Eva hätte nie gewollt, nach Australien zu ziehen. Sie würde lieber bei ihren Freundinnen gewesen, als an die nervende heiße Sonne zu ziehen. Aber selbst Australien hat seine guten Seiten, vor allem wenn man Luca kennen lernt. Eva fängt an sich wohl zu fühlen, als es plötzich beginnt, merkwürdig zu werden...
 Ich atmete tief ein. Und wieder aus. Das wiederholte ich vier- oder fünfmal. Ich kann mich einfach nicht beruhigen. Das könnte niemand, der jetzt hinter einem Auto liegen würde und in so einer Situation wäre wie ich.
 Langsam richtete ich mich auf, der Schmerz, der in meiner Schulter pulsierte, war fast unerträglich. Aber ich hatte anderes im Kopf, ich dachte nicht einmal daran zu schreien, oder gar zu weinen.
 Vorsichtig schaute ich mich um, genau darauf bedacht, keinen Laut von mir zu geben, und mit dem Kopf unterhalb der Glasscheibe zu bleiben.
 Ich schaute nach links, aber dort sah ich nichts. Zumindest nichts Neues. Danas zusammengeknüllte Jacke lag immer noch auf demselben Fleck, sie flatterte etwas in dem leichten Wind.
 Ich drehte meinen Kopf vorsichtig nach Rechts, ich wollte mir nicht noch mehr Schmerz zufügen, als ich eh schon hatte.
 Ich erstarrte. Ich hörte sie zu mir kommen. Ich sah ihren langen Schatten, den die pralle Mittagssonne warf. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich ganz auf die Schritte, die sich dem roten Auto näherten. Dann erstarrten die Schritte. Ich ließ meine Augen geschlossen, ich wartete. Ich zählte im Kopf leise bis zehn. Als ich meine Augen öffnete, blickte ich in ihre Augen. In die Augen einer Mörderin. Sie sah immer noch gut aus. Sie lächelte mich freundlich an, aber ich sah die Wut in ihren Augen. Die Wut, die mich gleich töten würde.
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 Mir war bewusst, dass es keine Hoffnung mehr gab. Das mich keiner retten würde. Dass ich gleich sterben würde.
  Ich sitze hier und höre Musik. Denke nach über mein Leben, genauer gesagt über das, was in den letzten drei Monaten alles passiert ist. Wie viel sich ändern kann, in einer so kurzen Zeit.
 Valentina, Dana und Giulia. Ohne sie wäre ich jetzt wahrscheinlich eines dieser lächerlichen Kinder, die sich für cool ausgeben, weil sie schon trinken und mit 12 Jahren mit dem Rauchen angefangen haben.
 Valentina ist von uns dreien die hübscheste; sie hat dunkle, mandelförmige Augen, dunkelblonde Haare, die ihr fast bis zur Taille gehen, ein rundes Gesicht , und so wundervolle Lippen, wie es sich selbst das hübscheste Topmodel nicht wünschen kann.
 Valentina. Wir kennen uns schon seit der fünften Klasse. Anfangs haben wir einander nicht wirklich wahrgenommen, dann aber, war sie diejenige, die mich verstanden hat und mich tröstete, als mein Urgroßvater starb. Seitdem sind wir unzertrennlich. In der siebten Klasse, hat Dana uns einmal gebeten, ihr Englisch Nachhilfe zu geben, da wir beide in Englisch die besten waren. Dana und ich verstanden uns sofort. Valentina war eher skeptisch. Sie verstand sich nicht auf Anhieb mit Dana.
 Dana und ich verabredeten uns oft, Valentina war sehr eifersüchtig. Sie hatte ihre Eifersucht nie wirklich unter Kontrolle gehabt, das hat sie bis heute noch nicht. Irgendwann kam es, wie es kommen musste. Es gab einen riesigen Streit, Dana hielt zu mir, und Valentina zog sich lange zurück. Wir hatten nichts mehr miteinander zu tun.
