Fantasy & Horror
Es hat bereits begonnen Teil 4 - Tagebuch über Ereignisse, die noch stattfinden

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"Es hat bereits begonnen Teil 4 - Tagebuch über Ereignisse, die noch stattfinden"
Veröffentlicht am 25. Mai 2010, 14 Seiten
Kategorie Fantasy & Horror
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Es hat bereits begonnen Teil 4 - Tagebuch über Ereignisse, die noch stattfinden

Es hat bereits begonnen Teil 4 - Tagebuch über Ereignisse, die noch stattfinden

Beschreibung

Ein nicht enden wollender Winter, ein alter Mann mit unbekanntem Ziel und ein Abschied, der einen dritten Stein hinterlässt.

01.02.

Der Winter wollte kein Ende nehmen, fast gewöhnte man sich an den Zustand der Schichtbekleidung nach Kriterien der Wärmeeffizienz statt der Eleganz. Gestern fand ich heraus, dass der erste Stein den ich fand, ein angenehmes Gefühl von Wärme vermittelt, wenn man ihn auf das Brustbein, das Sternum, legt. Seine Form scheint wie gemacht dafür, die sternförmigen Strahlen passen sich dem Körper gut an. Dabei ist die Namensähnlichkeit kein Hinweis auf einen Zusammenhang, da das lateinische Wort Sternum nichts mit dem deutschen Wort Stern zu tun hat.

Warum er dieses Wohlgefühl vermittelt, konnte ich nicht ausmachen, da die Steinkunde nicht zu meinen Fachgebieten gehört. Da es aber fundierte Hinweise auf die Wirkungsweise von Steinen aufgrund ihres Ursprungsmaterials gibt, problematisierte ich dies nicht, sondern fand es schlichtweg nur angenehm. Die Speerspitze mied ich, sie vermittelte mir ein weniger angenehmes Gefühl von gewalttätigen Auseinandersetzungen, dem Erlöschen von Existenzen, ob Tier oder Mensch.

Fast verfiel mein Leben wieder in Normalität, zurückblickend war es, als hätte man mir eine Bedenkzeit gegeben. Die Möglichkeit zu begreifen, zu erfassen, auch ohne ausreichende Informationen. Offensichtlich hatte man aber nicht mit meinem Hang zum Rationalisieren gerechnet.

Zur Arbeit gelange ich morgens mit der Regionalbahn, auch die Holzkklasse genannt. Im Sommer ohne Klimaanlage, und die Insassen immer am Rande des gemeinschaftlichen Hitzetodes, ängstlich bemüht, nicht aneinander festzukleben. Im Winter überheizt und jeder gedünstet in seinen vielfältigen Zwiebelschichten, unendlich weit von seinem Sitznachbarn entfernt . Fährt man eine Weile zur gleichen Zeit, so kennt man bereits einen Teil seiner Mitreisenden. Die Maklerin, klein und gedrungen, immer etwas zu jugendlich gekleidet und mit modischen Eskapaden, wie grünen durchsichtigen Nylonstrümpfen zum grünen Rock. Der Ministerialangestellte mit klassischem Aktenkoffer, Zeitung und dem natürlich-göttlichen Anspruch auf einen Sitzplatz. Der Schichtarbeiter im Blaumann, die Flasche Bier in der Hand, um in der Bahn noch schnell die überstandene Nachtschicht wegzutrinken. Jugendliche in modischer Einheitsuniform mit Einheitsfrisuren (wie zu allen Zeiten) den MP3 Player festgewachsen im Ohr. Gespräche gibt es wenige und glücklicherweise sind auch Handyanrufe um diese Zeit eher selten. Dumpf brütet man sich zur Arbeit, zur Schule, zum Arzt. Ich nutze die Zeit gerne zur Vorbereitung des Tages, mache Notizen in meinen PDA, entwerfe Arbeitsskizzen und Mails. So bekomme ich nicht viel von dem mit, was in meiner Umgebung passiert und auch die Betrachtung meiner Mitreisenden fällt meist kurz aus. Wenn nicht etwas geschieht, was meine Aufmerksamkeit erregt.

