Fantasy & Horror
Der alte Feind - Leon und die alte Schule

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"Der alte Feind - Leon und die alte Schule"
Veröffentlicht am 16. Juli 2010, 72 Seiten
Kategorie Fantasy & Horror
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Der alte Feind - Leon und die alte Schule

Der alte Feind - Leon und die alte Schule

Beschreibung

Die ersten Kapitel meines Buches. Leon, ein Kind des 15 Jahrhunderts, durchlebt Schrecknisse, Geistermühlen und Höhenflüge. Grausame Hände greifen nach ihm aber auch freundliche Menschen bereichern sein Dasein. Mit Berühmtheiten wie Gilles de Rais (der schrecklichste Kindermörder der Geschichte), Vlad III (Vorbild für Bram Stokers Dracula) und Guttenberg (Erfinder des Buchdrucks) lebt und leidet der kleine Junge bis ihm die eigene Unsterblichkeit bewusst wird und den Preis den man dafür zu zahlen hat.

Das Manuskript

Von einem Jungen weiß ich zu berichten, dessen Erlebnisse so erschütternd sind, dass ich sie in diesem Buch niedergeschrieben habe. Meine Informationen beziehe ich dabei hauptsächlich aus einem alten Manuskript, welchem ich - unwissentlich - viele Jahre nachjagte. Es nun so nah bei mir zu wissen, erfüllt mich mit einer ungeheuren Zufriedenheit.

Während ich das weiche Leder des Einbandes betaste, denke ich über den Jungen nach: welche Erlebnisse den Jungen prägten und welche Schlüsse ich aus ihnen ziehen darf, welche Leiden der Junge ausgehalten und wohin ihn sein Weg geführt hat. Solche und ähnliche Fragen durchziehen meinen Geist und ich bin mir sicher, dass es ihnen, werter Leser, ebenso ergehen wird.

Und doch, ich kann es nicht leugnen, mich schaudert mein Innerstes vor dieser Wahrheit; ich will es nicht anerkennen. Ich wage es nicht, mich tiefer in diesen Gedanken des Leids, welches der Junge erlebt hat, zu verstricken, denn ein jeder würde sich zweifelsfrei darin verlieren und vor Mitleid vergehen. Diesem jungen Mann gebührt Anerkennung; die Höchste mir mögliche werde ich ihm nun erweisen und seine Hinterlassenschaft, seine autobiographischen Aufzeichnungen, der Öffentlichkeit zugänglich machen.

Ich werde weitere Nachforschungen anstellen und so jene Fragen und Rätsel zu lösen suchen, die sich mit diesem Manuskript neu aufwerfen.

An der Glaubwürdigkeit des Autors von dem mir vorliegenden Material hege ich nicht den geringsten Zweifel; doch wehe uns, wenn es wirklich die reine Wahrheit sein sollte!

 

Ich habe über die Verwicklungen und Beziehungen, wie ich in den Besitz dieser Hinterlassenschaft geraten bin, keinerlei Auskünfte zu erteilen. Viel zu tief ist die Überzeugung, dass jene sich des Lebens nicht mehr sicher fühlen könnten, wenn auch nur im Ansatz deren Beteiligung an dieser Veröffentlichung bekannt werden würde.

Von nun an sehe ich nur das Manuskript, welches ich ihnen zu lesen anempfehlen möchte, als für Sie die Möglichkeit, werter Leser, sich selbst ein Bild von den Ereignissen zu machen, welche in selbigem berichtet werden.

Ich habe den meisten Kapiteln kleine Gespräche angeschlossen, die ich aus Unterlagen, anderen Manuskripten oder auch mündlichen Berichten entnehmen konnte. Es bilden sich dabei auch mitunter widersprechende Aussagen – was jedoch normal ist und keinerlei Lügengebilde vermuten muss.

 

Wenn es ihnen genehm ist, wage ich noch der stillen Hoffung Keim Luft zu verschaffen und mit der Bitte an Sie zu treten, im Falle einer wahren Information über die folgenden Ereignisse, welche sich vielleicht als Überlieferung oder schriftlicher Gabe aus älterer Verwandtschaft oder Bekanntenkreis erweisen, mir zugänglich zu machen. Sie werden diesbezüglich über den Verleger Meiner erreichen.

 

Hochachtungsvoll

 

Der Sucher

 

Ich muss es noch hinzufügen: Ich habe Angst. Nein, es ist mehr, – ich bin im innersten Mark erschüttert, so als sei mir etwas Übernatürliches widerfahren – und genau den Anschein hat es. Ich weiß nicht ob es das Richtige ist, diese Geheimnisse zu offenbaren, doch bin ich der Überzeugung, dass mir keine andere Wahl mehr bleibt. Die Last, die dieses Manuskript für mich bereithielt, ist weit schwerer, als ich allein zu schultern vermag. Ich hoffe, ich kann sie durch die Veröffentlichung verringern, denn andernfalls hege ich Zweifel, ob es mir gelingt die Welt mit diesem Wissen zu ertragen. Ich hoffe, ich kann weiter leben, und schrecke nicht auf den alten Feind.

 

 

 

 

 

Dortmund den 15. Oktober 1898

Prolog

Ich habe jene Pforten durchschritten, eben jene Kluft zwischen Mensch und Tier, zwischen Mensch und Gott.

Von den tiefsten Abgründen der menschlichen Existenz, jenseits von allen Normen und Werten und nun hoch über dem Menschen – es war mein Wille nicht.

Und doch bin ich mir jetzt bewusster denn je ein Mensch zu sein. Ein Mensch der neuen Welt, welche gerade im Begriff ist zu entstehen; der selbst aus den alten Ruinen eines vergessenen Weilers stammend noch immer lebt.

Von quälenden Gedanken an meine Kindheit gejagt, bin ich, da mir mit diesem Schreiben den Frieden zu erkaufen als letzte Möglichkeit erscheint, ganz dort, dort zwischen den Zeilen, und warte. Ich teile euch mit, dass wir existieren.

 

Wovon ich zu berichten weiß, ist die ewig alte Legende, die wenige nur noch zu kennen glauben, über den alten Feind und seinen Widersachern.

Jeder Mensch spürt es innerlich, es ist der alte Teufel Angst, der sich immer einem zu bemächtigen hofft; er durchzieht unsere Gedanken, unseren Körper; und dabei war er wirklich, ist es womöglich immer noch, und wird es auch ewiglich sein, denn wir sind Menschen.

Kapitel 1 Der Rittermarsch

„Aus kleinem Anfang entspringen alle Dinge.“

 Cicero

 

 Ich war, an diesem Spätfrühlingsabend im Jahre des Herrn 1440, sechseinhalb Jahre alt. Meine Familie bestand nur noch aus meinen beiden älteren Brüdern und meiner Mutter. Großmutter Henna war im Winter gestorben, ebenso wie meine kleine Schwester Sophie. Der Vater war schon eineinhalb Jahre zuvor mit den Soldaten gegangen. Was aus ihm geworden ist, weiß ich bis heute nicht.

Der hundertjährige Krieg trieb viele Familien in den Tod. Die Männer starben durch Schwert und Pfeil und die zurückgebliebenen Familien an Hunger und dem Marschall.

 

Der Holzeimer wog schwer in meiner kleinen Hand. Ich schob den Riegel zur Seite und betrat den kleinen Stall; war er doch nichts anderes als ein anliegendes Zimmer zu unserer Schlafstube. Die einzige Kuh sah verhungert aus. Ihre Milch schmeckte mir jedoch sehr, und so fütterte ich sie voller Zuneigung und Sorge.

Wird sie jemals sterben? Ich könnte es nicht ertragen. Wie sollte ich ohne ihre Milch weiterleben?

„Leon!“, mein ältester Bruder rief mich. Ich wusste, dass dies im Allgemeinen nichts Gutes zu bedeuten hatte.

Fauké war ein Jugendlicher von vierzehn Jahren gewesen, der durch den Weggang unseres Vaters dessen Rolle übernehmen musste.

Mutter war durch die Pflegearbeiten und den Verlust ihrer Mutter und Tochter noch so geschwächt, dass sie wie ein Gespenst über die Felder wanderte. Sie verrichtete ihre Arbeiten, war jedoch tagsüber sehr still geworden, verhärmt und unfähig die Trauer zu verarbeiten, die an ihrem Herzen nagte, sie in den Wahnsinn trieb, dass es einem angst und bang wurde.

