Kinderbücher
Erstes Kapitel

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"Erstes Kapitel"
Veröffentlicht am 29. Juli 2010, 32 Seiten
Kategorie Kinderbücher
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Erstes Kapitel

Erstes Kapitel

Donnerstag, 20. Juli, Bauernhof Maier, auf dem Dachboden, Waldburgweg 3b, 01:45 Uhr

Es war Nacht. Feine, silbrige Spinnwebfäden schimmerten im fahlen Mondschein. Schaurig blasses Licht fiel durch die verstaubten Fensterscheiben auf den wuchtigen Schreibtisch, sodass man dessen Umrisse nur schemenhaft erkennen konnte. Zahllose Dokumente fügten sich mit aufeinander gestapelten Büchern und vereinzelt Essbarem zu einer leblosen, kraterähnlichen Landschaft zusammen. Auf einmal doch, fast gänzlich unscheinbar, regte sich etwas: In der Mitte des Schreibtisches lag ein Zeitungsausschnitt, der einen spektakulären Mord betitelte. Er erzitterte kurz, sank daraufhin aber gleich wieder in seine ursprüngliche, ruhige Position zurück. Es war, als hätte der hinter Gitterstäben abgebildete, wütend schreiende Häftling einen letzten erfolglosen Ausbruchsversuch gewagt. Unter dem zerknitterten Papier lugte nun das kleine, matt schwarz glänzende Köpfchen einer jungen Schildkröte hervor, die sich sogleich mit einem energischen Schlag ihres kleinen Schäufelchens des Lokalblatts entledigte, das sie noch halb bedeckt hatte. Beharrlich bahnte sie sich mit ihrem gescheckten Panzer den Weg durch die nächtliche Unordnung, schob sich gekonnt über aufgeschlagene Bücher und verstreute elektronische Kleinteile, hin bis zur abgewetzten Holzkante des Schreibtisches. Dort verharrte sie festgekrallt, streckte ihren kleinen Kopf noch weiter aus dem Panzer hinaus und fixierte mit sehnsüchtigem Blick ein an der gegenüberliegenden Wand angebrachtes Poster. Auf diesem war ein karibischer Palmenstrand abgebildet, hinter dem die brennende Sonne soeben im Meer versank.

Wie ein Donnerschlag durchbrach der Schuss die Stille. Der gesamte Dachstuhl erzitterte. Pfeilschnell zuckte der Kopf zurück in den Panzer und löste damit ein bedrohliches Wanken aus. Die Schildkröte verlor ihr Gleichgewicht, kippte vorne über und fiel schlingernd in den auf dem Boden stehenden Papierkorb.

Ich riss meine Augen auf und schreckte in die Höhe. In meinem Kopf herrschte lähmende Leere. Ich saß kerzengerade und lauschte gebannt. Es herrschte Stille. Vollkommene Stille. Verdächtige Stille. Die Zeit verstrich. Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen, die allmählich in mein Bewusstsein zurückdrängten. Ein Einbrecher? Ein Dieb? Ein...

»Thea?« Ich wirbelte herum.

»Mensch!«, zischte ich. »Hast du mich aber erschreckt!« Mein Herz schlug mir bis zum Hals und mein Pulsschlag wummerte nur so in den Ohren.

»Hast du das auch gehört?« 

»Wenn ich nun mal von diesem ländlichen Sauerkraut Blähungen bekomme, kann ich da auch nichts für. Schlaft jetzt weiter, der Geruch verdünnisiert sich schon im Raum.«, kam es verschlafen von meiner rechten Seite.

»Nicht du Wasti! Da hat jemand geschossen! Boris?«

»Ja, da wollte ich dich doch eben schon fragen!«, bestätigte er mehr oder weniger zu meiner Linken. Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ich drehte mich wieder nach vorne und versuchte, in den düsteren Umrissen meiner Umgebung etwas zu erkennen. 

»Na und, dann wurde halt geschossen?! Es hat aber niemand geschrien, also ist nichts passiert. Schlafen wir weiter!«, nuschelte Sebastian im Halbschlaf und zog sich seine Bettdecke über den Kopf.