 Dann wechselte Giulia auf unsere Schule. Sie ist mit ihren Eltern ausgewandert. Früher lebten sie und ihre Mutter in Italien. Ihr Vater starb kurz nach Ihrer Geburt an einem Autounfall. Giulias Mutter Yvonne lernte Mike kennen, der Urlaub in der Stadt machte, in der Giulia damals lebte. Es war wie Liebe auf den ersten Blick, sagt Giulia immer. Yvonne und Mike verstanden sich von Anfang an sehr gut, sie hielten lange Zeit engen Kontakt und besuchten sich immer sehr häufig. Schließlich machte Mike Yvonne einen Heiratsantrag, und sie beschlossen nach Deutschland zu ziehen. Giulia kann sich sehr glücklich schätzen. Sie ist sehr hübsch, und in der Schule auch sehr begabt und beliebt.
 Giulia fand schnell Anschluss in unserer Klasse. Sie freundete sich mit Valentina an, und sie wurden auch sehr enge Freunde. Als Valentina Giulia erzählte, was es einst mit Dana auf sich hatte, wollte Giulia eine Art Streitschlichterin spielen. Wir redeten lange, und sprachen alle unsere Gedanken aus. Seitdem sind wir vier die besten Freundinnen. Dank Giulia gibt es streit nur sehr selten.
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 „Eva! Stell die Musik leiser!“ meine Mutter, Kasy. Ich tat so, als hätte ich sie nicht gehört. Sie rief noch zweimal nach mir, bis sie schließlich in mein Zimmer stürmte und den Stecker der Anlage aus der Steckdose zog. Ich versuchte nicht, sie verdattert anzustarren, wie ich es sonst immer tat. Ich schaute weiter auf die Fotos, die vor mir verstreut waren.
 „Ist alles in Ordnung, liebes?“ Kasy sprach mit etwas erstickter Stimme, sie räusperte sich noch, ehe sie weiter sprach. „Was ist denn los?“ sie setzte sich neben mich.
 „Was ist denn los.“ Ich wiederholte sie argwöhnisch und lachte grimmig in mich hinein.
 „Du kannst mir sagen, wenn dir etwas auf dem Herzen liegt, liebes.“ Langsam nervte sie mich. Meine Mutter wusste genau worum es mir ging. Ich schaute auf das Foto, das in der Mitte lag.
 „Was denkst du denn, was los ist, Mom? Denkst du nicht auch, dass ich meine Freundinnen vermissen werde? Warum machst du das?“ Ich wunderte mich etwas über meine feste, ruhige Stimme. In Normalfällen hätte ich nur ein flüstern Zustande gebracht. Dies war allerdings kein Normalfall.
 „Kindchen, geht es dir immer noch um dasselbe Thema?“
 Ich schaute Kasy eindringlich in die Augen. Ich verstand einfach nicht, wie man einem Teenager so etwas antun kann. Welche Mutter nimmt ihr alles Glück, alle Freude und Freunde? Welche Mutter würde so etwas schon tun. Ich verstand einfach nicht, wie kalt man sein kann. Vielleicht übertreibe ich auch etwas, aber ich bin mir sicher, es gäbe auch andere Wege, als den, den sie gewählt hat.
 „Ja. Es geht mir um dasselbe Thema. Es wird mir immer um dieses Thema gehen. Warum nimmst du mir alles weg? Hättest du nicht auch einen Job nehmen können, der hier in der  nähe war? Zum Beispiel Im Sekretariat beim Bürgermeister. Du hast dich doch dort auch beworben, und du hast sogar eine Zusage bekommen!“ Tränen traten in meine Augen. Schnell schaute ich wieder auf die Fotos, und blinzelte die Tränen weg.