 

Ich stellte den Eimer ab und rannte aus dem Stall. Mein Bruder stand mit dem Mittleren von uns Dreien, Oví, und der Mutter auf dem kleinen Hügel nahe unserem kleinen Haus. Sie blickten Richtung Sonnenuntergang. Ich erinnerte mich, dass wir dies früher häufig getan hatten und eilte zu ihnen hinauf. Als ich oben angelangt war, sah ich die Farbenpracht, die mir bis zum heutigen Tage unvergesslich vor meinem geistigen Auge erscheint. Die mächtige Glut, wie sie am Horizont hinab fiel und die Erde zu entzünden suchte, beinhaltet jenen Zauber, der für meine Kindheit steht.

„Das sind aber viele Reiter.“

Für einen Moment wusste ich nicht was mein Bruder Oví meinte, doch dann sah auch ich den Zug. Gut hundert Menschen zogen über die weit entfernte Hauptstrasse.

Voller Bewunderung für die Kämpfer, vor allem für die schwer gerüsteten Ritter, rannte ich Hals über Kopf den Hügel hinab, dem vorbeiziehenden Zug entgegen. Meine Brüder Oví und Fauké folgten mir. Die Mutter blieb verstört zurück.

 

Vater?

 

Die von vorne heranstürmenden Geräusche trieben mich zu noch höherem Tempo. Meine Brüder holten mich nur langsam ein, zu sehr war ich besessen davon vielleicht unter den Rittern einen zu sehen, deren Gesicht oder Statur sich schon von Vaters Erzählungen herleiten ließ. Womöglich kannten sie meinen Vater schon. Ich war schlicht davon überzeugt, dass sie ihn kennen mussten. Er war schließlich der Mann, der den Krieg beenden würde. Er hatte es vor seinem Abschied gesagt.

Oder war mein Vater gar selbst unter den Kämpfern?

 

Die vielen Fahnen, Banner und Menschen schrien mir schon von weitem einen Geruch entgegen, der mich einhüllte und schier den Verstand raubte. Zu sehr erinnerte mich dieses Gemisch aus Schweiß und Leder mit dem Geklirre, männlichem Gegröle und Schreien an meinen Vater. Ich vermisste ihn.

 

Eine Staubwolke überzog diesen endlos scheinenden Wurm aus Mensch und Tier.

Keuchend und entkräftet erreichte ich mit meinen Brüdern die Männer.

Wirre Gestalten reihten sich hintereinander in den Strom, der womöglich in den Krieg zog. Viele würden sterben, dessen war ich mir jedoch nicht bewusst. Für mich war es ein großer Spaß. Eine Parade, die jedoch von weitem einen viel glorreicheren Eindruck vermittelt hatte. Aus dieser Nähe konnte ich die Entkräftungen sehen, die verzerrten und physiognomisch erschreckenden Gesichter. Ich erkannte in diesen Gesichtern das Böse. Ich sah es deutlich und es erschreckte mich so außerordentlich, dass ich zurückwich und zu Boden stürzte. Mit offenem Mund blickte ich auf und besah mir das Schauspiel. Kostbare Gewandungen neben plumper Kriegstauglichkeit; schöne Knaben in engelsgleichen Gewändern auf weißen Ponys neben Gestalten mit vernarbten Gesichtern und faulen Zähnen; Kirchenmänner, die mit goldbestickten Purpurroben hoch zu Ross saßen während nah am Ende des Zuges Frauen in gelber Gewandung frivol lachten und laut jubelten als sie uns, die drei dünnen Knaben, sahen. 

Ein Ritter galoppierte heran; sein Pferd bäumte sich vor mir auf und verfehlte mich nur knapp. Die Panzerung des Mannes war stark. Im ersten Moment konnte ich in diesem Reiter keinen Menschen vermuten. Für mich war dieser Mann überhöht. Kein normaler Mensch konnte unter dieser Panzerung stecken, dessen war ich mir für diesen ersten kurzen Moment sicher.

 

Völlig verborgen unter dem Eisen

blickte er die Knaben an,

die sich verbeugten und zur Seite wichen.

Nur der Jüngste der drei

starrte ihn an.

Er konnte dem Blick des

Jungen nicht standhalten.

Es war nur ein Kind und er

erkannte die Kraft dieses Jungen

 und sein Körper reagierte darauf.

Ihn ließ der Gedanke nicht mehr los; die ganze Reise über dachte er nur an diesen Jungen. Er musste ihn töten.

Oví und Fauké (Frühling 1440)

(Aus einer alten Handschrift, von deren Herkunft ich noch nichts verraten möchte)

 

Er hatte es sich vorgenommen und ging nun mit klopfendem Herzen zu seinem Bruder auf das Feld.

„Irgendetwas stimmt nicht mit Leon.“ Oví stand bei Fauké, der den Pflug zum stehen gebracht hatte und seinen Bruder erstaunt anblickte.

„Was ist passiert? Hat er sich verletzt?“

„Nein, nein, das ist es nicht.“ Oví rieb sich mit den Knöcheln seiner rechten Hand über seine abgewetzte Hose. „Er ist nicht wie wir.“

Fauké verengte seine Augen. Oví sprach schnell weiter, er wollte es nun aussprechen. Zu lange hatte er geschwiegen um jetzt zurückzuschrecken.

„Ich weiß nicht genau wie ich es sagen soll.“ Er wusste es, wollte nur nicht gleich damit herausplatzen. Fauké musste er auf seine Seite ziehen. Nur mit Fauké hätte er es dann gewagt die Mutter damit zu stören.

„Hat er nicht einen anderen Blick als wir?“ Oví merkte, dass Fauké nicht verstand.

„Die Menschen reagieren seltsam. Der Ritter heute, er war ganz entsetzt. Er hatte Angst vor Leon. Vielleicht spinne ich auch nur. Doch glaube mir, wenn ich sage, dass etwas mit Leon nicht stimmt. Sage mir bitte, dass ich mir das einbilde, sage es, und ich werde nie mehr davon sprechen.“ Er blickte seinen Bruder wütend aber auch hilflos an: „Du hast es doch auch schon bemerkt, nicht wahr?“ Leise, beinahe flüsternd, beschwörend, sprach er zu ihm.

Fauké war wie erstarrt und auch Oví blickte seinen Bruder unbeweglich an.

Was sollte er seinem jüngeren Bruder sagen, dass Leon seltsam war, dass ihr gemeinsamer Bruder nicht normal war? Das konnte er nicht.

Er erinnerte sich noch an eine Begebenheit, es war schon lange her. Leon lag alleine im Haus, als Fauké, damals noch ein kleiner Junge, mit seinen Eltern und seiner Großmutter vom Feld kamen. Ein kleines Mädchen mit goldenen Haaren stand bei Leon und beobachtete ihn. Sie war gerade um die acht Jahre alt und sah wunderschön aus. Fauké würde es nie vergessen. Für einige Stunden hatte er damals gehofft sie würde bei ihnen bleiben können. Es war schon später Abend, als Ritter kamen und das stumme Mädchen mit sich nahmen.

Leons Blick erinnerte ihn oft an den dieses Mädchens.

Doch solchen Unsinn konnte er doch seinem Bruder nicht erzählen.

„Als du so alt warst, hast du auch seltsame Dinge angestellt. Wir werden dir deine Gedanken mit Arbeit austreiben.“ Er machte den Platz frei und Oví durfte die alte Kuh antreiben. Für Oví war es eine besondere Sache, da ihn Fauké nie zuvor an den Pflug gelassen hatte. Fauké überlegte. Er hatte sich mit dieser Erlaubnis Zeit verschafft, doch er wusste, das Oví Recht hatte. Leon besaß eine innere Kraft, ein Feuer, das ihm Angst machte.

Vielleicht würde es vergehen, - vielleicht.

Kapitel 2 Der Überfall (Frühling 1440)

"Das Schauereregendste aller Übel, der Tod,

 betrifft uns überhaupt nicht,

 wenn »wir« sind, ist der Tod nicht da;

 wenn der Tod da ist, sind »wir« nicht."

 Epikur

 

 

Wo würde ich Halt finden, wenn ich wieder in dieses Schloss ginge?

Kann ich es wagen durch diese Gedanken wieder diesen Kerker zu betreten?