»Ja meinst du, jemand geht um zehn vor zwei – in der Nacht  wohlgemerkt – in den Wald auf die Jagd? Oder vielleicht zur Übung Tontauben schießen, weil man in der Nacht ja auch so gut sieht? Irgendwas muss doch passiert sein!«

»Oh Gott, hoffentlich ist nichts mit meinen Großeltern! Ich muss nachschauen!«, bangte Boris plötzlich. »Wer kommt mit? Thea, du?«, griff er meine linke Schulter und schob sich an mir vorbei ans Fußende des Bettes. Erst jetzt bemerkte ich, dass mir mein Nachthemd verrutscht war.

Allen anderen Mädchen in meinem Alter wäre das wohl schrecklich peinlich gewesen, hätte man doch im Ansatz etwas erkennen können! Doch Boris, Sebastian und ich kannten uns schließlich seit dem Kindergarten und waren seither wohl das, was man beste Freunde nannte. Eigentlich hatten wir voreinander keine Geheimnisse und vertrauten uns blind.

»Ich komme mit!«, antwortete ich entschlossen, auch da ich es im Hinblick auf Sebastians behäbige Schlaftrunkenheit vorzog, von Boris beschützt zu werden. Der stand schon auf dem Boden unter dem auf alten, knorrigen Dachbalken gestützten Hochbett, als ich mich erneut zu Sebastian umsah.

»Ähm, ja, also ich werde dann mal die Toilette aufsuchen und, danach, da – müsste ich vielleicht, ja, ein bisschen wischen – äh, ich meinte stauben, abstauben, hier, also…«, wälzte er sich unter der Bettdecke hervor.

»Schon gut!«, grinste ich. Ich zupfte mein Nachthemd zurecht und schob mich auf meine Ellbogen gestützt an die Kante des Bettes.

»Taschenlampe!«, erinnerte mich Sebastian.

Ich wollte gar nicht daran denken: Jemand konnte tot da unten liegen, auf dem Heuboden, nur ein Geschoss unter uns! 

Ich klemmte mir die Lampe zwischen die Zähne und sprang trotz Dunkelheit gekonnt auf die Kissen, die wir nahezu auf dem gesamten Dachboden ausgelegt hatten. So konnten wir uns hier oben ungehört bewegen, unterhalten und auch mal lauter Musik hören. Unter dem Bett, das nur knapp in die Dachschräge eingepasst war, hatten wir einige Regale aufgestellt, in denen wir neben Büchern auch unsere meisten Habseligkeiten verstauten. Boris hatte bereits die kleine Luke geöffnet, die sich auch unter dem Bett, ganz hinten in der Ecke an den Dachbalken befand und stand mit beiden Beinen in dem kleinen Hohlraum darunter, einem alten Abluftschacht. Dieser gehörte noch zu einem ehemaligen Heutrockner, welcher sich früher hier auf dem Dachboden befunden hatte und war nach dessen Demontage schlichtweg übrig geblieben. Aber das war auch gut so, denn schließlich kaschierte der silberne Schacht geschickt die grobe Falltür in der Holzdecke und verbarg somit auch den einzigen Eingang zu unserem Hauptquartier. 

»Wartet, wartet, wartet!«, trampelte hinter uns plötzlich Sebastian.

»Du kommst doch mit?«, wunderte ich mich. 

»Ich? Nein, aber… ihr braucht etwas zur Verteidigung!«

»Hab‘ meinen Baseball-Schläger!«, entgegnete Boris, langte in den Schacht hinab, griff sich das massive Holzstück und setzte zum Schlag an.

»Und du, Thea? Hast du etwas?«

Ich schob meine rechte Augenbraue in die Höhe und fasste mir unschlüssig an den Hinterkopf.

»Hier: Nimm’ das!«, drückte Sebastian mir eine verrostete Bratpfanne in die Hand.  

»Eine Bratpfanne?«, höhnte ich.

»Ja! Hast du jemals ein schlagkräftigeres Instrument gesehen, das sich derart elegant in deine weibliche Grazie einfügt?«

»Du, also ich gebe dir gleich „Grazie“!«, schwang ich die Bratpfanne und zielte auf seinen Kopf.

