Kurzgeschichte
Das Ende ist nah!

Ich ärgerte mich so sehr darüber, dass ich wieder einmal die Milch vergessen hatte, während ich, bepackt mit Einkaufstüten, die Treppe des Hausflurs erklomm wie ein Bergsteiger den Mount Everest, dass ich Herrn Lockermann zuerst gar nicht bemerkte. Im Kühlschrank stand zwar noch ein angefangener Karton Milch, fiel mir ein, aber vermutlich schimmelte der bereits gemütlich vor sich hin.

»Huch? Hallo Herr Lockermann«, sagte ich erschrocken, als ich meinem Nachbarn beim Hochkriechen der Treppe beinahe den nach vorn gereckten Kopf in die Magengrube gerammt hätte. »Wo wollen Sie denn mit dem riesigen Rucksack hin? Geht‘s zum Camping?«

»Camping?«, kreischte Herr Lockermann, und mir wurde in diesem Moment klar, dass ich besser gar nicht erst gefragt hätte. Nun stand mir vermutlich eine weitere seiner skurrilen Geschichten bevor. »Als ob ich Zeit hätte, zum Camping zu gehen! Nein, ich muss mich auf den 21. Dezember 2012 vorbereiten. Dinge einkaufen. Konserven vor allem. Davon kann man ja nie genug haben, und da kann man auch gar nicht früh genug mit beginnen. Die Dinger halten sich schließlich ewig.«

»Ähm, was ist denn am 21. Dezember 2012?«, schoss es aus mir hervor, und bereits nach dem Aussprechen der Frage hätte ich mich am liebsten selbst geohrfeigt. Jetzt würde er erst richtig loslegen. Lockermann war ein schrulliger Kerl, von dem man nicht genau sagen konnte, ob er erst Ende 30 oder schon Anfang 60 war. Auf jeden Fall konnte er reden wie ein Wasserfall. Leider kam dabei meistens nur wenig Gehaltvolles heraus. Wohlweislich stellte ich schon mal meine Einkaufstüten ab.

»Ja, haben Sie denn 2012 nicht gesehen?«, fragte Herr Lockermann und klang dabei so entsetzt, als hätte ich ihm gerade gestanden, dass ich in seinen Keller gepinkelt hatte.

»2012?«

»2012! Den Film eben.«

»Ach so«, winkte ich ab. Sie meinen diesen Cameron-Film, oder?

»Emmerich!«

»Gesundheit!«

»Nein«, korrigierte Herr Lockermann. »Der Film ist von Roland Emmerich. James Cameron hat doch nur die Titanic untergehen lassen. Bei Emmerich geht die ganze Welt unter.«

»Wo ist der Unterschied?«, fragte ich schulterzuckend. »Katastrophe ist Katastrophe, würde ich sagen.«

»Also das ist ja wohl ein gehöriger Unterschied, ob nur ein Schiff untergeht oder die ganze Welt«, empörte sich Herr Lockermann lautstark. Irgendwann, dachte ich, würde bei seiner Argumentationslautstärke der Putz von der Decke bröckeln. Schließlich würde sich ein großer Brocken Beton lösen, um auf Herrn Lockermann zu fallen und künftig für Ruhe im Treppenhaus zu sorgen.

»Sagen Sie das den Leuten, die zusammen mit der Titanic abgesoffen sind, Herr Lockermann. Denen wird das reichlich egal gewesen sein, ob nach ihnen auch noch die ganze Welt untergeht.«

Herr Lockermann schüttelte nur verständnislos den Kopf und warf mir einen mitleidigen Blick zu. So machte er das immer, wenn er einem sagen wollte, dass man mit seinem Erbsenhirn schlicht überhaupt nichts von dem verstand, was er einem sagte, er aber eigentlich einfach nicht mehr wusste, was er noch sagen sollte. Da war er sehr durchschaubar, der Herr Lockermann. Ebenso, was seine ständige und völlig übertriebene Panik anging, in die er sich hineinsteigerte.  Und genau damit fuhr er auch fort.

»Ganz davon abgesehen, dass der Untergang der Titanic noch immer etwas ganz anderes ist als der Untergang der Welt, haben beide Filme - und da haben Sie Recht - immerhin einen erschütternd wahren Hintergrund. Haben Sie schon vom Maya-Kalender gehört?«

»Maya?«, fragte ich interessiert tuend nach und dachte, dass ich doch besser noch einmal umgekehrt wäre, um die Milch zu kaufen, die ich vergessen hatte. »Sie meinen dieses seltsame Volk, bei dem ständig irgendwelchen Leuten die Köpfe abgeschlagen wurden?«

»Das waren die Azteken«, sagte Herr Lockermann und erhob dabei seinen allmächtigen Zeigefinger des Wissens in die Höhe. »Aber Sie haben nicht ganz Unrecht: Auch die Mayas hatten Menschenopfer. Und die hatten einen Kalender, mit dem sie voraussagen konnten, dass am 21. Dezember 2012 die Welt untergehen wird. Die wussten wirklich viel, diese alten Völker.«

»Und weil sie so viel wussten, schnitten sie sich gegenseitig die Kehlen durch?«, ätze ich.