 „Eva, du weißt genau, dass ich einen Job hier in Braunschweig angenommen habe. Aber sie haben mich einfach weiterversetzt, und der Job, den sie mir aufgedrungen haben, ist nun mal in Australien.“
 „Australien!“ Ich ließ es wie ein Schimpfwort klingen. Ich schaute wieder auf. „Australien ist bloß eine moderne Wüste, überall Viecher, Mücken und Kakerlaken, die in Hochhäusern krabbeln!“
 „Eva, beruhige dich. Wir haben das oft genug ausdiskutiert. Entweder du kommst mit, oder du gehst zu deinem Vater. Du kannst deine Entscheidung immer noch ändern.“ Ich starrte sie an und mein Kiefer klappte auf. Schnell machte ich meinen Mund wieder zu. „Tu mir das nicht an! Das ist so eine Qual!“ Ich konnte mich jetzt nicht länger beherrschen. Die Tränen strömten nur so über mein Gesicht, ich heulte und schluchzte. Ich merkte, wie lange ich es unterdrückt hatte. Meine Gefühle habe ich viel zu lange versteckt. Jetzt konnte mich nichts mehr stoppen.
 Kasy legte mir eine Hand auf die Schulter, aber ich schüttelte sie ab „Geh! Geh einfach aus meinem Zimmer!“ Meine Stimme brach weg. Mom seufzte einmal, und dann verschwand sie. Ich ließ meinen Gefühlen freien Lauf. Ich warf mich auf meine Matratze, denn mein Bett war bereits abmontiert. Ich schluchzte und weinte. Lange lag ich da und weinte. Irgendwann war ich eingeschlafen.
 Als ich aufwachte, war es dunkel. Ich drehte mich um und setzte mich auf, als ich merkte, dass ich auf etwas nassem lag. Ich blinzelte ein paar Mal; als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, schaute ich auf das nasse Tuch – falls es ein Tuch war.
 Ach so. Mein Kissen. Hätte ich mir ja eigentlich denken können. Es war total durchnässt. Ich stand auf und schaltete das Licht an. Ich holte aus dem Schrank ein neues Kissen raus, und auch ein neues Kissenbezug. Als ich fertig war, legte ich mich wieder hin um weiter zu schlafen. Eine halbe Ewigkeit wälzte ich mich hin und her – so kam es mir jedenfalls vor. Als ich mich zum wiederholten male aufgesetzt hatte, um mein Kissen aufzuschütteln, fiel mein Blick auf die Uhr. Es war drei Uhr morgens. Na toll. Auf eine komplizierte Art zog ich mir meine Jeans unter der Decke aus, und warf sie auf den Boden. Wieder wälzte ich mich hin und her. Dann fiel mir ein alter Trick ein, den ich als kleines Mädchen immer gemacht hatte, um mich zu beruhigen, als ich nachts Albträume hatte. Ich legte meine Hand aufs Herz und drehte mich auf den Bauch. Meine Augen kniff ich zu, dann konzentrierte ich mich ganz auf meinen Herzschlag. Endlich wurde ich etwas müde.
 Plötzlich ertönte aus dem Nebenzimmer ein lauter Knall. Ich erschrak. Ich setzte mich sofort wieder auf und starrte in die Leere. Was war das für ein Knall gerade? Es klang so nah, als würde man – ich traute mich kaum, den Gedanken vollständig zu denken - jemanden direkt im Nebenzimmer erschießen.
 Die Tür wurde weit aufgerissen, vor Schreck schrie ich laut auf.
 „Sei still! Die Nachbarn schlafen!“ meine Mutter fauchte fast.
 „Mum! Du hast mich zu Tode erschreckt!“ ich schrie fast.