»Dafür ist später Zeit!«, verteidigte er sich. »Los! Geht schon!«

Boris hatte sich schon hingekniet um – so leise wie möglich – die untere Klappe im Abluftschacht zu öffnen, die auf den Heuboden führte. Er ließ eine kleine Strickleiter hinunter, um den späteren Aufstieg zu erleichtern – wenn wir überhaupt noch einmal nach oben kamen! Ganz Gentleman, ließ er mich zuerst in den weichen Heuhaufen springen, den wir unter unserem Ausstieg aufgetürmt hatten. Mit einem leisen, knisternd-dumpfen Geräusch landete ich in den umherstobenden Heuhalmen und krabbelte auf allen Vieren hinter den nächstgelegenen Dachbalken. Die Verstrebungen der imposanten Dachkonstruktion kreuzten sich an vielen Stellen, wodurch sie uns ein gutes Versteck boten. Boris gab mir zu erkennen, dass er die rechte und ich die linke Seite des vom Mond schaurig erleuchteten Heulagers untersuchen sollten und so trollten wir uns lautlos meist von einem Heuballen zum nächsten. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis ich mit einem dieser Balken kollidierte, da war ich mir sicher. Boris kannte sich im Hause seiner Großeltern schließlich auch im Dunkeln aus.

»Also ich sehe da niemanden!«, informierte er mich wispernd.

»Ja, bei mir ist auch keiner!«, bestätigte ich.

»Schauen wir uns doch so um! Wenn doch noch jemand da ist, werden wir das meiner Meinung nach am nächsten Schuss hören.«, witzelte er etwas verkrampft. Wir hatten schon fast den ganzen Dachstuhl durchkämmt, als ich über die wackeligen Planken balancierend in die Nische einer Dachgaube trat:

»Ihh, Spinnenweben« Ich sprang zurück und versuchte mir wie von Sinnen, die klebrigen Fäden aus dem Gesicht zu zupfen. Meiner ekelbedingten Unachtsamkeit hatte ich es zu verdanken, dass ich auf ein morsches Brett trat, das unglücklicherweise nachgab und ich krachte bis zum Knie ein.

»Ahh, Boooriiis!«, keifte ich und versuchte verzweifelt meinen Fuß wieder aus diesem Loch zu ziehen, der jetzt wegen der vielen Spreißel wahrscheinlich aussah wie ein Igelfuß! (Hatten Igelfüße überhaupt Stacheln?) Mit jedem Zentimeter, den ich meinen Fuß in die Höhe ziehen wollte, verkratzten die hervorstehenden Splitter meine Wade mehr und mehr. Schließlich stellte ich ihn vorsichtig neben meinen rechten Fuß und leuchtete darauf. Ich bekam ein Bild des Jammers geboten: eine Mischung aus Blut, Stroh, Holz und Schmutz hatte sich recht ansehnlich um meinen Fuß drapiert.

»Rumpelstilzchen«, raunte Boris grinsend.

»Weil ich gerade eben so herumgehüpft bin? Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich – dich gleich köpfen werde«, stürmte ich schreiend auf ihn zu – stets meinen Arm vor meinem Kopf ausgestreckt, um weitere Spinnweben abzuwehren. Kurz bevor ich ihn jedoch erreichte, drosselte ich meine Geschwindigkeit, warf ihm nur einen verächtlichen Blick zu und setzte meine Suche fort. Auch wenn wir es mittlerweile für absolut unwahrscheinlich hielten, dass sich noch jemand auf dem Heuboden befand, nachdem Boris bei meinem Keifen in schallendes Gelächter ausgebrochen war, wollten wir eben überall nachsehen. Die kleinen Lichtkegel unserer Taschenlampen tanzten orientierungslos über die schrägen Dachseiten. 

»Hey Bobbele! Ich hab hier was; komm mal schnell her!«, winkte ich hektisch wie eine Fluglotsin mit den Armen in der Luft herum.

»Nenn‘ mich nie wieder Bobbele, dass das klar ist!«, quiekte Boris wegen seines Stimmbruchs ungewollt, als er hinter einem der großen Heuballen hervor kroch.

»OK, ist gut«, äffte ich seine in diesem Augenblick hohe Stimme nach.

»Wie Dominik letztens bei „Diiiie Glocke“«, lachte ich.

»Rumpelstilzchen, es reicht! Eindeutig!«

Ich räusperte mich demonstrativ.

»Entschuldige! Schau her: Hier liegt eine Kugel, eine Kanonenkugel!«, präsentierte ich meinen Fund.

