Fantasy & Horror
Ein Lift in Baltimore

“Wir machen das gemeinsam. Schritt für Schritt.”

Helen blickte in die dunklen Augen der Therapeutin und nickte. Als die Türen des Fahrstuhls aufgingen atmete sie tief durch und trat über die Schwelle in die metallene Kabine. Sofort überkam sie das bekannte, beklemmende Gefühl kaum Luft zu bekommen, doch die alte Dame fasste sie an der Schulter und meinte beruhigend, “Keine Sorge, ich bin immer bei Ihnen.”

Mit kalten Fingern drückte Helen den Knopf für die neunte Etage und bemerkte, dass ihre Hände zu zittern begonnen hatten. Als sich die silbernen Türen schlossen, atmete sie langsam durch den Mund ein und durch die Nase wieder aus, so wie sie es gelernt hatte.

“Sie machen das sehr gut, Helen. Immer weiteratmen”, lobte sie die Dame im weißen Kittel und ihre vertraute, tiefe Stimme half tatsächlich Helen etwas von ihrer Angst zu nehmen. Sie lächelte schwach und wunderte sich einen Moment. Hatte die Ärtzin vorher auch schon ein Stethoskop um den Hals getragen? Sie schüttelte frustriert den Kopf und holte besonders tief Luft.

“Beginnen Sie nicht zu hyperventilieren, Helen, die Hälfte haben wir gleich.”

Wieder lächelte Helen, jedoch fiel es ihr bedeutend schwerer als noch vor einer Sekunde. Etwas stimmte nicht. Die dünnen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf und ein kribbelnder Schauer lief langsam von der Rückseite ihrer Schultern die Arme herab. Irgend-etwas stimmte nicht. Verdammt, sie wollte raus aus diesem verfluchten Fahrstuhl, konnte dieses Mistding von einem Aufzug nicht schneller fahren?

“Noch vier Stockwerke.”

Helens Atem war zum Keuchen eines Rennläufers verkommen und ihr stand kalter Schweiß auf der Stirn doch sie schaffte es angestrengt zu nicken.

“Du wirst mich nicht los.”

Es machte ein lautes, surrendes Geräusch, dann fiel plötzlich der Strom aus und der Fahrstuhl wurde langsamer und langsamer, bis er schließlich anhielt. Sofort schaltete sich das Licht wieder ein, aber dabei blieb es auch. Es schien eine Art Notstromversorgung zu sein.

Helen drehte sich unruhig nach der tiefen, kalten Stimme um, doch da war niemand außer ihr im Fahrstuhl. Sie blinzelte. Doch, dort stand sie ja, die Ärztin. Aber was zur Hölle war mit dem verdammten Lift los. Panik stieg in ihr hoch. Die Wände waren viel zu nah,

“Bleiben Sie ruhig, Helen. Atmen Sie tief ein”, die Therapeutin wiederholte langsam ihre Worte als Helen nicht reagierte, und demonstrierte dabei was sie tun sollte, “Atmen Sie ein”, sie nahm einen Luftzug durch den Mund, “und atmen Sie langsam wieder aus”, sie ließ die Luft gemächlich dafür lautstark durch die Nase entweichen.

Helen bemühte sich es ihr gleich zu tun und zu ihrer Überraschung half die einfache Übung.

“Sehen Sie das rote Blinken? Ein Alarm ist ausgelöst und Hilfe auf dem Weg, Liebes.”

Ein hysterisches Lachen fiel von Helen's Lippen. Wie seltsam, dass die Ärztin sie so nennen sollte. Liebes? Oder hatte sie sich das nur eingebildet? Sie schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder, einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen.

“Es kann nicht dein Ernst sein, dass du denkst mich so loszuwerden, Liebes,” sein tiefer Bariton ließ den Raum auf einen Schlag eiskalt werden und Helen spürte wie sich ihre Kehle zuschnürte. Sie presste die Augen fest zusammen und murmelte , “Er ist nur in meinem Kopf, er ist nicht real, er ist nur in meinem Kopf, er ist nicht real,...” bis die beruhigende Stimme der Therapeutin sie aus ihrer Trance holte.

“Sie werden sehen, in wenigen Minuten fährt er sicherlich weiter”, die alte Dame lächelte freundlich und Helen versuchte sich angestrengt auf ihr faltendurchzogenes Gesicht zu konzentrieren. Ihre Lippen bewegten sich wieder, doch statt der angenehmen, vertrauen Stimme hörte sie wieder ihn, “Bis dahin kannst du nirgendwo hin laufen, Liebes.”

Ein angestrengtes Stöhnen brach aus Helens Mund hervor und sie presste die Augen zusammen. “Er ist nur in meinem Kopf, er ist nur in meinem Kopf, er ist nur in meinem Kopf,..”

“Ich bin real, schau doch her”, lachte er spöttisch und Helen riss die Augen auf.

Da war niemand. Niemand. Sie war allein in der Kabine.

Wo war die Ärztin?

“Hallo!?”

Nichts als leerer Widerhall durchbrach die fordernde Stille. Helen fühlte wie der Boden, wie die Luft selbst langsam auf sie zukroch um an ihr hochzusteigen. In kaum zurückgehaltener Panik stolperte sie ein paar Schritte zurück. Sie versuchte ruhig zu atmen doch schaffte kaum mehr als ein Röcheln. Sie war alleine. Verzeifelte Tränen stiegen ihr in die Augen, sie wollte hinaus aus dem Aufzug, einfach nur hinaus. Ihre Sicht wurde schwammig und sie presste sich mit dem Rücken in eine Ecke.

“Hallo Liebes.”

Statt an die Wände spürte sie sich an seinen warmen, großen Körper gedückt. Helen schrie. Halb wahnsinnig vor Angst schrie sie aus Leibeskräften.

Sie merkte nicht, dass sich der Aufzug wieder in Bewegung gesetzt hatte.