Würde ich wieder ihren Blick ertragen können, - jetzt wo ich weiß, wer sie ist?

 

Die Nacht über hatte ich kaum Schlaf gefunden, zu sehr waren mir die Ereignisse des Tages noch gegenwärtig. Die Stimmen, die Ausrufe der Frauen, der Schweiß und die Gesichter waren noch deutlich in meinem Geist und ich konnte sogar die Farben zählen. Diese Farbenpracht.

Und ganz intensiv dachte ich an den Ritter. Für mich war es ein stolzer Gedanke auch einmal auf einem solchen Pferd in den Krieg ziehen zu dürfen. Ich würde gefallen daran finden hoch zu Ross zu sitzen und von den Menschen mit Ehrenbekundungen bedacht zu werden. Und mit ein wenig Hochmut erkannte ich, dass mein Vater eben diesem Ruhm entgegengegangen war und bald als Sieger gegenüber den Engländern zurückkehren würde. Ich hoffte darauf, und zum letzten Mal, genau an jenem Abend, betete ich ohne Tränen und ohne Furcht zu Gott.

 

Feuer und Qualm rissen mich aus meinem kindlichen Traum. Ich war alleine. Die kleine Schlafstelle, die ich mir mit meinen Brüdern teilte war von ihnen verlassen worden. Meine Mutter fehlte ebenso.

Schreie, die mich sofort an den gestrigen Tag erinnerten, trieben mich aus dem Haus.

Ein Sterbensschrei durchriss den kindlichen Faden in meinem Kopf. Nur wenige Schritte von dem Haus entfernt standen mehrere Soldaten und schlugen auf meine Brüder ein. Fauké fiel zu Boden. Der Dreschflegel, den er in der Hand hielt, war zerbrochen. Einer der Soldaten richtete sich auf und trat nach meinem sterbenden Bruder. Oví schrie und starb nur wenige Augenblicke später; ein Schwert hatte ihn getroffen.

 

Meine Mutter stand still da und rührte sich nicht. Ich konnte es nicht begreifen und wollte sie anschreien.

Aus einem inneren Sein heraus, dessen ich mir selbst nicht bewusst war, ging ich zu meinen toten Brüdern. Die Soldaten wollten mich nicht beachten. Sie gingen an mir vorbei. Der kleine Junge, der ich war, beugte sich zu Oví, der zitternd am Boden lag. Ich nahm seine Hand. Die Schreie der Männer beachtete ich nicht.

„Es regnet morgen … fühlst du schon den Regen?“

Oví sagte nichts mehr. Fauké war ebenfalls still. Ich lauschte dem Rauschen des Windes und meine Augen glitten ein letztes Mal über den elterlichen Hof.

Nach einer Zeitspanne, derer ich mir nicht mehr bewusst war, wurde ich ergriffen. Nach einem kurzen Kampf verlor ich das Bewusstsein.

Poitou und Gevard (Frühling 1440)

(Gebildet aus der Zeugenaussage eines Mannes bei dem Fall ‚de Rais’, der als Wache bei solcherlei Anweisungen häufiger zugegen war.)

 

 

„Ihr habt die drei Jungen gesehen - bringt sie zu mir.“

Gevard verbeugte sich. Sein Verstand trieb sich durch die Schleier von Blut und wahnhaftem Trieb. Nichts Menschliches mehr, nichts was ihn aufhalten würde. Er hatte keine Moral mehr, keine Skrupel, kein Empfinden, kein Mitleid. Er war an der Seite eines Monsters, seinem Herrn, zu einem Nichtmenschen geworden. Er bemitleidete sich nur noch, wenn er einsam und allein in seiner Kammer auf dem Schloss zubrachte, was er zu vermeiden suchte.

Er war kein Mensch gewesen, auf dem man stolz sein konnte, doch hatte er durch seine Kampferfahrung, die er sich durch Söldnerarbeiten erworben hatte, ein Gespür für Orte entwickelt, wo er Geld verdienen konnte. Er war in die Dienste des Marschalls von Frankreich gelangt, nicht weil er faul war, nicht weil er Befehle in Frage gestellt hatte, sondern weil er sie nach besten Kräften umsetzte. Er war ein Söldner und ein sehr guter.

Für ihn war es nicht seine Aufgabe, die moralischen Verfehlungen seines Befehlshabers oder die Taten, die er in seinem Namen beging, auf sich zu nehmen. Es war ihm aber nicht aufgefallen, dass er mit diesem Vorgehen seine eigenen Empfindungen und Moralbegriffe zerstört hatte. Er wusste was mit den Kindern geschah und er war zu Beginn schockiert gewesen – das Gold wiegte aber schwerer und de Rais bezahlte gut. Er würde noch einige Jahre dienen und sich dann aus dem Söldnerleben als reicher Mann zurückziehen können.

„Ja, Poitou.“

„Ihr habt mich mit Kammerdiener Corrillaut anzusprechen.“

„Ja, verstanden.“ Er hätte diesem Burschen am liebsten den Schädel gespalten, doch er musste gehorchen und vielleicht würde de Rais diesen Esel einst loswerden wollen - er hoffte darauf. Ein netter Gedanke für einen Mann wie ihn, dem das Töten mitunter Freude bereitete.

„Und verschandelt sie mir nicht zu arg, sonst zieht ihr den Groll des Marschalls auf euch und ihr wisst, was das bedeutet.“

Er wusste es nur zu gut.

Kapitel 3 Zum Schloss (Frühling 1440)

„Sterben will ich nicht, aber tot zu sein achte ich für nichts.“

 (Original lat.: Emori nolo, sed me esse mortuum nihil aestimo.)

 Epicharmos

 


Es ist noch da, mit Stein und Blut, eingegraben in meinen Gedanken, bis dass die Zeit Mitleid zeigen möge und es mir nimmt, dies Denken an die armen Seelen.

 

Ich lag in einer Ecke, spürte weder Hände noch Füße und ließ starr die Tränen fließen, die mir langsam aus den Augen rannen. Ein ungeheurer Schmerz entfaltete sich langsam und unerträglich über meiner Stirn.

Ich blickte mich um; jammerte leise in mich hinein, und riss mich dann sofort zurück, heraus aus diesem sich selbst beklagenden Zustand.

Holz, dunkle Holzbretter mit einem tiefmassigen Geruch. Ich erkannte den Ort sofort und unwillkürlich musste ich an meinen Vater denken. Ich war in der kleinen Schankstube an der großen Straße. Mein Vater hatte sich früher häufiger hier mit seinen Bekannten getroffen. Ich selbst war nur einmal hier gewesen und doch war mir diese Stube vertraut.

 

Die Männer stießen ihre Krüge zusammen. Sie feierten ihren Sieg. Fünf Mann waren es. Ich blickte sie vorsichtig an, tat weiterhin so, als wäre ich ohne Bewusstsein.

Sie waren die einzigen Kunden hier in dieser schäbigen Stube. Es waren dreckige, vom Blut der Schlacht noch verschmutzte Menschen, die jegliche Scheu, jegliches Ehrgefühl abgelegt hatten. Sie waren es, die meine Familie getötet hatten.

Der Älteste saß schon völlig betrunken, halb zusammengesunken auf seinem Stuhl und sabberte lange Fäden von Speichel auf seine abgetragene Kleidung. Seine dicke, aufgequollene Nase machte ihn zu einem äußert hässlichen Menschen. Seine Haare waren leicht ergraut und seine Körperbehaarung übermäßig ausgeprägt. Unter seinem Lederwams sah ich ein Kettenhemd. Er trug auch noch immer ein Schwert um seine beleibte Taille.

„Auf den Sieg!“, rief einer und hob seinen Krug. Zu schnell stürzte er den Inhalt durch seinen Schlund – es ist nur ein Teil des Bieres in dem Gefäß geblieben. Seine Augenschlitze machten seine ganze Boshaftigkeit deutlich.

Ich war von Traurigkeit erfüllt, und doch spürte ich in meinem Innersten die Wandlung. Erst fühlte ich die Wärme, wie sie sich in meinem Magen ausbreitete, über meine Gliedmaßen, die schmerzvoll kribbelten, über die Brust in meinen Hals rann. Und dann, immer stärker, bemerkte ich ein Pochen in meinem Schädel; das Blut, wie es immer kraftvoller auf die schmerzvollen Bereiche an meiner Stirn stieß. Und, nachdem ich über den Punkt des Aufschreiens hinaus war, hörte ich dieses Knirschen, welches wie abgenutzte Zahnräder klang, die gegeneinander rieben. Es war in meinem Schädel, ein fremdes Gefühl von Wärme, Schmerz und Kraft.

