die Schwester starrte nur auf meine Beine. Wenn ich heute Fotos von früher sehe, weiß ich warum. Es gab diese Tage, an denen wachte ich morgens auf und meinte, die Hüftknochen müssen noch fünf cm weiter herausstechen. Auf geht’s, der Weg ist das Ziel. Sport, hungern, trinken usw. Oder im Sommer, wo man beim Spaghettiträger-Top die Knochen in der Brust sehen konnte, diesen Knubbel oder die Schlüsselbeine oder die Wirbelsäule und Schulterknochen. Ich sah aus wie ein KZ-Männchen! Und immer war mir kalt. Angst hatte ich übrigens auch vor dem nächsten Impftermin, denn da war ja am Oberarm nicht, wo die Spritze hätte entleert werden können. Und obwohl ich mit meinem Körper so auf Kriegsfuß stand, wollte ich gesund sein, schluckte sogar Vitamintabletten, da ich über die wenige Nahrung die nötigen Vitamine nicht aufnehmen konnte. Ich hatte auch immer Angst vor Haarausfall, was ja passieren kann bei Magersucht, oder dem verstärkten Haarwuchs (gegen das Frieren). Im Fernsehen habe ich mal einen Film über ein magersüchtiges Mädchen gesehen. Die Konfrontation mit dem „Thema“ hatte an dem Abend erreicht, dass ich zehn kleine Negerküsse, aus schlechtem Gewissen, aß, aber sie führte keinesfalls zur Einsicht. Am nächsten Tag hungerte ich schön fleißig weiter, was interessierte mich der Film von gestern Abend? Eines Tages, im Sommer 2007 war es wohl, traf ich mich mit meiner ehemaligen Mit-Azubine und inzwischen guten Freundin Janna. Sie sprach mich an, ob ich eigentlich Bulimie hätte? Das war ein Schlag ins Gesicht. Es hat mich vollkommen perplex gemacht damals. Wir redeten den Tag sehr viel darüber, es stellte sich heraus, dass das Gerücht über mehrere Ecken an sie gelangt sei. Eine Kollegin hätte mich wohl kotzen gehört. Sie hatte es meinem Chef erzählt, der seiner Tochter usw. und so fort. Jetzt glaubte mein Chef ich hätte Bulimie! Grandios! Angesprochen hat er mich jedoch nie, er ist inzwischen auch nicht mehr mein Vorgesetzter. Das war mir unendlich peinlich, hat aber auch etwas in Bewegung gesetzt: so konnte es nicht weitergehen. Es musste sich etwas ändern. Ich ging zu einer Selbsthilfegruppe, wo ich mich nicht wohl fühlte und nur einmal kurz gewesen bin (kein Therapiegespräch, nur zur Info. Die Frau redete gleich von „stationär behandeln“ obwohl ich erst mal nur reden wollte). Da beschloss ich, es selber zu ändern. Ich hatte es selber vermurkst, also konnte ich es auch wieder ändern. Der Kopf spielte mit und ich begab mich zunächst auf Ursachenforschung. Ich fand sie in meiner Vergangenheit, in der Kindheit und in der Behandlung durch meine Eltern. Gleichzeitig beschloss ich, per Abendschule mein Abitur nachzuholen, um dann ein Studium der Finnougristik aufzunehmen. Und ich begann mich langsam gedanklich umzustellen. Es war schwer, denn Gewohnheiten sind Gewohnheiten. Und es gab auch immer wieder Momente, in denen ich am liebsten heulend alles hingeschmissen hätte. Aber ich wäre nicht ich, wenn ich nicht so oft so stur und ehrgeizig wäre („Sisu“ würde der Finne sagen, das heißt so viel wie Durchhaltevermögen), was mir dieses Mal zu Gute kam. Durchhalten war und ist angesagt und der einzige treibende Motor bin ich selber! Ich wollte es schaffen und wusste, dass ich es konnte, der Kopf musste mitspielen und das tat er ab Dezember 2007. Weihnachten war noch wie immer, aber das erste Mal wurde mir klar, wie öde und jämmerlich