»Wer ist denn so wahnsinnig und schießt eine Kanonenkugel durch unser – schau dir mal das an! Das gesamte Dachfenster wurde durch den Einschlag aus den Angeln gerissen! Wenn das mein Opa sieht, bin ich tot!«

»Und was hat das jetzt gebracht? Was soll –«, ging ich in die Hocke, um die Kugel genauer unter die Lupe nehmen zu können.

»Das Fenster ist kaputt«, stöhnte Boris, der sich ungläubig aus dem Loch in die kühle Nacht hinausgelehnt hatte.

»Ja, das sehe ich!«, bestätigte ich genervt. In meiner Nasenspitze begann es zu kribbeln, wie immer, wenn meine kleinen grauen Zellen ihre Arbeit aufnahmen. Ich hob die schwere Kugel vom Boden auf. Irgendwie konnte ich das noch nicht ganz begreifen… Wie unwirklich – eine echte Kanonenkugel, hinaufgeschossen, hier in den Heuboden!

»Da! Da ist eine Rille drin, wie bei den Überraschungseiern!«, äußerte ich und fuhr sie mit den Fingern nach.

»Na dann mach’s auf, ich glaube kaum, dass du die äußere Hülle erst essen musst!«

»Superwitzig! Aber – ich krieg sie – nicht – auf!«, versuchte ich angestrengt die beiden Kugelhälften in entgegengesetzte Richtungen zu drehen.

Mit den Worten »Lass mich mal!«, ergriff Boris beherzt die Kugel, verzog etwas sein Gesicht und ächzte leicht theatralisch, doch dann schien es tatsächlich zu klappen! Die beiden Hälften entfernten sich voneinander und Boris hatte nach einem leisen Klick plötzlich zwei Halbkugeln in der Hand. Intelligenterweise hatte er den Schlitz senkrecht gehalten, sodass der Inhalt der Kugel, ein kleines, beiges Päckchen, auf den Boden gefallen war.

»Wow, da ist ja wirklich was drin!«, staunte er.

Ich beugte mich und hob das Päckchen auf: Es war im Gegensatz zur Kugel federleicht und sorgsam mit Packpapier verschnürt worden.

»Komm, wir machen das oben auf!«, schlug ich mit verunsicherter Stimme vor.

»Ja schnell, sonst werden wir noch umgebracht, hihihi«, witzelte Boris. Ich beschloss, auf diese Bemerkung nicht näher als mit einem genervten Brummen einzugehen.

Boris schwang sich geschickt wie Tarzan die Strickleiter empor und kroch geschwind in die Dunkelheit des Abluftschachtes. Ich hingegen hatte da so meine Schwierigkeiten, da ich in der linken Hand das kleine Päckchen in der Bratpfanne balancierte und zudem meinen linken Fuß nicht normal belasten wollte. Als ich gerade die ersten drei Sprossen geschafft hatte, geschah es plötzlich: Wir hörten, wie jemand im Treppenhaus zu der Wohnung von Boris’ Großeltern das Licht anknipste und dadurch den Bereich des Bodens um die Tür schwach erleuchtete.

»Los beeil’ dich! Mach schon!«, hetzte mich Boris. Ich nahm zwei Sprossen auf einmal und streckte ihm die Bratpfanne nach oben entgegen. Die Strickleiter schwankte bedrohlich. Mit stampfenden Schritten eilte jetzt jemand die Treppe hinauf. Mich packte die Angst. Boris griff mir unter den Arm und half mir in die Dunkelheit hinauf. Gerade als ich mich dort erschöpft neben der blechernen Luke niedergelassen und wir die Strickleiter in das Kämmerchen zurückgezogen hatten, flog die Tür auf und das Licht strömte in den Raum. Boris schloss leise und vorsichtig die Falltür. Wir lauschten gebannt. Ich traute mich kaum zu atmen.

Mein Herz pochte, hatte uns der Einbrecher gehört? War es überhaupt ein Einbrecher? Ein Einbrecher, der das Licht anschaltete? Vielleicht Baron Münchhausen, der sich bei seinem nächtlichen Ausflug verflogen hatte und jetzt seine Kugel suchte? Quatsch, aber dann war es doch ein Einbrecher? Welch Einbruchsstrategie! Erst ein Fenster im ersten Stock ganz unauffällig mit einer Kanonenkugel zertrümmern und dann dort nicht einmal hineinklettern?