 Meine Mutter knipste das Licht an, ich musste ein paar Mal blinzeln, um mich an das Licht zu gewöhnen. „Was ist passiert?“ fragte ich, als sie immer noch wie erstarrt im Türrahmen stand. „Tut mir leid.“ stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen vor. Bedrückt schaute sie zu Boden. „Ich… ich bin… schlafgewandelt… und habe eine Vase umgestoßen.“ Sie schaute auf. Irgendwas stimmte da nicht. Zwar war sie schon oft schlafgewandelt, aber eine Vase die zerbrach, das klang doch ganz anders. Wie ein plärren und klirren. Aber ich bin mir sicher, ich hätte einen Knall gehört. Skeptisch schaute ich meine Mutter an. „Na… Gut. Wenn das so ist.“ Erleichtert Seufzte sie. „Ich wollte dich nicht erschrecken. Tut mir leid Eva.“ Sie hatte gerade fertig gesprochen, da knallte sie schon die Tür zu. Merkwürdig. So habe ich meine Mutter noch nie erlebt. Sie schien ja wirklich sehr... verwirrt zu sein. Obwohl, das trifft es nicht ganz. Aufgelöst scheint das passendere Wort zu sein.
 Wie immer, hat sie vergessen das Licht auszuschalten. Normalerweise fällt es ihr ein, und sie macht es selbst wieder aus. Diesmal nicht. Sehr ungewöhnlich. Ich stand auf, um das Licht auszuschalten. Ich schälte mich aus der Decke und schwankte etwas, als ich stand; ich bin zu schnell aufgestanden. Ich machte einen Schritt und fiel prompt hin. Typisch. Auf ebener Fläche über seine eigenen Füße zu stolpern, das schaff auch nur ich.
 Wenige Sekunden vergingen und die Tür wurde wieder Aufgerissen. „Mum! Was ist los mit dir?!“
 Meine Mutter zögerte. Das glich einer Premiere. Meine Mutter zögert nie. Total angestrengt und verdattert schaute ich sie an, ihr besorgter Blick machte mir langsam Angst. Dann zog sie von Dannen. „Schlaf jetzt Eva.“ Diesmal schaltete sie das Licht aus, ließ aber die Tür offen. Ich starrte die Wand an, auf die ich schauen konnte, wenn ich durch die offene Tür schaute. Ich sah den übermalten Fleck auf der Wand. Der Mond schimmerte in einer eigenartigen Farbe, in welcher der Fleck deutlich zu erkennen war. Ich erinnere mich genau daran. Als wäre es gestern passiert. Ich weiß noch deutlich, wie ich mich mit meiner Mutter stritt, und ich so eine Wut aufgebaut hatte, dass ich sie schubsen wollte. Geschickt wich sie mir aus, und ich fiel Hals über Kopf durch die Glastür, die jetzt durch eine Holztür ersetzt wurde. Das viele Blut haben wir nie aus der Wand rausbekommen, also hat meine Mutter die weiße Wand übermalt.
 Ich stand auf und machte die Tür zu, aber das Licht an. Ich schaute auf die Fotos, die immer noch auf dem Boden verstreut waren. Ich kniete mich davor und schaute mir das Foto in der Mitte an. Das größte und schönste Foto. Es ist ein Foto von Dana, Giulia, Valentina und mir. Wir stehen in einer Reihe – jeweils eine im Arm der anderen- und grinsen in die Kamera. Dana machte mit ihrer freien Hand ein Peace- Zeichen, während ich in die Kamera winkte.
 Ich nahm das Foto in meine Hand und schaute es mir genauer an. Damals hatte Dana noch ihre Zahnspange.
 Damals.
 Damals war alles so wundervoll. Wo wir alle vier so toll befreundet waren. Und jetzt kommt meine Mutter, und zerstört diese wundervolle Harmonie. Das Monster stellt mich vor die Wahl: Entweder ein Neuanfang in Australien, oder ein Leben mit meinem Vater.
 Ich bin nicht dumm. Natürlich wähle ich den Neuanfang. Ein Leben mit meinem Vater ist unerträglich. Er hat meine Mutter noch vor meiner Geburt verlassen, weil er eine Karriere als Solo-Sänger machen wollte. Ich habe seit über zehn Jahren nichts mehr von ihm gehört. Zehn Jahre. Das will schon was heißen, ich meine, jetzt bin ich Siebzehn. Das letzte was ich in der Zeitung über ihn las, war das er Drogenabhängig geworden war und untergetaucht ist. Natürlich pflegt das Gericht den Kontakt zu ihm, weglaufen würde ihm eh nichts bringen, meine Tollpatschigkeit habe ich nämlich von ihm. Diese Unkoordination ist nicht nur körperlich veranlangt, wir sind auch im Kopf nicht die allerhellsten. Er würde also in Grund und Boden versagen. Er zahlt für mich noch unterhalt, mehr aber auch nicht. Mehr will ich auch nicht. Und das meine Mutter mich ihm aussetzen will, das ist eine Beleidigung.