Schweiß überzog meinen kleinen Leib und ich verlor meine Sinne.

 

Die Männer tranken und ich durchlitt meine erste Stufe der Höllenqualen.

Ich sah die Männer in meinem Geist: den kleinen mit den Knopfaugen und dem Haarkranz, der immer das Bier holte; den Jungen mit den Locken; den Alten mit den vielen Narben und dem herben Geruch; den mit den bösen Augen; und den Verächtlichsten von allen, dessen kantiges Gesicht ich niemals vergessen sollte. Eben dieser letzte Mann mit dem ungestalten, harten Gesicht, war das Letzte was mein Bruder Oví gesehen haben musste und dafür würde dieser noch Schuld empfinden. Nicht dort in jenem Schankraum, doch irgendwann, das war für mich ganz sicher.

 

Stundenlang saß ich dort und starrte diese Männer an, prägte mir die Gesichter genau ein. Ich sah die Narben bei dem Kantigen auf der Wange und dem Alten an den Händen. Ihr Geruch war ebenfalls ein eigenartiger. Der Knopfäugige streifte beim Bierholen immer wieder an mir vorbei. Seine Angst gegenüber seinen Kameraden war spürbar, doch auch diese tiefe Bosheit prägte ich mir ein. Es war ein würziger Geruch, der tiefer ging als alles andere was ich zuvor empfunden hatte. Ich sog diesen Geruch immer tiefer in mich ein und würde ihn Zeit meines Lebens nicht mehr vergessen. Ich erkannte später erst, dass dieser Geruch der Bosheit etwas körperlich Einzigartiges war. Kein Tier roch danach.

 

Die Nacht in einer engen Kammer war düster und unwirklich.

Ich wollte meine Brüder spüren, die in allen Nächten zuvor dicht bei mir geschlafen hatten. In dieser Nacht waren es diese fünf Leiber, die dicht bei mir lagen, und die ich so hasste. Der Alkohol durchzog den Raum, hüllte ihn ein; völlig vernebelt von diesem Geruch konzentrierte ich mich auf die verborgenen Schichten. Auf das Schnarchen des Alten, auf den Atem des Jungen, den ich kaum wahrnehmen konnte. Zwischen diesen beiden Unholden lagen die tiefen Atemstöße der anderen drei. Die Holzbalken des Raumes arbeiteten, es knarrte und ächzte unentwegt, und das Krabbeln und Scharren der Mäuse begleitete mich noch eine ganze Weile, bis tief in die Nacht.

Als ich am Morgen gepackt wurde, wusste ich, ohne die Augen geöffnet zu haben, dass mich der Alte ergriffen hatte. Ich kannte ihn nun, wusste wer er war und würde es nie vergessen.

Gastwirt Wornka und Trian (Sommer 1440)

(rekonstruiert aus einem kurzen Brief, den Trian an Magister Magus Damon schickte: datiert auf

den 17. Juli 1440 )

 

 

Als der fremde Ritter am Morgen seine Gaststube betrat war er noch völlig fertig; wie hatte er in der vergangenen Nacht schlecht geschlafen. Viel zu kurz, wie immer in diesen Tagen. Die Kasse muss stimmen, hatte sein Vater immer gesagt und bei den schlechten Zeiten muss man die Kunden nehmen wie sie kommen.

Er besah sich den Ritter, und wollte schon den besten Wein aus seinem Vorrat herholen, als der Arm des Ritters ihm mit einem Wink Einhalt gebot.

Der Ritter legte einen Beutel auf den Bartresen. Wornka bemerkte sofort, dass schwere Münzen darin schlummerten. In seinem Geist sah er sofort Gold. Sollten es wirklich Goldmünzen sein, die sich da auf seinem Tresen befanden?

Er musste ruhig bleiben. Ein Edelmann mag es nicht, wenn Goldgier einen antreibt.

Er wischte, den Beutel nicht beachtend, mit seinem schmutzigen Tuch weiter an seinen ebenfalls schmutzigen Krügen herum.

„Habt ihr in der Vergangenheit bemerkt, dass hier in der Gegend häufig Kinder verschwinden?“ Wornka schluckte. Damit hatte er nicht gerechnet. Sicherlich wusste er als Besitzer dieser Gaststube über diese Ereignisse bescheid, doch darüber reden und dann noch mit einem Ritter? Das wäre Selbstmord. Dafür war Wornka doch bei weitem zu klug, dachte er bei sich.

„Sicherlich habe ich, Herr, durch meine Gaststube, das ein oder andere Gerücht vernommen.“ Wornka tat betont freundlich und versuchte mit Bedacht zu sprechen.

„Habt ihr auch Männer gesehen, die mit einem oder mehreren Kindern hier durchkamen und nicht deren Eltern waren?“

„Wer mag das sagen. Selbstverständlich waren Händler und auch reisende Handwerker mit jungen Lehrburschen unterwegs.“

„Auch Kriegsleute oder gar schurkisches Volk?“

Wornka brach der Schweiß aus. Sollte er es sagen? Sie würden ihn töten, - schnell, wenn er Glück hatte.

Der Ritter öffnete den Beutel, entnahm ihm eine große Goldmünze und legte sie auf das tiefdunkle Holz.

Wornka wollte sie haben. Noch nie in seinem Leben hatte er eine solche Münze gesehen und dennoch hatte er sich sofort in sie verliebt. Er konnte die Augen nicht von ihr nehmen und sprach einfach.

„Sicherlich habe ich auch schon in meinem Schankraum zwielichtiges Volk gehabt.“ Schnell fügte er noch hinzu: “auch kriegerisches, sogar mit jungen Burschen dabei.“

Der Edelmann schob die Münze langsam zu dem Wirt. Dieser streckte vorsichtig seine Hand danach aus und griff sie sich.

Der Ritter mit nahmen Trian entnahm dem Beutel eine weitere Münze und legte sie dorthin wo er auch die andere hingelegt hatte.

Wornka war wie gebannt. Seine linke Hand umschloss die Goldmünze. Er spürte das kalte Metall, er würde nicht wagen seine Zähne in die weiche Münze zu drücken. Er sah die Zweite und war wieder gefangen.

„Und welche Männer waren es, die mit ihrem schurkischen Aussehen und den Jungen hier bei dir waren?“

Wornka zögerte, sein Selbsterhaltungstrieb meldete sich, doch die zweite Münze wurde wieder von einer Fingerspitze des Ritters zu ihm hinüber geschoben und er konnte sich nicht gegen diese Macht erwehren.

„Es waren Männer des Marschalls, üble Männer, die mich töten würden, wenn sie ahnten, ich wüsste, wer sie waren.“

Trian schob die Münze ganz zu ihm. Der Wirt nahm mit seiner Rechten auch diese Münze. Währenddessen nahm der Ritter den Beutel und reichte sie dem Wirt nur ein wenig entgegen. Dieser war nun völlig paralysiert, bereit zu allem.

„Wann sind sie hier durchgekommen?“

„Sie waren da, nur wenige Tage nach dem großen Zug des Marschalls - nur sechs Monate mag es her sein.“

Kapitel 4 Der Kerker (Frühling 1440)

"Alles, was an einem Gemeinsamen teilhat, das strebt zum Verwandten."

 Lat.: "Quaecunque aliquid commune habent, ad id, quod ejusdem generis est, tendunt.")

 Marc Aurel, Selbstbetrachtungen IX, 9

 

 

Der kalte Stein und der tiefe Atem dieses Gebäudes wird mir auf ewig in Erinnerung bleiben. Die eisigen Stimmen, die des Nachts um meinen Körper schlichen und mir mit ihren kindlichen Klängen traurige Dinge zuflüsterten, kann ich nicht verraten.

 

Ich wurde auf ein Pferd geworfen. Stunde um Stunde beobachtete ich den Boden, wie er sich veränderte, wandelte zu einem anderen Ort, den ich noch nie gesehen hatte.