»Wer ist da? Ich habe ein Gewehr! Boris bist du das?«, schnodderte die Stimme unter uns. »Komm raus, ich finde dich!«

»Puh, nur Opa«, flüsterte Boris erleichtert. Mir fiel ein Stein vom Herzen! Ich atmete tief ein und stemmte die zweite hölzerne Falltür nach oben auf.

Sebastian fiel mir direkt in die Arme: »Was ist los, ist euch was passiert? Erzählt!«, verlangte er aufgeregt, während ich meinen Oberkörper auf den Boden unseres Hauptquartiers zog. Mein Bein baumelte noch immer schmerzend in den Schacht hinab.

»Nichts Wichtiges«, bemerkte Boris beiläufig und entstieg dem Lüftungsrohr. Lässig klopfte er Sebastian auf die Schulter und legte die Kanonenkugel auf unseren Schreibtisch. Sebastian war ihm hinterhergetippelt und löcherte ihn nun mit Fragen. Übrigens ein Grund, warum wir Sebastian eigentlich nur Wasti nannten: Es betonte auf eine gewisse Weise seine nicht zu leugnende Hundeartigkeit, die er zuweilen an den Tag legte. Ich rappelte mich hoch und humpelte etwas unbeholfen zu unserem Waschbecken.

»Thea, geht’s dir gut, ist was passiert?«, stürmte Wasti wieder auf mich zu, als er meine Verletzung bemerkt hatte. Er war aufgekratzt wie ein junges Huhn. »Oh mein Gott! Zeig her! Was ist passiert?«, starrte er meine Wade an, die ich mittlerweile ins Waschbecken gestellt hatte. »Eingebrochen, hä?«

Ich nickte zustimmend.

»Das hat sich aber auch wie Katzenmusik angehört, was ihr dort unten veranstaltet habt.«

Ich wusch mit warmem Wasser die Dreck- und Blutreste ab und tupfte die Wunden dann vorsichtig mit einem Handtuch ab. 

»Warte, ich helfe dir!«, bot sich Sebastian als Stütze an.

»Nein, ich trag dich«, war Boris aufgesprungen. Ich  lächelte dankend und humpelte dann kurzerhand selbst um die Regale herum, die zugleich auch die Abtrennung zu unserer kleinen Nasszelle darstellten.

»Jetzt erzählt aber!«, lenkte Sebastian die Gespräche wieder zum eigentlichen Thema zurück und so schilderte ich der Reihe nach, was passiert war – bis ich zu dem Punkt kam, an dem das kleine Päckchen zu erwähnen war. 

»Ahh! Das Päckchen«, fiel es mir wie Schuppen von den Augen! Ich robbte auf dem Bauch zu der Falltür, öffnete diese und beugte mich kopfüber hinein.

»Nein Thea! Das Leben ist so schön, das hat keinen Sinn! Harakiri ist doch keine Lösung!«, plärrte Sebastian und überschlug sich beim Aufspringen nahezu. Ich tastete mit meinen Fingern den Boden des Schachtes ab, erfasste den Griff der Bratpfanne und hob sie empor zu mir. Dann schob ich mich wieder auf den Boden und kroch zurück auf die Kissen – auch Sebastian setzte sich wieder. 

»Jetzt brauche ich doch ein Kirschkernkissen – mein Magen schon wieder«, prustete er geschafft und warf den knirschenden Beutel in die Mikrowelle. Ich zerschnitt derweil vorsichtig die hellbraune Außenverpackung des kleinen Paketes und leerte die inliegenden Styropor-Kügelchen vorsichtig mit vorgehaltenen Fingern auf einen großen weißen Pizzateller. Nach nur kurzer Zeit hielt ich einen Klumpen aus mehreren Plastiktüten in den Fingern. Sebastian und Boris starrten mich gebannt an.

»Na wenn das mal nichts Gefährliches ist! Ich habe Reportagen über neue Vergiftungstechniken gelesen. Da gibt es mittlerweile synthetisch hergestellte Stoffe, die können schon im Gramm-Bereich alles Leben in mehreren Kilometern Umkreis töten und –«

»Ach hör doch auf!«, unterbrach ihn Boris angespannt. Sebastian lehnte sich schmollend zurück. Mittlerweile hatte ich Tüte für Tüte abgetragen und war auf ein wohl drei auf drei Zentimeter kleines Kästchen gestoßen.