»Darum geht es doch gar nicht«, grummelte Lockermann. Wieder das Kopfschütteln, wieder dieser Blick. Na ja, wenn er meinte, dann war es wohl so. Herrn Lockermann widersprach man lieber nicht.

»Es geht hier um den Kalender und um den Weltuntergang. Ich hab das nach diesem Film vom Emmerich sehr genau recherchiert. Von mir aus kann dann ja vorher alles vor die Hunde gehen, doch ich werde vorbereitet sein. Eingedeckt mit Konserven und genug Wasser werde ich auf den Untergang warten. Während alle Welt durchdreht, werde ich gemütlich in meinem Keller sitzen und auf den Untergang vorbereitet sein. Sollten Sie auch tun, Herr Nachbar. Denken Sie an meine Worte!«

Aha, da war der Hund also begraben. Herr Lockermann hatte sich mal wieder in einen Film hineingesteigert. Nun, das war nichts Neues. Als vor ein paar Jahren diese neuen Batman-Filme im Kino liefen, da hielt er die halbe Nachbarschaft auf Trab, als er meinte, man müsste nachts unbedingt die Fenster schließen, schließlich kämen die Bekloppten inzwischen ja sogar mit Seilpistolen über die Dächer. Und einmal hatte er irgendeinen schlecht gemachten Billigfilm im Nachtprogramm gesehen, in dem die halbe Menschheit an einer Supergrippe verreckte. Tagelang sah man Herrn Lockermann nur noch mit Mundschutz. Und wehe, jemand nieste in seiner Gegenwart, ohne sich eine Hand vor den Mund zu halten. Tja, und nun war also der Weltuntergang dran. In einer Woche würde er seine Ambitionen, was den letzten Tag anbetraf, vergessen haben, aber vermutlich würde er dann immerhin genug Konserven im Keller haben, um für den Rest seines Lebens Essen auf Vorrat zu haben.

»Sehen Sie, ich hab mir da schon einen Plan gemacht«, fuhr Lockermann fort und wühlte in seiner Hosentasche. Meine Güte, was hatte der Mann schmutzige Fingernägel, dachte ich, als er versuchte, den zerknitterten Zettel auseinanderzufalten, den er soeben aus der Tasche gezerrt hatte. Ob er sich im Garten bereits einen Bunker gegraben hatte? Zuzutrauen war es ihm durchaus.

»Jetzt schauen Sie hier!« Ich erkannte einige hastig hinkritzelte Linien auf dem Papier, die wie der ungekonnte Entwurf eines Grundrisses aussahen. »Also, wenn der Untergang dann naht, dann werde ich mich im Keller an diese Stelle setzen. Sehen Sie? Ich glaube nämlich, dass hier die Decke am stabilsten ist und nicht einstürzen wird, wenn die tektonischen Verschiebungen erst einmal-«

»Ähm, Herr Lockermann«, fuhr ich dazwischen. Das war jetzt selbst für mich zu viel. Wenn ich ihm nicht Einhalt gebot, würde er mir vermutlich gleich ein Referat über die Mischung des Betons der Kellerwände halten. »Das ist wirklich sehr faszinierend, aber ich muss dringend rein. Den Goldfisch füttern.«

»Sie haben einen Goldfisch?«, fragte Herr Lockermann. Den Zeigefinger hatte er noch immer auf seinen Zettel gerichtet.

»Öhm, ja. Seit gestern«, sagte ich. »Nun denn, ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Herr Lockermann«. Darauf packte ich meine Einkaufstüten und ging schnellen Schrittes zu meiner Wohnungstür. Hinter mir hörte ich, wie Herr Lockermann seinen Zettel wieder in die Tasche schob und vermutlich an seinem riesigen Rucksack herumzerrte.

»Immer diese hektischen jungen Leute«, hörte ich ihn brummen, als er langsam die Treppe hinunterging.

»Ach Herr Lockermann«, rief ich ihm spontan hinterher.