meine Eltern in ihrer Welt gefangen waren und wie sehr ich in den letzten Jahren von ihnen abhängig war, weil ich mich nicht lösen konnte. Es musste sich also etwas ändern. Es brodelte regelrecht in mir. Als ich dann die Schule im Februar 2008 begann, begann auch die Veränderung. Dort lernte ich so viele tolle Leute kennen, die mir indirekt halfen mich zu verändern. Einer von ihnen – und zu der Zeit der wichtigste von allen – war Sascha. Ihn fand ich toll, er war so unendlich cool. Ich verliebte mich das erste Mal richtig und nicht nur in sein Aussehen. Es war das erste Mal, dass ich mich für einen Menschen interessierte, einen echten Menschen, keinen Star. Wir haben viel gelacht, aber ich habe auch viel geheult in der Zeit, weil ich mich von ihm ärgern ließ. Für ihn wollte ich es schaffen, er half mir unendlich in der Zeit, ich steigerte mich zwar in Etwas hinein, aber das war in Ordnung. Ich brauchte diesen Halt, dieses unsichtbare Etwas. Grinsend ging ich zur Schule, weil ich mich auf Sascha freute, und ging enttäuscht nach Hause, wenn er mal wieder nicht da war. Irgendwann am Anfang waren wir mit der Klasse nach der Schule etwas trinken. Der Abend endete für mich im Chaos, denn Sascha wäre mit mir mitgekommen, um sich für eine Nacht zu erfreuen. Da war ich stinksauer, auf ihn und auf mich, weil ich so blind war und er mich derartig enttäuscht hatte. Es ging irgendwie weiter, wir verstanden uns noch immer. Ich fiel nicht zurück, aß fleißig gegen die Sucht an. In der Schule merkte ich auch, dass es ohne Essen nicht geht. Alleine schon wegen der Konzentration. Und dieses permanente sich-bewegen-MÜSSEN ließ auch nach. Viel zu schön waren die Momente, als sich mit solchen Banalitäten weiterhin zu beschäftigen. Dennoch war ich noch lange nicht fertig mit mir. Die Zeit war hart, besonders das Essen, Essen Essen und es zuzulassen, auch wieder zuzunehmen und nicht mehr Kleidergröße 32 zu tragen. Klamotten kaufen war ohnehin ein Akt. Kinderklamotten passten, aber bei H&M fand ich fast nie etwas Passendes. Und dann der Anblick in der Umkleidekabine. Das war gnadenlos, ich konnte oft nicht hinschauen! Die dünnen Arme, dürren Beine, alles schlabberte, und wozu das alles? Die ständige Qual, Kontrolle, der Zwang? Es gab mir einen, heute unverständlichen, Kick, mich selber zu quälen und zu leiden. Das Wissen, sich selber unter Kontrolle zu haben, das ist wirklich nicht normal. Dabei ging so viel verloren, Lebensfreude und Lebensqualität hatte ich praktisch aus mir heraus gewrungen. Heute glaube ich, dass ich damals gar kein richtiger Mensch mehr war, eher eine Maschine oder irgendetwas dazwischen. Ich wollte gefallen, Aufmerksamkeit und Aufsehen erregen. Nie hat mich jemand aus der Familie angesprochen, warum ich so dünn bin. Es wurde hingenommen, die seltsamen Essgewohnheiten akzeptiert und unterstützt, ist ja auch einfacher, als einen Konflikt auszulösen. Erst in der Schule merkte ich, dass es nicht funktionieren konnte. Anfangs setzte ich meine „Zwangsernährung“ noch fort, aber ich merkte sehr schnell, dass ich unkonzentriert war, wenn ich sieben Stunden nichts gegessen hatte. Und nach der Schule einen Apfel und eine Birne zu essen, reichte auch nicht mehr. Außerdem ließ ich es sein morgens mit dem Rad zum Bahnhof zu fahren, nachmittags nach Hause, Sachen holen, und wieder zur Bahn. Das war alles unnötiger Stress.