»Das, das sah so aus in der Reportage und –«

»Es reicht Wasti! Danke«, würgte ich ihn ab, wofür sich Boris bei mir mit einem Schmunzeln bedankte.

»Und was ist das jetzt?«, fragte er interessiert, als das Grinsen von seinem Gesicht gewichen war.

»Keine Ahnung!«, gab ich zu. »Wasti?«

»Ach braucht man mich doch!«

»Jetzt sei nicht so schnippisch! Hier!«, überreichte ich ihm das Kästchen. Er drehte und wendete es, horchte, roch und schüttelte es.

»Das ist knifflig, sieht aus wie eine Art Lüfter, hier diese kleinen Rillen, da rauscht auch irgendwas drin«, legte er wie ein Professor seine Untersuchungen dar. »Ich kann nichts Genaueres sagen!« Er reichte das Objekt an Boris weiter, der damit zu unserem Schreibtisch ging und es unter die beleuchtete Lupe hielt. Doch auch, wenn er es drehte und wendete, schien das kleine Schwarze ihm sein Geheimnis nicht verraten zu wollen: 

»Mmh, sieht fast aus wie diese Rauchmelder, die meine Oma in den letzten Wochen hier überall hat aufhängen lassen – aber dafür ist es zu klein, denke ich.«

Ich gähnte geschafft. Die Nacht übermannte mich und so beschlossen wir, uns wieder schlafen zu legen. Ausgeschlafen würden wir sicher herausfinden, worum es sich bei diesem geheimnisvollen Kästchen handelte. Was wir schon alles für Rätsel gelöst hatten! Sebastian kletterte schon ins Bett und ich wollte mir noch etwas Salbe auf die Kratzer schmieren. Auch Boris schwang sich athletisch hinauf, ich schaltete das Licht aus und gerade als ich ebenfalls hinaufklettern wollte, ertönte ein unwahrscheinlich lautes, schräges Geräusch. Es klang wie ein altes Modem, das sich ins Internet einwählte. Ich erschrak fürchterlich und hüpfte umgehend zum Lichtschalter zurück. Nach gut drei Sekunden verstummte das Geräusch so unvermittelt, wie es angefangen hatte.

»Was war das denn bitte?«

»Ich nehme an, das war unser neues Objekt da!«, antwortete Boris cool. Ich humpelte zum Schreibtisch, wo das Kästchen auf einigen Schulheften lag. Gerade, als ich mich darüber gebeugt hatte, heulte das Geräusch erneut auf. Mit einem spitzen Schrei schreckte ich hoch, doch wie zuvor herrschte nach wenigen Sekunden wieder Stille.

»Ka–u«, staunte ich, ein leises Piepsen im Ohr.

»Wieso „Kuh“?«

»Hää?«, gab ich fragend an Sebastian zurück, der anlässlich des zweiten Piepsens aus dem Bett gekrochen war.

»Ja, du hast „Cow“ gesagt, englisch für „Kuh“«

»Nein, das habe ich nicht gesagt«

»Doch!«

»Nein, ich wollte „Kacke“ sagen, aber wir hatten uns doch vorgenommen, weniger zu fluchen! Und danach „u“ als Ausdruck meiner Überraschung.«, erklärte ich mich.

»Soso«, grinste Boris, der aus dem Bett herunter lugte.

»Thea, geh weg, ich bin mir sicher, das fängt gleich wieder zu piepsen an!«, warnte Sebastian mich besorgt. Ich entfernte mich und, natürlich, gerade als Sebastian das Kästchen erfassen wollte, gab es erneut dieses schrille Geschrei von sich. Dieses Mal mussten wir uns sogar die Ohren zuhalten, denn es war deutlich lauter als die beiden vorherigen Signale, oder wie man sie auch immer nennen wollte und dauerte auch mindestens doppelt so lange an. Plötzlich verwandelte sich das Geräusch jedoch und es war nur noch ein lautes Knacken zu vernehmen, wie ein loderndes Kaminfeuer oder ein altertümliches, rauschendes Radio – bis schließlich eine weibliche Stimme erklang, die klar und deutlich zu vernehmen war:

 

»Einen guten frühen Morgen, Miss Kolly...