 Ich horchte auf, als ich den Wind heulen hörte. Es ist ziemlich selten, das mitten im Sommer so ein Sturm aufzieht. Ich schaute nach draußen. Der Mond war wunderschön. Ich habe ihm die letzten Wochen keine weitere Beachtung geschenkt, aber jetzt sehe ich, wie wunderschön er leuchtet. Etwas weiter sah ich schwere Wolken am Himmel, die den Mond zu verdecken drohten.
 Ich legte mich wieder auf meine Matratze und hoffte, dass der Schlaf mich überfallen würde. Ich war zwar müde, aber nicht wirklich in der Lage von der Realität zurückzuweichen. Ich legte mich wieder auf den Bauch, die Hand auf dem Herz, und konzentrierte mich ganz auf meinen regelmäßigen Herzschlag. Das beruhigte mich etwas. Ich drehte mich wieder auf den Rücken und schloss die Augen.
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  Ein letztes Mal nahmen sie mich in die Arme. Wir waren alle am weinen, am schluchzen. Ich würde Dana, Giulia und Valentina schrecklich vermissen.
  „Schreib uns sofort, wenn du angekommen bist.“ Danas Stimme war so zittrig, dass sie kaum ein flüstern zu Stande brachte. Ich riss mich von den anderen los und drückte sie ein letztes Mal. Ich war so am weinen, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte.
  Valentina hat es am schlimmsten getroffen. Wir beide kannten uns am längsten. Ihr Gesicht war total verheult und von der Schminke völlig verschmiert. Sie schaute mich mit ihren roten Augen an. „I- i- i- ich w- w- werde dich so vermissen, Eva.“ Sie stotterte. Ich musste ein winziges bisschen Lächeln, ich liebte ihr stottern. Es passte so zu ihr, wie das blaue zum Himmel. Wir umarmten uns alle vier noch einmal, dann rief meine Mutter mich: „Eva, es reicht jetzt, wir verpassen unseren Flug!“ ich stellte mich taub.
  „Komm uns bald besuchen.“ Giulia flüsterte mir ins Ohr.
  „Wir werden dich vermissen. Geh jetzt, sonst verpasst du wirklich deinen Flug.“ Als sie letzteres sagte, brach ihre Stimme weg. Noch ein letztes Mal umarmte ich sie alle, Stirn an Stirn standen wir alle vier in einem engen Kreis.
  Ich löste mich langsam von ihnen, von meinen besten Freundinnen, die ich hoffentlich sehr bald wiedersehen würde. Es war so ein Verlust, wegzuziehen, so weit weg von meinen Freundinnen. So schmerzhaft. Ich würde sie so schrecklich vermissen.
  Ich schaute ihnen noch einmal in die Augen, jeder einzelnen und fing wieder an zu weinen.
  „Ich liebe euch. Danke für alles. Ich vermisse euch bereits jetzt so sehr, das es schm… schmerzhaft ist.“ Meine Stimme brach weg, ich schaute sie noch einmal an und drehte mich langsam um.
  Meine Mutter hielt mir bereits die Tür auf. Ich setzte mich auf den Ledersitz unseres Audis und hatte den unwiderstehlichen drang aufzuspringen, und mit meinen Freundinnen davonzulaufen. Aber ich widerstand dieser Versuchung, schnallte mich an und blickte aus der Windschutzscheibe. Was mein Blick verriet, konnte ich nicht sagen, aber bevor meine Mutter den Motor startete, schaute sie mich prüfend an und seufzte.