An dem Tag, an dem ich mir das Labret-Piercing habe stechen lassen, tat ich das das letzte Mal. Danach nie wieder, denn an dem Tag war ich fix und fertig, es ging einfach nicht mehr. Die Ohrringe im Januar 2008 waren der Anfang meiner äußeren Veränderung. Es folgten Nasen- und Lippenpiercings, noch mehr Ohrlöcher, neue Frisuren, neue Klamotten. Aus schwarz wurde bunt und das spiegelte gleichzeitig mein inneres Befinden wider. Es machte Spaß, durch Buntes aufzufallen. Gleichzeitig – und das war das Schlimmste für mich – lernte ich zu leben, zu genießen, zu akzeptieren. Langsam erkannte ich, was es heißt auch mal relaxt zu sein und Dinge nicht unter Zwang zu vollbringen, sondern weil sie Spaß machen. Oder auch einfach mal nichts zu machen, weil ich keine Lust habe und faul sein will, ohne schlechtes Gewissen. Nur weil ich Schokolade gegessen habe, muss ich mich nicht wie eine Bekloppte bewegen. Morgen ist auch noch ein Tag. Sascha half mir dabei, mehr oder weniger. Er war es, für den ich leben wollte. Und leben bedeutete essen. Damit musste ich anfangen zu akzeptieren, dass ich zunahm. Das war schwer und harte Arbeit, aber ich schaffte es. Ich sag Dinge ganz anders, wollte mein Leben verändern. Es hatte im Kopf „klick“ gemacht und ich nahm wirklich zu. Ich war so stolz auf mich! Die 26/32-Hose wurde viel zu eng und ich zelebrierte ihren Abgang. Es fühlte sich gut an. Heute genieße ich, gönne mir, worauf ich Lust habe. Ich weiß, dass ich mich viel bewege und auch viel essen darf. Und ich höre auf meinen Körper, denn ich liebe ihn. Mit etwas mehr Kilos kam auch die Lust am Shoppen. Geld ist zum Ausgeben da, also kaufe ich mir schöne Dinge, sofern ich mir sie leisten kann. Geiz war gestern, auch esse ich heute Sachen, die vielleicht teurer sind, aber auf die ich Lust habe. Früher setzte ich mir selber Grenzen, und wehe sie wurden nicht eingehalten. Meinen Schrank habe ich entrümpelt, alles, was ich nicht mehr leiden mochte wandere Richtung Müll. Heute bin ich rigoros und schmeiße weg, was überflüssig scheint und hässlich ist und damit nicht mehr tragbar. Das lange Aufbewahren nach dem Motto ich könnte es vielleicht nochmal gebrauchen“ gibt es nicht länger. Die Dachbodenentrümpelung fühlte sich an wie Seelenmüll wegwerfen und das tat gut. Schwarze Hosen trage ich heute nur noch, um sie mit den bunten T-Shirts zu kombinieren, ansonsten mag ich schwarz nicht so gerne. Es wirkt zu düster und trist. Was mir am Anfang noch nicht so gut gelang, war das Nichtmehrbesuchen meiner Eltern. Ich kam trotzdem jedes Wochenende, weil ich sonst nicht wusste, was ich machen soll? Aus Langeweile? Ich kann es nicht sagen. Gleichzeitig nervte es mich aber auch, sie wurden immer anstrengender. Nichts änderte sich bei ihnen, und um mit meiner Vergangenheit fertig zu werden, schrieb ich meiner Mutter einen Brief. Sie fasste ihn als „böse“ auf, wusste wohl nicht mit dem ganzen Geschrieben umzugehen. Ich konnte ihr dabei nicht helfen, denn ich hatte meinen Teil erledigt. In dem Brief standen Dinge, wie es mir geht, ob sie sich mal gefragt hat, warum ich so dünn bin. Ob sie das überhaupt registriert hatte. Sie meinte danach, ich solle nicht glauben, sie würden mich nicht lieben und sie würde es jetzt ändern. Dann wollte sie mich in den Arm nehmen. Es ging nicht, denn was sie in den letzten mindestens 15 Jahren kaputt gemacht hatte, ließ sich nicht „mal eben“ wieder heil machen. Bis heute ist das Verhältnis zu ihnen gespannt, denn ich komme mit ihrer Art und Weise nicht mehr klar. Ich weiß, dass sie mich lieben auf ihre Weise und ich liebe sie auch, aber sie sind nicht länger der wichtige