»Ja?«

»Könnten Sie mir vielleicht noch zwei, drei Kartons Milch mitbringen?«

»Auch für den Goldfisch?«

»Nee, der mag seinen Kaffee schwarz.«

»Ach so. Na gut, ich werde sehen, ob ich die Milch noch in den Rucksack bekomme. Sie wissen ja, am 21. Dezember 2012 wird es so weit sein. Und dann werde ich vorbereitet-«

Den Rest verstand ich nicht mehr, da ich bereits in meine Wohnung geflüchtet war und die Tür geschlossen hatte, um einer weiteren Belehrung über den Untergang der Welt zu entkommen. Ich atmete laut aus und stellte die Einkaufstüten in der Küche ab. Nachdem ich sie ausgeräumt hatte, nahm ich mir eine Schüssel aus dem Schrank und kippte eine kleine Portion Cornflakes hinein, als mir mein Milchmangel wieder einfiel. Ich nahm den angefangenen Karton aus dem Schrank, schnüffelte und befand die Ausdünstungen meiner Milch für erträglich. Also kippte ich den Rest in die Schüssel und setzte mich an den Küchentisch, der unter dem Fenster stand.

Weltuntergang, dachte ich. Dieser Lockermann machte seinem Namen wirklich alle Ehre, was die Schrauben in seinem Verstand anging. Und ich hatte ja schon irgendwie Recht gehabt: Für die Leute, die zusammen mit der Titanic abgesoffen waren, wäre es kaum von Bedeutung gewesen, falls einen Tag später die Welt untergegangen wäre. Untergang war in dem Fall Untergang, egal, was denn nun tatsächlich unterging. Okay, für selbstsüchtige Kate Winslets, die gemütlich auf Türen schwimmen, während arme DiCaprios im Eiswasser erfrieren, wäre es vermutlich schon von Bedeutung, was einen Tag später passiert.

Aber würde es denn etwas ändern, wenn man sich akribisch auf das Ende vorbereitet? Ich meine, wenn man weiß, dass die Welt untergehen wird und man diese Tatsache sowieso nicht beeinflussen kann, weshalb sollte man sich dann darauf vorbereiten? Das letzte Hemd hat keine Taschen, sagt man, und am letzten Tag würde es eine Menge letzter Hemden geben. Es wäre ja nicht so, dass die Kate Winslets dieser Welt auf Türen hocken, während der Rest der Welt - vornehmlich Männer - von tektonischen Plattenverschiebungen dahingerafft wird. Nein, ich glaube, der guten Mutter Erde wären rettende Türen ziemlich egal, wenn es für sie darum geht, das Zeitliche zu segnen.

Und weil uns das eben alle beträfe, wäre eine Vorbereitung  auf das Ende doch reine Zeitverschwendung. Am besten lebt man sein Leben einfach weiter, macht was draus und schaut, dass man für den Augenblick irgendwie glücklich und im Reinen mit sich selbst ist. Oder so ähnlich eben.

Ach, was befasste ich mich hier überhaupt dem Absaufen der Menschheit? In meiner Schüssel soffen bereits die ersten Cornflakes ab, die sich mit Milch vollgesogen hatten. Ich löffelte die matschigen Dinger hastig weg und stellte die Schüssel in den Abwasch. Als ich mir schließlich noch einen Kakao machen wollte, fiel mir wieder ein, dass ich nun tatsächlich keine Milch mehr im Haus hatte. Da musste ich nun wohl doch auf Herrn Lockermann warten, der vermutlich gerade die Konserven dieser Welt aufkaufte. Die Verkäufer beim Aldi in der Stadt würde seine Panikorgie vermutlich freuen.


Nun, ich mache es kurz. Herr Lockermann brachte mir an diesem Tag keine Milch mit. Herr Lockermann brachte jedoch auch keine Konserven nach Hause, weil Herr Lockermann einfach überhaupt nicht mehr nach Hause kam. Mein Vermieter erzählte mir einige Tage später, während einige dickbäuchige Hünen Herrn Lockermanns Wohnung entrümpelten, dass mein Nachbar wohl, bepackt mit einem unheimlich großen Rucksack voller Konservendosen ins Straucheln gekommen und auf die Straße gestürzt wäre. Und nun übertreibt man solche Geschichten ja ganz gern, aber angeblich hatte der Laster, der, zeitlich unglücklich abgestimmt, um die Ecke gebogen war, eine ziemliche Sauerei verursacht, als er Herrn Lockermann überrollt hatte.

Schon seltsam, dachte ich in dem Zusammenhang, wie zynisch das Leben mitunter aufgelegt ist: Am Ende war es für Herrn Lockermann doch egal gewesen, ob die Titanic unterging oder gleich die Welt. Der Lastwagen hatte die ganze Thematik mit viel Gewicht und jeder Menge PS ziemlich schnell im Keim erstickt. Tja, und Herrn Lockermanns Mayas? Die hätten sich vermutlich gefreut, wenn ihnen jemand gesagt hätte, dass es viele, viele Jahre nach ihnen noch Menschenopfer wegen ihres blöden Kalenders geben würde.