Seit sicherlich einem Jahr war einer unserer Reisegefährten ein alter Mann mit weißem Haar, kurzem gepflegten weißen Bart und einem Gesicht voller sympathischer Falten. Er fiel mir erst auf, als ich im letzten Sommer einmal von einem Nachbarn mitgenommen wurde, anstelle zu laufen, und dadurch viel zu früh an der Bahn ankam. Er stand aber bereits auf dem fast leeren Bahnsteig. Aus schlichter Langweile musterte ich ihn. Er war sehr groß, ein eher nordischer, denn südländischer Typ. Er trug einen schwarzen Anzug, schwarze Schuhe und ein helles Leinenhemd mit dunkel gestreifter Krawatte. Er hatte keine Tasche dabei. Er stand ganz ruhig, die Hände auf dem Rücken und betrachtete die gegenüberliegenden Pappeln, die sich im Wind leicht bewegten. Er nahm keine Notiz von mir und es wäre mir auch unangenehm gewesen, da er ein wichtiges Gesetz gebrochen hätte, das da lautet, jeder tut so, als wenn er allein auf dem Bahnsteig steht, es sei denn ein Familienangehöriger oder ein Nachbar nähern sich. Der Zug kam, wir stiegen ein und über meinen Arbeitsvorbereitungen vergaß ich ihn.

Er fuhr nur unregelmäßig mit und ich traf ihn zu unterschiedlichen Zeiten in der Bahn. Dies ist mit einigen anderen Reisenden ebenso, gleitende Arbeitszeit und Schichtdienst sind eine ganz einfache Erklärung dafür. Er trug immer dunkle Anzüge und später im Winter noch einen schwarzen, sehr gerade geschnittenen langen Mantel darüber. Im Herbst hörte ich das erstemal seine Stimme, aber nicht das war es, was mich in Erstaunen versetzte, sondern, was und wie er es sagte.

Er musst den anderen Eingang des Waggons genommen haben, denn ich sah ihn von der anderen Seite der Treppe her in der Schlange der Reisenden auf mich zukommen. Spätestens wenn diese beiden Schlangen aufeinandertreffen, weiß man, dass man die Schlacht um das kostbarste Gut, einen Sitzplatz, für dieses Mal verloren hat. Eine Frau hinter ihm musste ihn etwas unsanft gedrängt haben, dadurch stieß er an den Fahrgast vor ihm. Dieser drehte sich entrüstet um, aber bevor er dies in Worte fassen konnte, sagte der alte Mann mit einer sehr tiefen und angenehmen Stimme: „Verzeiht“ und legte seine rechte Hand auf seine linke Brust und verneigte sich unmerklich. Der Reisende vergaß sofort seinen Ärger, drehte sich um und setzte seine Sitzplatzsuche fort.

Ich war amüsiert, die Formulierung war ebenso ungewöhnlich wie die Geste, aber offensichtlich äußerst wirkungsvoll. Ich versuchte mir vorzustellen, dies in meinem Umfeld anzuwenden, stellte aber fest, dass man eine gewisse Würde dafür benötigt, die ich bei mir nicht ausreichend entdecken konnte. Mein Sitzplatz gewährte mir einen Blick auf den Kopf des alten Mannes, ein paar Reihen vor mir. Als ich noch darüber sinnierte, wie ich das Defizit der mangelnden Würde durch mehrere gesetzte Worte ausgleichen könnte, drehte sich der alte Mann um und schaute mich direkt an. Ich senkte sofort den Blick.  Als ich wieder hochschaute, sah er ruhig aus dem Fenster. An und für sich war so ein Vorfall ja nichts ungewöhnliches, aber als er sich umdrehte hatte er mir ohne Suchen zielsicher in die Augen geschaut. Und mir zugenickt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

01.03.