Ich spürte wie mich die Kälte umfing; es war nur der Verlust von Sonne und doch verband ich mehr damit. Die Reiter stiegen von ihren Pferden. Sie hatten ihr Ziel, dass Schloss ihres Herrn, erreicht.

„Jetzt brauch’ ich erstmal ein gutes Essen.“ Es war die junge Stimme, die des Lockenkopfs.

„Ihr wartet gefälligst bis ich von de Rais zurück bin.“, konterte der Kantige.

„Was?“

Ich wurde ergriffen und dieses zögerliche ‚was’ wurde von meinem Träger einfach ignoriert.

Die kräftige Hand die mich umfing drückte mir die Luft ab. Während ich kopfüber nur den Steinboden beobachten konnte, ging er mit mir unzählige Stufen und Gänge entlang, vorbei an sonderbaren Geräuschen und absonderlichen Gerüchen. Erst als der Kantige mit seinem Bündel, mir, stehen geblieben war, konnte ich mich ein wenig aufrichten.

„Ich hab’ hier einen Burschen für de Rais. Wo soll ich ihn lassen?“

„Wie immer.“ Es war eine harte, kalte Stimme, die mich frösteln ließ. Ich sah ihn nicht – nur als mein Träger sich umwandte konnte ich dessen Füße sehen. Sie waren verborgen unter schweren Eisenschuhen. Ein Ritter?, dachte ich. Für einen Moment wollte ich rufen, doch ich ließ es - zu sehr war ich gefangen in meinem Körper.

Wie immer’, hatte der Ritter gesagt. Kann es sein, dass ich nicht der einzige Junge bin?

Ich versuchte Luft zu sammeln. Ich konnte keinen Gedanken mehr fassen. Die Lage schmerzte mich und sie drückte immer unangenehmer auf meine Lungen.

Der Kantige ging mit mir die endlos erscheinenden Treppengänge hinab. Es wurde immer kälter und dunkler. Es quietschten und kreischten die Türen und Metallgitter.

„Mach das Gitter auf, ich bringe Nachschub.“

„Hallo, Gevard.“

Gevard – der Kantige war Gevard, in meinem Gehirn schall eine Fanfare, ich wiederholte den Namen. Gevard, ich dachte nur noch an diesen Namen.

Ein Wurf. Ich schrie nicht auf, zu sehr konzentrierte ich mich auf diesen Namen. Ich landete hart auf Stroh, es schmerzte sehr, denn der Stein darunter war nah. Nur wenig Stroh war hier ausgebreitet und es roch faul.

Ich blickte auf und sah in ein fremdes Gesicht. Es war ein altes Gesicht, mit Pockennarben überzogen, das rechte Ohr fehlte und auch ein Teil der Wange war verschwunden. Wie abgeschlagen wirkte es – und so war es wohl auch.

Im Fackelschein trafen sich unsere Augen und der Kerkermeister lachte auf. Es war ein falsches Lachen, ich bemerkte es sofort.

 

 

Der Kerkermeister hatte schon viele Kinder kommen sehen, doch bei diesem Jungen spürte er etwas völlig unerwartetes – Angst. Er, der Kerkermeister, hatte Angst. Der Blick des Jungen wirkte fremd, nicht wie erwartet, nicht wie dieses Schluchzen oder bitterliche Weinen.

Er war sich nicht sicher ob der Junge ihn anflehen würde, wie all die anderen vor ihm. Er konnte es sowieso nicht ändern.

 

 

Die Tage verstrichen und ich sah den Kerkermeister in dieser Zeit nicht wieder.

Nach einigen Stunden hatte ich mich von den Fesseln lösen können. Ich hatte sie durchgebissen, nachdem ich sie mit dem Wasser aus einem Eimer, der dicht an der Kerkertür stand, aufgeweicht hatte.

Durch die Klappe, die an der Tür angebracht war, wurde mir immer wieder Essen in die Zelle gegeben. Ich hatte es jedoch bisher nie mitbekommen. Immer wenn ich den Napf vor die Tür stellte, war er nach meinem Schlaf wieder mit Essen gefüllt. Für meine Verhältnisse war es gut und reichlich.

Wenn ich jedoch die Schüssel nicht vor den Eingang stellte, wurde die Suppe oder der Eintopf einfach auf den Boden gegossen.

Meine Zelle war sieben Schritt lang und drei Schritt und zwei Fuß breit. Abgesehen von dem Eimer und dem Napf befand sich nur das Stroh bei mir.

Manchmal fühlte ich mich beobachtet. Ich stellte mich schlafend, doch irgendwie konnte der Andere, der Kerkermeister vielleicht, es spüren und so konnte ich nie die Essensgabe beobachten. Ich schlief ein und das Essen war wieder da.

Über mir, hoch oben, war ein Gitter. Das Licht einer Fackel fiel aus einem entfernten Gang in meine Zelle und gewährte mir, mich in meiner Zelle zurechtzufinden. Manchmal glaubte ich tiefen Atem von oben zu hören, doch zu mir gesprochen wurde nie.

Abgesehen von den flüsternden Stimmen, über die ich nicht sprechen will, waren dumpfe, ferne Geräusche zu vernehmen, ich konnte Pferde hören und mir dabei das tägliche Leben des Schlosses vorstellten.

 

Als ich die Wände abging sah ich einige Striche; sie waren in den Stein geritzt. Dicht am Boden waren sie mit einem Werkzeug von Menschenhand, dessen war ich mir sofort sicher, in den starken Fels geschlagen.

Doch womit?

Ich suchte den Boden ab. Lag vielleicht irgendwo ein Werkzeug mit dem ich mich hätte befreien können?

Ich durchsuchte das Stroh. Aus langen Halmen, die ich miteinander verknotete, fertigte ich mir einen kleinen Besen. Nach wenigen Minuten hatte ich einen schönen Haufen, auf dem es sich auch besser schlafen ließ. Mir war jedoch auch klar, dass auf diese Weise das Stroh schneller faulte.

 

Ich lag erschöpft am Boden, Sinnierend strich ich mit dem Finger über die Einkerbungen. Siebzehn Striche waren es. Hatte hier vor mir ein anderes Kind gesessen? Ich war davon überzeugt. Nicht nur aufgrund dieser Hinterlassenschaft, dieser Nachricht. Als ich die Zelle betrat, war ein tiefer, abgestandener Geruch vorhanden gewesen, der mir deutlich zeigte, dass sich hier eine Person über einen langen Zeitraum aufgehalten hatte. Doch das wirklich eindeutige Anzeichen war das Fäkalienloch. Vor wenigen Tagen war es noch benutzt worden. Nach einigen Tagen, in denen ich die Essensrationen des Schlosses in mir aufgenommen hatte, wurde mir deutlich, dass ich richtig lag. Die Nahrungen ähnelten sich so sehr, dass ich und mit mir die Zelle den Geruch annahm, der sich vorher hier verbreitet hatte. Ich füllte den Raum wieder mit einem menschlichen Duft; speiste den Boden mit der Präsenz meines Körpers.

Und als ich wieder am Boden vor diesen Einkerbungen lag und nachdachte, sah ich einen großen Felssplitter, den ich aus einem großen Stein ziehen konnte.

 

In diesen wenigen Tagen wurde mir bewusst, dass die Umgebung in der man lebt den Menschenduft bis hin zu seinem ganzen Selbst aufnimmt. Es bleibt etwas zurück, wenn man einen Ort verlässt. Die Steine und Mauern behalten etwas von der Person, ob sie nun gut war oder schlecht, ob sie nun traurig war oder glücklich. Und ein jeder Mensch spürt dies. Alte Schlösser sind so faszinierend, weil man die Menschen spüren kann die dort gelebt haben. Man nimmt die Stimmung auf. Das Gebäude übermittelt einem den Geruch, den Geschmack der Gefühle, die einst in seinen Mauern verströmt wurden.

Francesco Prelati und Gilles de Rais (Anfang 1440)

Francesco war wie üblich in seinem Labor, de Rais wusste es. Er suchte ihn nicht auf, wie sonst, weil er über dessen Fortschritte bei seinen Experimenten erfahren wollte, sondern vielmehr plagte ihn seit einigen Tagen ein inneres Leiden. Er fühlte sich oftmals als wäre er im gefährlichsten Kriegsgetümmel und müsste sich seiner blanken Haut erwehren. Selbst ein Soldat sprach ihn auf seine rote Gesichtsfärbung an. Er wusste nur zu gut, wie unangenehm es dem Soldaten gewesen sein mag, sich so eine Frage zu erlauben.