Bestandteil meines Lebens, sondern „nur“ meine Eltern oder weniger. Man kann mit ihnen auch nicht darüber reden, denn sie sind uneinsichtig. Meine Mutter arbeitet nicht mehr, seit ich geboren wurde. Sie will es nicht ändern, wozu auch? Und so lebt sie in ihrem Trott, tagein, tagaus. Aufstehen, Kaffee kochen, putzen, einkaufen, gute Nacht. Achja, und manchmal telefonieren mit Verwandten oder komischen Freunden aus der Gafferstraße. Dann geht es über höher, schöner, weiter. Prada und D&G und wie das ganze oberflächliche Zeugs Namen ist. Es interessiert mich nicht mehr, ich habe mein eigenes Leben. Und das besteht nicht mehr aus solchem Nonsens, sondern aus mir, Liebe, Lust, Freude, Menschen. Oberflächlich waren und sind sie und wenn sie nicht einsichtig sind, dann wird sich auch nichts ändern. So funktioniert das. Irgendwann kam Sascha immer seltener zur Schule, da brach mindestens eine Welt für mich zusammen. Aber ich gab nicht auf, tat vieles für ihn, kopierte, schrieb mit und himmelte zu ihm hinauf. Er war mein Gott und zeigte mir die Musik von MUSE. „Starlight“ wurde mein ständiger Begleiter. Und das war erst der Anfang. Fortan verschwanden HIM, The Rasmus und all die anderen melancholischen Bands aus dem MP3-Player, aus den Bilderrahmen und dem Portemonnaie. Ich mag heute Negative und The Killers, MUSE natürlich, Pink und Katy Perry. Die Musik ist fröhlich und entspricht mir. Die Zeit verrann und rannte davon. Mein neues Leben nahm Form an, ich lachte viel, aber es gab auch oft Momente in denen ich am liebsten zurückgelaufen wäre, wenn ich nicht wüsste, wie schlimm es „da“ war. Besonders in den Ferien oder im Urlaub. Manchmal zähle ich auch Kalorien, aber eher, um zu gucken, ob ich genug gegessen habe. Ich liebe Essen, bewusstes Essen. Es gehört dazu und geht nie ohne! Sascha tauchte irgendwann nach den Sommerferien 2008 wieder auf. Da hatte ich mich bereits von ihm gelöst und wollte ihn nicht mehr anhimmeln. Das ist natürlich leichter gesagt als getan und nicht 1:1 umsetzbar. Ich himmelte wieder, fand ihn süß. Aber seine Besuche wurden wieder seltener und es endete in einem Neustart im nächsten Jahr (2009). Da sah ich, dass er mit seiner Freundin kam und ging, aber es war okay. Es ist schön für ihn, Glückwunsch, aber ich finde ihn noch heute toll, er ist der Mensch, der mich mehr oder weniger gerettet hat. Danke Sascha! Die meisten anderen Leute blieben erhalten. Es entwickelten sich gute Freundschaften, die Schule wurde durch das Drumherum erträglich und ich ging gerne hin. Auch hatte ich Angst vor dem Ende. Was kommt dann? Ich möchte nicht in mein „altes“ Leben zurück. Niemals. Heute weiß ich, was es heißt zu leben. Es gibt zwar auch heute noch Dinge, an denen ich arbeiten muss und will, aber das ist okay. Stillstand ist Rückstand und es gehört einfach dazu, ständig an sich zu arbeiten. Heute – 2010 – führe ich ein schönes Leben. Wenn ich zurückblicke kann ich kaum glauben, was in meiner Vergangenheit passiert ist. Heute fahre ich gerne mit dem Fahrrad – weil es Spaß macht, nicht weil ich es muss, um Kalorien zu verbrauchen. Seit letztem Jahr spiele ich Tennis, weil es Spaß macht. Heute kann ich aber auch bewusst faul sein und genießen. Ich setze mich nicht mehr unter Druck – klar gibt es Phasen, wo ich mich frage, wie ich alles schaffen kann/werde. Aber sonst? So what, that's life. Mein Körper zeigt mir dann schon, wenn ich es wieder übertrieben habe und antwortet mit Herzrasen und Nasenbluten. Seit letztem Jahr habe ich auch meine Tage wieder, das war eine Revolution für mich. Außerdem esse ich, ich achte auf eine ausreichende Kalorienzufuhr, genieße in Maßen.