Wie ich annehme, haben Sie diesen Fernempfänger nun gefunden ich hatte auch nichts anderes erwartet.« 

Kurzzeitig wurde die Stimme von einem erneuten Rauschen unterbrochen.

» mich Ihnen kurz vorstellen: Mein Name ist Land, Erika Land. Ich bin, wie Sie sicherlich wissen, Gräfin von -« Es knackte abermals. »Wie Sie sicherlich der Tagespresse entnommen haben, ist mein Vater Karl-August, ehrenwerter Graf, in der vorigen Woche verstorben.«

Wir sahen uns an. Ich las keine Zeitung – und Boris sicher auch nicht. Mir war das zu langweilig und Boris hätte noch früher aufstehen müssen, um neben seiner halbstündigen Schönheitsbehandlung im Badezimmer noch Zeitung zu lesen. Auch Wasti zuckte mit den Schultern, schnappte sich einen Stift und stenografierte mit. Dann setzte unsere schaurige Besucherin ihre Rede fort:

»Beachtenswert dabei ist, dass sich mein Vater umgebracht hat. Warum, weiß ich zum jetzigen Zeitpunkt selbst noch nicht!

In seinem Testament hinterließ er mir jedenfalls ein Rätsel, das ich zu lösen habe, um mein Erbe zu erhalten. Daran hängt aber nicht nur viel Geld, sondern auch das Vermögen seiner Stiftungen!

Leider bin ich aber zur Zeit geschäftlich unterwegs und kann den Auftrag nicht übernehmen. Auch mein Sohn Theodor steht nicht zur Verfügung. Deswegen wende ich mich an Sie, Miss Kolly – Sie sind meine letzte Hoffnung!

Sie verstehen sicherlich, dass ich Ihnen den Auftrag nicht einfach so überlassen kann. Lösen Sie folgendes, einfaches Rätsel zum Einstieg und Sie erhalten alle nötigen Informationen zur Erfüllung des Auftrages – inklusive 5.000 Euro Anzahlung in bar für Ihre anfallenden Spesen:

„Dies Ding, das man finden soll,

dreht sich nach der Gewalt der Natur.

Auch zum Trotz des Wetters Groll,

findet es sich ganz hoch oben nur.“

Beachten Sie, dass Sie die Prüfung noch heute lösen müssen, um den Auftrag fristgerecht ausführen zu können.

Vielen Dank, ergebenste Grüße.«

Es piepste kurz und dann stiegen kleine Rauchschwaden aus dem schwarzen Gehäuse auf. Verdattert und völlig perplex starrten wir drei auf die Rauchfahnen, die sich in der Luft verloren.

»Fünftausend Euro als Anzahlung«, brachte Boris japsend heraus. Ich befand mich gar nicht in der Lage, irgendetwas zu sagen. Wir starrten uns still an. Da war er also, unser erster, offizieller Auftrag, waren wir doch sonst in unsere Fälle eher nur hineingestolpert. Unser letzter Auftrag handelte von fünf vermeintlich unwahrscheinlich kostbaren Porzellanfiguren, was sich allerdings recht schnell als Flop herausstellte. Denn der Auftraggeber war ein schon etwas älterer Herr, der anscheinend vergessen hatte, dass er diese Kollektion im Wert von nur knapp fünfzig Euro vor wenigen Tagen seiner Putzfrau zum Geburtstag überlassen hatte, worüber er sich im Nachhinein sehr empörte.

»Von wegen geschäftlich abwesend – die hat nur Schiss«, ergriff Boris wieder das Wort. Ich grummelte. 

»Wozu denn der Aufwand mit diesem Teil da?«, wandte ich mich an Wasti. 

»Naja, jetzt wissen wir wenigstens, was es ist.«

»War!«

»Danke, Boris. Ja, so eine Art Memo-Karte, die aus der Ferne gesteuert werden kann! Cool«, gab er mir als Antwort.

»Keine Ahnung. Vielleicht würde es auffallen, wenn sie anruft?«, lieferte Boris nachdenklich.