De Rais ging mit seinem Leiden durch die Gänge seines Schlosses; tief hinab, vorbei an der Folterkammer. Nicht einmal für die Folter war er zu begeistern. Er hatte die vergangenen Tage mit Müßiggang vertan – ohne Besserung.

Der Kopfschmerz begann wieder, gerade als er sich vor der Tür des Alchemisten zusammenraffen wollte.

„Kommt nur herein, mein Herr.“

De Rais öffnete die Tür. Er war mehr als überrascht, dass dieser Schwarzmagier seine Schritte gehört hatte. Erst jetzt wurde er sich darüber bewusst, dass er sich absichtlich leise der Tür genähert hatte.

Francesco war mit einem Stößel in seiner Rechten über einen alten Mörser gebeugt – der Tür abgewandt. Mit seiner Linken, zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger rieb er ein dunkles Pülverchen hinzu.

„Ich bin gerade etwas beschäftigt, doch werden sie meine Arbeit mehr als zu würdigen wissen – dessen bin ich mir gewiss.“ Ein leises Kichern durchschallte den engen, modrigen und verrauchten Raum, der nur durch zwei Kerzen erhellt wurde. Die Glut im Kamin war nur noch durch ein feines Glimmen zu erkennen, welches durch die großen Holzscheite hindurch schien. De Rais fürchtete niemanden. Zumindest war es Zeit seines Lebens so gewesen, – bis zu dem Tag vor wenigen Jahren, als dieser Alchemist zusammen mit dem schwarzen Mann auf seinem Schloss eintraf.

Was hatte er ihm nicht alles gezeigt – Unglaubliches.

„Mich plagen Kopfschmerzen – kümmere dich darum.“

Wieder dieses Kichern, diesmal jedoch leiser.

„Wolltet ihr nicht einst durch die Mauern hindurch meinen Schädel schlagen, wenn ich euch nicht die Wahrheit über ein Geheimnis anvertraute?“ Stille! De Rais brach der Schweiß aus.  

„- Nun?“

Er war nicht in der Stimmung für diese Wendung. Sein Gesicht brannte und er wollte Heilung.

„Eure Neigung ist des Teufels, - wie wohl Anhänger der Kirche sagen würden.“ Mit einem süffisanten, beinahe kriecherischen Unterton umspielte Prelati sein Opfer.

„Mögt ihr nicht annehmen euer Unwohlsein ist ein Werk von Menschenhand?“ Und Prelati wandte sich nun von seinem schweren mit Eisenbeschlägen verstärken Eichentisch dem verdutzten Ritter zu. „Ich war es, der heimlich des Nachts in euer Gemach geschlichen ist und ein wenig von einem geheimen Pulver über euer Antlitz streute. Nur ein wenig, denn tot wollte ich euch nicht sehen – noch nicht.“, fügte er die letzten Worte nur noch leise flüsternd hinzu.

De Rais zog sein Schwert – völlig entflammt von den Worten des Magus.

Prelati schrie: “Seid ihr sicher – wollt ihr den Magus töten, der euer Leben in seinen Händen hält?“

De Rais wich einen halben Schritt zurück. Prelati ging mit weit aufgerissenen Augen auf de Rais zu.

„Ihr sucht das Geheimnis? Wollt den Kern, die Saat des Teufels, vielleicht sogar die des christlichen Gottes herauspressen aus der Erde Körper. Sollte ich es für euch tun, sollte ich euch helfen, den Teufel erscheinen zu lassen? Wolltet ihr ihn sehen, Barron, den Herrn des ewigen Lebens?

Habt ihr diese Taten begangen, weil ihr sucht oder weil ihr besessen seid?“

Prelati wusste um das Geheimnis, er sollte es aber de Rais nicht verraten. Um sich vor diesem Monster zu schützen, musste er jedoch ein Spiel mit ihm spielen, ein gefährliches, ohne Frage, doch als Alchemist war man zu allem bereit.

„Ich werde euch von dem teuflischen Feuer befreien. Wenn ihr es wünscht, werde ich euch sogar sagen, welch einem Geheimnis ich auf die Schliche gekommen bin, welch einen Zauber ich beherrsche.“ Prelati ging auf den völlig verwirrten Ritter zu, dessen scharfes Schwert immer noch mit seiner Spitze in die Richtung des Alchemisten zeigte.

Er legte seine rechte Hand auf die Schwertspitze und lies die Hand hindurch gleiten. De Rais stöhnte merklich auf. Er hatte oft genug Gelegenheit sein Schwert in den Körper eines Menschen zu rammen, doch nie zuvor war es mit einer solchen Leichtigkeit gegangen. Prelatis Gesichtszüge umspielte nur ein feines Lächeln. Kein Anflug von Schmerz war bei ihm zu entdecken. Völlig entsetzt wich de Rais weiter zurück. Die Klinge gab die Hand frei. Sofort drehte sich Prelati von ihm ab.

De Rais sah, wie dieser aus dem Mörser mit der gesunden, linken Hand ein feines Pulver entnahm. Kraftvoll wusch er mit dem Pulver seine Hände, rieb beide feste aneinander.

De Rais war starr.

Nichts war mehr von der tiefen Wunde in der rechten Hand des Alchemisten zu sehen. Prelati hielt seine Hand dem Schlossherrn zum Beweis seiner Macht entgegen.

Schnell, beinahe hektisch, nahm der Alchemist einen Kelch und trank einen Schluck daraus. Er entnahm, wie zuvor, ein wenig des Pulvers aus dem Mörser, lies es ruhig und bestimmt in den Kelch rieseln und rührte dann kurz mit einem kleinen schlanken Messer darin herum und sprach dann ganz eindringlich und von sich überzeugt: “Euer Brennen sollte nach einem Schluck innerhalb weniger Augenblicke vergehen. Solltet ihr meiner Fähigkeiten nun wieder gewiss sein, mögen wir einander weiter bereichern.“

De Rais nahm den Kelch entgegen, zögerte, besah sich den Alchemisten neu, der ihn mit seinen großen Augen anstarrte und ihn damit zwang den Kelch zu leeren.

 

De Rais war gegangen. Prelati nahm die verborgene Wachshand und warf sie schwer atmend in die Flammen seines Kaminfeuers, die er zuvor mit einem Schürhaken neu entfacht hatte. Athon hatte ihn nun schon seit Monaten mit diesem Verrückten allein gelassen. Wie sollte er sich hier weiter behaupten, wenn nicht mit List und Zauberkunststücken.

Der Junge soll gefunden werden – und er wird es. Athon wird entzückt sein zu sehen, wie er hier in seinem Sinne die Geschicke gelenkt hat. Endlich kann er sich beweisen; wenn der Junge gefunden ist wird das Geheimnis gelüftet. Dann endlich wird er, Francesco Prelati, eingeweiht in die dunklen Künste.

Kapitel 5 Folter (Frühling 1440)

"Der Tod ist ebenso, wie die Geburt, ein Geheimnis der Natur,

 hier Verbindung, dort Auflösung derselben Grundstoffe."

 (Lat.: "Mors tale quid est, quale ortus, naturae actio occulta,

 concretio ex elementis et dissolutio in eadem.")

 Marc Aurel, Selbstbetrachtungen IV, 5

 

 

Ich hörte ihn schon von weitem; der Kerkermeister war auch bei ihm.

 Das Eisen umschließe ihn – von jetzt und auf immerdar. 

 

„Seien sie vorsichtig.“, flüsterte ihm der Kerkermeister zu.

„Wieso? Es ist doch nur ein Kind.“

„Er hat nicht ein einziges Mal geschrien oder geweint. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Er müsste eigentlich vor Hunger schreien, aber er macht es nicht.“

Die Kerkertür wurde aufgerissen, die Scharniere kreischten entsetzlich.

Ich sah von dem Kerkermeister nur die Hand und die Nase, den Rest versteckte er hinter der Tür.

Was hatte ich ihm nicht alles abgetrotzt.

 

Im Türrahmen stand ein hochgewachsener Mann. Er trug einen langen, schwarzen Umhang, darunter einen einfach geschnittenen Anzug, der leicht im Fackelschein glänzte, sonst jedoch schwarz war.