Hier liegt der dritte Stein vor mir. Ich bekam ihn geschenkt. Das glaube ich zumindest.

Der alte Mann mit dem weißen Haar war auch heute wieder vor mir an der Bahn. Aber im Gegensatz zu den vielen Malen vorher, stand er nicht entspannt da, die Dinge auf der anderen Seite des Bahnsteigs beobachtend. Er ging unruhig mit langen Schritten den Bahnsteig entlang, blieb stehen, ging weiter. Soviel Dynamik am frühen Morgen ist auf unserem Bahnsteig sehr ungewöhnlich und nicht nur ich schaute irritiert.

Als die Bahn kam, stieg er nach mir ein und ich verlor ihn aus den Augen. Ich erkämpfte einen Zweiersitzplatz gegen eine dicke Frau, die ihr ebenso dickes Kind nicht schnell genug in diese Reihe schieben konnte. Ich setzte mich und packte mein Handwerkszeug aus, als jemand fragte: „Ist es gestattet?“. Es war der alte Mann, ich weiß nicht mehr, ob mein Erstaunen ob der Anrede oder meine Neugierde größer waren, aber ich nickte nur und er setzte sich neben mich. Wir schwiegen, man spricht ja auch nicht einfach mit seinem unbekannten Sitznachbarn in der Bahn, es sei denn man hat irgendeine Funktionsstörung oder ist nicht deutsch. Er hatte einen sehr dezenten Geruch an sich. Angenehm, wie eine schöne Erinnerung aus der Kindheit, nicht zuzuordnen, eine Mischung aus Suchen von Walderdbeeren, dem Lieblingsessen und unbeschwertes Baden im Sommer. In all der Zeit, die er nun mit uns fuhr, war er immer an der letzten Station ausgestiegen, bevor der Zug die Stadt erreichte. Diesmal verließ er den Zug bereits nach nur zwei Stationen. Bevor er aufstand, wandte er sich mir zu und ich sah, wie besorgt sein Gesicht war.

Er schaute er mich einen Moment an und sagte mit leiser Stimme: „Ich muss nun gehen.“ Er hatte einen ganz leichten Akzent, aber auch im nachhinein kann ich nicht sagen, welche Sprache da mitschwang. Sein intensiver Blick und das Leid in seinem Gesicht wischten mir das höfliche Lächeln von den Lippen.

„Ich muss heute zurück in mein Land.“

„Dann wünsche ich Ihnen eine gute Reise und einen guten Aufenthalt.“ Was hätte ich sonst sagen sollen?  Ich konnte mir keinen weiteren Reim darauf machen, als dass er vielleicht zu einem schwerkranken Familienmitglied in seine Heimat reisen musste.

„Weder das eine noch das andere ist zu erwarten.“ Er stand auf und wandte sich mir noch einmal zu. Ich sah, dass ihm noch Worte auf den Lippen brannten. Aber stattdessen straffte er nur seine hohe Gestalt und bemühte sich um einen leichteren Ton. „Es ist nichts verloren, bevor es verloren ist.“

Ich schaute ihn unsicher an. Er legte die rechte Hand an seine linke Brust, verneigte sich leicht und ging. Als ich mich unbewusst leicht auf den von ihm verlassenen Platz stützte, um ihm nachzusehen, bemerkte ich unter meiner Hand einen Gegenstand. Etwas, dass er verloren haben musste. Es war ein Stein, eine Art Faustkeil, vielleicht ein Werkzeug, ich nahm ihn in die Hand.

Und so saß ich da, mit dem dritten Stein in der Hand und fühlte mich nach dem Weggehen des alten Mannes plötzlich grundlos schutzlos und verlassen. Aber der Stein in meiner Faust vermittelte mir noch ein anderes Gefühl, den Wunsch zu kämpfen und seine Worte klangen noch in meinem Kopf.

„Es ist nichts verloren, bevor es verloren ist.“

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