Kinderbücher
Lucy singt beim Hexentreffen

Lucy singt beim Hexentreffen

Weil nun Lucy Lieblich – die ja mit vollem Hexennamen Ludmilla Wortwhexel heißt – eine ganz richtige Hexe ist, ganz unbeeinflusst von ihrer geringen Körpergröße, deswegen hat sie auch eine sehr weitreichende Hexenverwandtschaft.

Da gibt es die Moorhexen, die Waldhexen, Wetterhexen, Berghexen, Kräuterhexen und die Wander-Hexen. Die arroganten Stadthexen, die Herzhexen für den Liebeszauber. Die Worthexen ( zu denen ja unsere Lucy gehört), die Hexen für Wahrsagerei, und die schwarzen Hexen für böse Flüche.

Die weißen Hexen, die die bösen Flüche wieder aufheben und die bunten Hexen, die auf Jahrmärkten oft zu finden sind, weil sie nur lustige und komische Sachen hexen können, was den Leuten dort viel Freude macht. Es gibt die Hexen in allen Größen und Formen und in jedem Alter.

Manche sind durch artgerechte Kleidung und Körperhaltung und durch das Tragen markanter Merkmale, wie Warzen auf der Nase und überlange Fingernägel, schon von weitem als Hexen zu erkennen. Andere leben völlig unerkannt unter den normalen Menschen, da sie sich stets für ihre Umgebung passend zurecht hexen.

Dummerweise sind aber leider nun alle nahen Hexentanten und Großtanten, Kusinen Großmütter und Urgroßmütter viel älter, größer und erfahrener und wissen daher auch immer alles besser. Weil aber die kleine Lucy eine äußerst freiheitsliebende Hexe ist, macht sie in der Regel einen großen Bogen um ihre lieben und fürsorglichen Verwandten. Sie macht lieber ihre eigenen Erfahrungen, anstatt treu und brav in den Fußstapfen der altehrwürdigen Hexenahnen zu gehen.

Glücklicherweise wird sie in den allermeisten Fällen von ihren sehr wichtigen Mithexen schlichtweg übersehen.

Natürlich wird sie zu den allgemeinen jährlichen Hexentreffen wie der bekannten Walpurgisnacht, dem Mittsommer- und dem Mittwinter-Vollmond, den Frühjahrs- und Herbst-Tag-und-Nacht-Gleichen (Blüten- und Erntefest) eingeladen. Daneben gibt es noch die speziellen Treffen für Worthexen, wo man selbstverfasste Sprüche, Lieder, Geschichten und Gedichte vortragen kann.

Lucy ist ja eine Liederhexe, denn sie kann die Wortzauber am Besten fügen, wenn sie dazu reimt und singt.

Beim Lieder- und Tanz-Reigen im Frühling durfte sie auch schon mal vorsingen. Leider konnte sie niemand hören, weil ihr zartes Stimmchen völlig von der brummelnden Unterhaltung zweier zuschauender Sumpfhexen übertönt wurde. Und da die anwesenden Hexen zum größten Teil auch noch kurzsichtig waren, und sie deshalb die winzige Ludmilla Wortwhexel auf der Hexendichterbühne nicht erkennen konnten, deshalb dachten alle, es wäre gerade Pause zwischen den Lesungen und Vorträgen. So packten sie die mitgebrachten Butterbrote und Wurzelsuppentöpfchen aus. Als dann die Sumpfhexen endlich ihr Gespräch beendet hatten, konnte Lucy wieder nicht durchdringen, da ihr Stimmchen vom allgemeinen Geraschel, Geschlürfe und Geschmatze überdeckt wurde.

Wütend sang sie den Pfeffer-Curry-Chilischoten-Zauber. Ihr Liedchen reichte zwar nur für eine ganz kleine Menge, doch die genügte um dafür zu sorgen, dass alle anweseden und kauenden Hexen nun inne hielten, die Münder auf rissen und sich hektisch Kühlung zufächelten.

Es war ein äußerst widerstandsfähiger Hexenspruch und bis es der ersten Hexe gelungen war, ihre Stimme wieder zu erlangen, durfte Lucy als Pausenfüller dienen und noch ganze drei zusätzliche Lieder singen. Ihre Tante Oblada, eine gemütliche Märchenhexe, zauberte ihr einen Schalltrichter, den sie nun vor Lucy hielt und eine riesige Leselupe, die vor Lucy auf das Lesepult gestellt wurde. Auf einmal konnte jeder sie sehen und hören, und wegen ihren wunderschönen Liedern und ihrem gräßlich brennenden Pfeffer-Curry-Chilischoten-Zauber hat sie dann auch keiner der Anwesenden je wieder vergessen. So stolz auf sich war Lucy Lieblich noch nie gewesen, wie in dieser kurzen Zeit, wo sie auf der Bühne ihre selbstgedichteten Lieder vortragen durfte – daran konnte auch die anschließende Gardinenpredigt der gestrengen Ururgroßmutter und Oberworthexe Reichranitzka nichts mehr ändern.

Und als sie an diesem Abend auf ihrem treuen Willibald durch die orange-rote Abenddämmerung nach Hause flog – da war sie die glücklichste und müdeste Hexe der Welt. Und hätte sie sich nicht vorsorglich mit einem Spinnwebfädchen angeschnallt, dann wäre sie noch heruntergefallen und verloren gegangen, denn mitten unterm Flug hörte man wie das jubilierende Singen des winzigen Hexenmädchens in ein zirpendes Schnarchen überging.