Sein Gesicht hatte etwas Einzigartiges und doch hätte ich es nicht näher beschreiben können. Der Mann war Anfang zwanzig, als schön zu bezeichnen und, obwohl er eine unergründliche Bosheit ausströmte und eine Düsternis verbreitete, die mich unter anderen Umständen hätte aufschreien lassen, war ich mit meinen Gedanken noch bei dem Satz des Kerkermeisters.

Er hatte mir kein Essen gebracht? Wer dann?

Der Mann stand nur da und begutachtete mich. Um seine Mundwinkel schlich ein Lächeln.

Ich besah mir seine Hände. Sie waren mit mehreren goldenen Ringen bestückt, die ein Vermögen gekostet haben mussten.

Der Mann in schwarz wirbelte herum.

„Diesen Jungen nicht.“

Ich bemerkte einen Akzent bei dem Mann, erst viel später wusste ich, dass es sich um einen italienischen gehandelt hatte.

 

Nur wenige Stunden später öffnete sich die Tür. Der Kerkermeister stand da.

„Los, raus mit dir.“

 

Ich habe Angst. Damals hatte ich keine. Nun jedoch, da ich weiß was mich erwartete, wage ich es nicht meine Gedanken auf diese Stunden zu richten. Doch ich bin es den anderen Kindern schuldig.

 

Übermäßig viele Fackeln erleuchteten den Gang und verrußten ihn. Ich sah einen Jungen, er war etwas älter als ich, größer, mit hellbraunen Locken. Dieser ging von mir weg, in die Richtung, in die mich nun auch der Kerkermeister schubste. Er warf die Tür ins Schloss und baute sich vor mir auf.

Ich sah ihn einige Sekunden an, dann ging ich, der Junge war verschwunden.

 

Ein riesiger Raum öffnete sich und ich war erstaunt von all dieser Pracht. Eine Kinderschar hockte still in einer Ecke und wirkte hier irgendwie fehl am Platze. Einige Bewaffnete hielten wacht. Weiter hinten standen der schwarz gekleidete Gelehrte und ein Edelmann, sie unterhielten sich angeregt. Der Mann mit den edlen Zügen gestikulierte mit einem goldenen Weinpokal. Leise Streichmusik wurde auf einer Empore, mehrere Meter über ihnen angestimmt. Überall standen Gerätschaften deren Funktionen sich mir nicht erklärten. Ich sollte es jedoch noch erfahren.

Was war mit dem Edelmann? Mein Innerstes fröstelte. Kannte ich diesen Mann?

Wo waren die Kinder hin?

 

Ich wurde zu dem Platz geführt an dem eben noch die Kinder gekauert hatten. Ich hörte sie flüstern.

Die Kinder waren total unterernährt und geschwächt gewesen, verheult und dreckig, ihre Stimmen klangen jetzt beruhigend und fest.

Ich musste an meine kleine Schwester denken, die vergangenen Winter gestorben war.

Nur Jungen hatten dort gesessen, auf den edlen Teppichen aufgereiht und harrten der Dinge die da gekommen sind und nun womöglich wieder geschehen – mit mir.

Sie waren älter als ich gewesen, einer von ihnen war so alt wie mein Bruder Fauké, der andere wie mein Bruder Oví.

 

Hatte ich nicht Schreie gehört, in den vergangenen Stunden, als ich in meiner Zelle ausgeharrt hatte?

 

Ich besah mir den großen Raum. Nach einigen Sekunden sah ich ein kleines Mädchen. Diesen Moment sollte ich nie vergessen, nie zuvor hatte ich einen solchen Menschen gesehen. Sie wirkte, als wäre sie gerade einmal acht Jahre, schätzte ich, und doch sprühte sie eine königliche Präsenz aus, die einen einschüchterte und einnahm.

Ihre blonden Haare strahlten mir entgegen, wie Flammen oder Eisen, welches nge in der Schmiedeglut gelegen hatte. Ihr Gesicht wirkte unvorstellbar schön. Sie war an Händen und Füßen gefesselt und stand hinter den beiden Männern, die sich immer noch angeregt unterhielten.

„Es ist mein Schloss und die Eingeweide dieses Jungen werde ich noch heute Nacht in meinen Händen halten.“

„Sie irren.“ Der schwarzgewandete Mann wandte sich um und ging zu dem Mädchen.

„Sie hat ihn gesehen. Mein Herr wird es nicht erlauben, dass dieser Junge stirbt. Er würde ihren Kopf fordern, wenn er erführe, welche Gelegenheit sie hier, nur aufgrund ihrer Neigungen, vergaben.“ Und den Rest flüsterte er mehr zu sich selbst oder zu dem Mädchen, sodass ich es nicht verstehen konnte.

Der Edelmann warf den Kelch durch den Raum; zwanzig Meter weiter knallte er an die Felswand.

„Dann soll es so sein, doch wehe euch, wenn ihr mich zum Narren haltet.“

 

Eines der Kinder tauchte wieder auf, neben mir mit einem grauen Schleier, sodass ich es kaum sehen konnte. Sein Blick wirkte traurig, gebrochen.

Der Junge erhob sich und ging hin, nahe an die sich immer noch streitenden Männer, legte sich auf eine der Bänke. Erst jetzt stieg mir ein Geruch in die Nase, der mir nur allzu bekannt vorkam.

Schemenhaft sah ich den Jungen, wie er dort lag und zu mir sah. Dann blickte es hoch zu dem Mädchen, dass ihn die ganze Zeit angesehen haben musste. Ihr Blick blieb starr, doch ich ahnte was passiert sein musste. Sie hatte es gesehen – alles.

 

In den Jahren zuvor, waren diese Menschen für mich, die von edlem Blut abstammten, jenseits dessen was ein normaler Mensch war. Ähnlich dem Klerus, konnten sie sich alles erlauben, ohne Gefahr zu laufen vor Gericht gestellt zu werden. Das Gefühl der normalen Bevölkerung war meist von tiefstem Hass erfüllt und doch waren sie sich bewusst, welche Macht die Edelleute besaßen und hüteten und duckten sich. In meinem Bewusstsein war dieser Gedanke noch nicht vollständig ausgereift. Ich wusste, dass es Edelmänner gab und hatte auch schon Geschichten von Rittern gehört, doch dieses Bild stimmte so gar nicht mit den Erlebnissen der vergangenen Tage überein.

Für mich war in vielerlei Hinsicht eine Welt zusammengebrochen. Wie konnte ich diesem Übel begegnen?

Ich spürte wieder die Glut in mir aufsteigen, den tiefen Zorn der meine Eingeweide erwärmte; mein kindlicher Körper hatte diesem Unrecht nichts entgegenzusetzen.

„Halt!“ Meine kleine Kehle schrie von einer Kraft strotzend, die ich nicht vermutet hätte. Die Söldner an meiner Seite wichen zurück. Der Lärm hallte durch den riesigen Raum, sodass die Spielleute auf der Empore aufhörten ihre friedvollen Klänge zu spielen. Das Monster, dessen blutverschmierte Hände mir erst jetzt auffielen, starrte mich voller Abscheu an, so als verstieße ich gegen seine Grundfesten. Sein Gesichtsausdruck spie mir den blanken Hass entgegen, welchen er nun nicht mehr kontrollieren konnte. Er zog seinen Dolch und rannte auf mich zu.

Ich stand still und wartete, den Felssplitter, vor den Wachen verborgen, in meiner starken linken Hand.

Das Monster kam schnell näher und doch war es für mich eine Ewigkeit. Diesmal würde ich von keiner Wache festgehalten werden. Diese waren zur Seite gewichen; zu groß war deren Angst vor ihrem Herrn. Noch drei Schritte, zwei Schritte, noch einer und dann würde ich zustoßen. Ich sah den schweren Dolch des Mannes, doch dieser würde mich nicht töten. Ich wusste es. Ich wich dem Dolch aus und stieß zu.

 

Es war nur ein Schatten. Eine gewaltige Kraft war plötzlich und aus dem Nichts da, sie riss den Edelmann mit seinem Dolch wie einen Knaben fort. Durch die Luft flog er und landete hart auf dem Steinboden, mehrere Meter von mir entfernt.

Die tote, unvergessliche Stimme dieses schwarzen Schattens erschreckte mich bis ins Mark. Die Diener flohen und ihr Herr lag stöhnend am Boden.