»Wo denn, Bobbele, öh, Boris, niemand kennt doch unsere Telefonnummer!«, antwortete ich. 

»Stimmt! Außerdem sind Briefpost, Fax und eMail, in Anführungszeichen abhörbar!«, setzte Sebastian hinzu.

»Aber es hätte auch keine Kanonenkugel sein müssen. Sehr unauffällig.«, entgegnete ich.

»Die kann man aber wenigstens nicht abhören!«, kicherte Boris.

»Irgendwie scheint mir das komisch zu sein, Leute! Wer verspricht denn schon so viel Geld – nicht einmal persönlich – und meint das ernst?«, bemerkte Sebastian. »Wer wendet sich an drei, wenn auch schon sehr professionelle Detektive, aber doch Kinder, um sein Erbe ausfindig zu machen? Und es scheint ja nicht gerade um wenig zu gehen.«

»Wieso auch der Aufwand mit der Kugel? Doch, wenn ich mir das überlege, hast du schon Recht.«, stimmte ich zu. Ich kratzte mich an meiner Nase.

»Interessant, dass das mit unserem Pseudonym schon solch große Kreise zieht.«, meinte ich.

»Du meinst, dass diese Gräfin weiß, dass wir drei Miss Kolly sind?«, hinterfragte Boris meine Aussage. Ich nickte und gähnte erneut.

»Seid ihr eigentlich nicht auch so müde wie ich?«, raunte Sebastian gähnend mit vorgehaltener Hand.

»Ich bin auch schon ziemlich schläfrig«, bemerkte ich benommen, während ich meine Augenlider mit Daumen und Zeigefinger weit offen hielt.

»Wie könnt ihr denn jetzt ans Schlafen denken? Die hat gesagt, wir müssen diese Aufgabe noch heute lösen! Und wie heißt das… Mann! Das mit… Der frühe Vogel hat den goldenen Wurm?«, ging uns Boris energisch an. Er war hin und weg vor Aufregung.

»Also komm! Reg‘ dich ab, das ist eine – Entschuldigung, Verarschung. Wir gehen jetzt schlafen, das ist ja lächerlich. Los!«, schloss Sebastian fast wie meine Mutter.

»Aber was, wenn das doch echt ist? Ich kann doch jetzt nicht ins Bett gehen! Wir müssen dieses Rätsel lösen!«, ereiferte er sich aufs Neue, traf mit seinen Parolen bei uns jedoch nur auf missbilligenden Boden.

»Hey, mein Fuß tut weh! Und auf die Lösung dieses komischen Rätsels kommen wir jetzt sicher auch nicht mehr! Und für dich mein Freund: Einen Euro in die Fluch-Kiste«, erwiderte ich niedergeschlagen. Ich kletterte die Stufen zu unserem Hochbett hinauf, Sebastian legte das warme schwarze Kästchen in eine Schale, grummelte über den verschenkten Euro, obwohl er sich darüber von uns dreien am wenigsten Gedanken zu machen brauchte und schaltete dann das Licht aus. Aus Angst davor, ein weiteres solch schreckliches Geräusch könnte in der Dunkelheit ertönen, verweilte er kurz beim Lichtschalter, huschte dann aber auch ebenfalls schnell ins Bett, vermummte sich wieder unter seiner Bettdecke und nur fünf Minuten später schnarchte er wie ein Braunbär. Ich lag noch lange wach und sann von den vielen Dingen, die sich in der letzten Stunde ereignet hatten. Das ergab doch alles keinen Sinn…

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florianbultman

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Apollinaris Da ist noch ein Schreibfehler auf den ich dich aufmerksam machen will:

... schien das kleine Schwarze ihm sein Geheimnis nicht verraten zu wollen: ...

Da fehlt wohl noch Kästchen. ;-)

Sonst sehr gut geschrieben und interessant !! Schönes ansprechendes Cover, noch nebenbeibemerkt !! :-)

Werd mal auf deiner Site vorbeischauen !! :-)

Simon
Vor langer Zeit - Antworten
florianbultman Kommente und Anregungen... - ... nehme ich gerne über meine Homepage www.miss-kolly.de entgegen.
Dort findet ihr auch weitere Informationen zum Buch, ein Interview mit mir sowie - natürlich - die Fortsetzung... :-)
Vor langer Zeit - Antworten
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