 

Essen gehe ich auch, das habe ich sonst nie gemacht. Mein Leben hat sich so sehr verändert in den letzten zwei Jahren – es ist  unglaublich. Zu meinen Eltern habe ich im Moment nur noch sehr wenig Kontakt, das ist besser so. Mir geht es viel besser und vielleicht verstehen sie irgendwann, dass sie sich etwas Neues suchen sollten. Aber mit meinem Bruder Marvin verstehe ich mich sehr gut, wir mailen oft und treffen uns dann und wann. Der Neid auf ihn von früher ist verschwunden, er ist heute wie ein guter Freund für mich. Es verbindet uns sehr viel, nicht nur die gemeinsame Herkunft. Aber ich musste auch lernen, dass er nicht mir gehört, sondern unser Verhältnis ein freundschaftliches ist. Wir verabreden und treffen uns, wie es Freunde tun. Aber wir streiten uns auch mal, lachen dann aber sehr schnell wieder. Es tut gut, jemanden an seiner Seite zu haben, der ähnlich empfindet wie man selber es tut. Zudem musste ich lernen, dass es nicht wichtig ist zu sagen „ich auch; das sehe ich genauso; ach, du auch?“ Es ist viel wichtiger, eine eigene Persönlichkeit zu haben, auch wenn man dann nicht everybody's darling ist – das ist ebenso und absolut menschlich. Es hat aber auch viel mit dem Selbstbewusstsein zu tun, welches sich bei mir erst langsam aufbauen musste. Inzwischen weiß ich, was ich bisher geleistet habe und bin stolz darauf. Ich habe das Recht, mich auch mal selber zu loben, denn ich bin gut. Früher habe ich mich lieber heruntergezogen und bin im Selbstmitleid untergegangen. Heute verabscheue ich Mitleid und allgemein Gejammer, denn dadurch ändert sich nichts. Machen ist wichtig, und wenn man etwas will, kann man das auch schaffen. Und das ist mein Motto: Ich schaffe das! Und wenn mal etwas nicht klappt, dann habe ich es a) versucht und b) sollte es wohl nicht sein. Auch höre ich auf mein Gefühl, das ist ganz wichtig. Das Leben zeigt einem, wo es langgeht, man muss nur mal bewusst hinhören und aufpassen. Während der ganzen Phase habe ich viel aufgeschrieben, das hat mir sehr geholfen.

Heute mit 27 Jahren im Jahr 2010 bin ich in einer Phase, die ich für mich und jetzt mit „angekommen“ bezeichne. Ich freue mich über Kleinigkeiten, dass es mir gut geht, ich genug Geld verdiene, um ein schönes Leben zu führen. Ich bin mir wichtig, nicht überheblich, aber ich lasse mich nicht mehr unterbuttern. Oh nein, mich behandelt so schnell keiner mehr schlecht! Ich werde zwar oft unterschätzt, aber dann zeige ich ganz schnell, wo der Hammer hängt. Abschließend möchte ich noch sagen, dass ich erst durch die Schule das Leben gelernt habe. Ich gehe meinen Weg, der mal holprig, mal bergauf, bergab oder eben ist. Und dieser Weg führt nach vorne – und keinesfalls zurück.

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KlausD Mach weiter so, den Mut und die Kraft hast du, für dich und als gutes beispiel für andere.
Vor langer Zeit - Antworten
adventor89 Leben - ... so ein langer Text ... und ich bin dennoch hängengeblieben. Es ist schon beeindruckend, wie Du Deinen eigenen Willen gegen alle "Gewalten" aktivieren konntest. Diese Zeilen können anderen sicher sehr hilfreich sein.

Viele Grüße
Michael (hoffe, Du bekommst jetzt keine Allergie :-))
Vor langer Zeit - Antworten
Ostseemoewe ganz große Klasse - obwohl es 36 Seiten sind und ich zwischendurch immer mal wieder dachte, "lese ich den text wenn ich mehr Zeit habe"
Nein ich habe ihn ganz durch gelesen. Er ist so realistisch geschrieben. Keine Beschuldigungen, nicht gegen dich selbst nicht gegen Freunde Bruder ...
und dann die Phase mit Deiner Magersucht, damit kannst Du sicher vielen Menschen helfen und zeigen, he ich habe es geschafft.
Glückwunsch zu Deiner Lebensleistung.
GLG Ilona
Vor langer Zeit - Antworten
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