„Nein, diesen Jungen nicht.“ Dies alles geschah in wenigen Sekundenbruchteilen.

Der Blutige lag benommen am Boden. Vor mir erhob sich dieser Schatten, dessen Umhang belebt durch den Raum glitt und, wie bei Insekten, die die Umgebung betasten und befühlen, nach Widerstand suchte. Das Gesicht des Mannes war steinern und uralt. Auf seiner Brust war eine geschwärzte Platte; für einen Moment wollte ich annehmen es sei die Haut dieses Wesens. Mir war es nun für einen kleinen Moment gegeben seine Augen zu erblicken, mit den endlostiefen, grauen Strömen die mir alle Trauer widerspiegelten, denen ich mich selbst konfrontiert sah und noch weit darüber hinaus gingen. Ich fühlte mich gering. Das Leid dieses Wesens war ungemein größer als das Meinige. Ich zögerte, wich zurück und sackte entkräftet zu Boden, erschöpft von seinem Anblick.

Das Wesen wirbelte herum.

„De Rais, du wagst es meiner Anweisung zuwider zu handeln?“ Diese Stimme war die keines Menschen, dessen war ich mir sofort bewusst.

Er packte den großen Krieger, der de Rais zweifelsohne war, an den Haaren und schleifte ihn mühelos durch den Raum und verschwand mit diesem hinter einem Wandteppich, dicht bei dem Mädchen mit dem goldenen Haar.

Hauchte sie, während das Wesen verschwand, ihren Atem heraus? Sah sie mich an? Ihr starres Gesicht war unbeirrt auf die Ferne gerichtet und doch erkannte ich, dass ihre Augen sich auf mich gerichtet hatten.

„Männer, greift euch das Kind und sperrt es wieder ein. Ich denke, euer Herr wird sich heute etwas Ruhe gönnen müssen.“ Der schwarze Mann stand mit einem Lächeln im Gesicht am Eingang, an dem Türbogen, durch den ich vor wenigen Minuten den Raum betreten hatte. Sein Gesicht war von einer Überheblichkeit durchtränkt, die ins Groteske abglitt.

Die Diener schnappten sich jeder ein Kind. Ich konnte meine Steinwaffe unbemerkt wieder verschwinden lassen. Keiner der Anwesenden, mit Ausnahme eines kleinen Mädchens, welches immer noch leblos, einer Statur gleich in die Ferne blickte, hatte sie gesehen – vielleicht noch dieses Geschöpf, dachte ich – sonst niemand.

Ich wusste nun, dass ich relativ sicher war. Für einen Moment überlegte ich, ob ich an dem dicht an dem Türbogen stehenden schwarzen Mann die Waffe einsetzen sollte. Ich entschied mich dagegen und ging ohne Widerstand in meine Zelle.

 

Kinder starben an diesem Abend, und es waren sicherlich nicht die Ersten und leider auch nicht die Letzten in diesem Schloss. Ich überlegte, wie ich es hätte verhindern können. Mein Ruf hatte das Morden für diese Nacht beendet; hatte mir in den Zellen noch eine weitere Nacht beschert.

 

Immer wieder beschlich mich ein unangenehmer Gedanke, begleitet von einer Empfindung, die ich mir nicht zugestehen konnte. Ich musste klar denken, dies Übel von mir weisen, verdrängen und es bewältigen.

Gevard und der Kerkermeister (Sommer 1440)

(Aus einem Brief von Trian an Magister Magus Damon, der die Aussage des Kerkermeisters aufgeschrieben hatte)

 

Er hatte sich für diesen Abend einige Flaschen des besten Weines aus dem Keller seines Herrn besorgt. Es war einer jenen gefährlichen Unternehmungen, die er eigentlich zu vermeiden suchte. Auch wenn er es nie zugeben würde, so war er doch tief in seinem Inneren ein Feigling. Die Verletzung, die ihn für den Kriegsdienst untauglich machte, war ihm mittlerweile sehr recht. Er hätte nicht sehr lange auf dem Schlachtfeld überlebt, dessen war er sich sicher.

Dieser Umstand, dass er sich seines Lebens sicher fühlen muss, trieb ihn nun an, denn er glaubte, dass dieser Junge eben jene Sicherheit gefährdete. Gevard war der Söldner, der den Jungen herbeigeschafft hatte. Er kam während einer dieser Nächte auf den Gedanken, dass Gevard sein Problem lösen würde.

Und nur aus diesem Grund hatte er ihn angesprochen, hatte ihn aufgesucht in dem großen Quartier, hatte sich den Blicken der anderen Söldner ausgesetzt, die für ihn nur Hohn und Spott übrig hatten.

Gevard war der Trunksucht verfallen, wie es fast allen Söldnern erging, ihn selbst eingeschlossen. Nicht, dass er selbst sich noch zu den Söldner zählen wollte; doch tief in seinem Inneren wusste er, dass er nicht besser war als sie, die für Geld kämpften und töteten. Er bewarte die Menschen davor zu sterben, hütete sie davor zu früh zu sterben, half ihnen die Wahrheit zu sagen. Doch dass dies besser sei, bildete er sich schon lange nicht mehr ein.

Er wusste, er würde in die Hölle fahren – es fragte sich nur wann. Und genau an diesem Punkt wollte er ansetzen und diesen Zeitpunkt so weit wie möglich in die ferne Zukunft schieben, weg aus seinem Denken.

 

Die unzähligen Kinder, die in den vergangenen Jahren in dem Schloss gestorben waren, konnten ihn nicht schrecken, selbst nicht einige andere, die sich dem Marschall widersetzt hatten, starben ohne einen Anflug von Furcht bei ihm. Nur dieser Junge mit seinen seltsamen Augen und seinem stillen Wesen machte ihm Angst.

Er hatte seinen kurzen Ausbruch mit angesehen, hatte den scharfen Stein bemerkt, der an der Kehle seines Herrn nur um haaresbreite entlang gesaust war.

Niemandem hatte er es bisher erzählt – wieso auch. Sollte der Marschall doch sterben, vielleicht dachte er bei sich, würde er in der Hölle die Schuld auf sich nehmen und ihm die Seinige erleichtern.

Der Junge war jetzt schon mehrere Monate hier und er konnte es nicht noch einmal so lange ertragen, die Schreie und Folterungen mit anzuhören, die dieser aushielt. Er starb einfach nicht, obwohl er es müsste. Solche Verletzungen, dachte er oft bei sich, hatte noch niemand überlebt und er hatte viele an diesen Verletzungen sterben sehen, hatte die Kinderleichen weggeschafft, sie tief vergraben, hatte sie verbrannt oder einfach in den Kellern aufgestapelt. Es waren viele, dachte er bei sich.

Er saß nun, in seiner kleinen Wachstube – zu dicht bei den Zellen, wie er es mittlerweile empfand. Er fühlte sie, fühlte die beiden Kinder, das kleine Mädchen mit den blonden Haaren, die alles mit angesehen hatte, und den Jungen, der nicht sterben will.

Gevard würde kommen, zu sehr wusste er um den Wunsch sich den Wein die Kehle hinunter zu spülen. Er ergriff seinen Becher und leerte ihn, wie die anderen zuvor.

Er hörte die Tore wie sie mit seinem Schlüssel geöffnet wurden, hörte das quietschen, das zuschlagen des Metalls. Er wusste, er musste es tun, wusste, er würde es tun. Es war nicht einfach, doch er würde es schaffen. Der Junge würde ihn am Leben lassen, wenn er ihm auch diesen hier geben würde. 

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DamonDawn

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DamonDawn Re: -
Zitat: (Original von Teufelchen am 23.07.2010 - 12:22 Uhr) *"Hammer" Aufbau*.
*Gänsehaut bissl "Ekel" man kann wenn man angfangen hat zu lesen nicht mehr aufhören*egal wie lange es auch dauert(verrate nicht wie intensiv ich vorm Netbook "geklebt"habe)

LG
Teufelchen


Danke.
Es würde mich natürlich herzlich freuen, wenn ich noch andere mit diesem Buch "beglücken" könnte. Du hast übrigens nach meiner Textdatei erst 46 Seiten von insgesamt 724 gelesen. ;-)
Du hast also, überspitzt gesagt, noch nichts gelesen. ;-)


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