  Ich wandte meinen Blick um und sah zu meinen Freundinnen. Zu meinen allerbesten Freundinnen. Valentina, Dana und Giulia. Dana schaute mich nicht an, sie hockte auf dem Boden, das Gesicht hatte sie in ihre Hände vergraben. Giulia saß neben ihr, tröstete sie. Sie strich ihr mit einer Hand über den Kopf und schaute mit Leerem Blick in meine Richtung. Valentina winkte mir und hörte nicht auf zu weinen. Ich winkte ihnen noch ein letztes Mal zu, dann drehte ich mich um und starrte wieder aus der Windschutzscheibe.
  „Ich hasse dich dafür.“ Sagte ich mit einer Stimme, die Verlust und Schmerz zeigte. Meine Mutter antwortete nicht gleich, sie murmelte etwas Unverständliches.
  Eine Weile fuhren wir schweigend in unserem Audi S3. „Du wirst es verstehen.“ Sagte meine Mutter so ruhig und so plötzlich, dass ich zusammenzuckte. „Mh- hmm“ machte ich nur. Meine Stimme war immer noch ganz zittrig, trotz der langen fahrt. Ich traute ihr noch nicht.
  Ich dachte viel über den Abschied nach. Es tat mir sehr weh. Als würde mir jemand mein Herz rausreißen und mit krallen in der Wunde herumkratzen.
  Erst als meine Mutter mich vorsichtig an der Schulter antippte und ich aufblickte, merkte ich das ich fast die ganze Fahrt über nur geweint hatte. Ich blinzelte und schaute zu meiner Mutter. „Wir sind da“ murmelte sie. Ich schaute wieder nach vorne, schloss die Augen und atmete tief durch. Dann stieg ich aus.
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  Der Flug war entsetzlich. Es dauerte eine halbe Ewigkeit bis wir in Bangkok waren, wo das Flugzeug einen Zwischenstopp zum Tanken machte. Und es dauerte eine weitere Ewigkeit, bis wir endlich in Adelaide waren.
  In Adelaide war die Luft ganz anders als in Deutschland. Oder es kam mir nur so vor, weil die Luft im Flugzeug so erdrückend war. Jedenfalls war es hier auf eine für mich beängstigende Art eine Erleichterung einzuatmen. Die Luft hier war rein und frisch. Warm. Obwohl es nachts war. Es war nicht heiß, wie ich es erwartet hatte, da ein kühler Wind aus dem Norden herwehte. Es war einfach angenehm warm.
  Meine Mutter stand an der Straße und redete mit einem Taxifahrer. Da meine Mutter Engländerin war, sprachen wir zu Hause oft Englisch. In der Schule hatte ich selbst immer gute Noten gehabt, weil Englisch praktisch meine Muttersprache war. Obwohl ich selbst lieber Deutsch sprach.
  Meine Mutter winkte mich zu sich während der Taxifahrer unser Gepäck in den Kofferraum seines Busses hievte. Ich setzte mich hinter den Beifahrersitz, damit ich meiner Mutter nicht in die Augen schauen musste. Die fahrt zum Hotel war im Vergleich zum Flug praktisch nicht da. Eine viertel Stunde ist nichts, im Vergleich zu einem zweiundzwanzig- Stunden Flug. Die fahrt machte mir also nicht viel aus, ich glaube meine Mutter beruhigte das etwas.
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  Das Hotel war sehr nobel eingerichtet. Mit Vertäfelten Wänden und einem passendem dunkeln Holzboden. Mein Bett war riesig. Ich setzte mich drauf und wollte mich sofort umziehen und schlafen gehen. Ich kratzte ein paar Sachen aus dem Koffer zusammen und ging ins Bad.
  Und blieb sofort stehen. Es war total luxuriös. Eine Badewanne in die mindestens drei Menschen reinpassen würden. Überall beigefarbener Marmor. Ein Spiegel der über die ganze Wand ging. Ich stellte mich davor und betrachtete mich. Ich hatte Augenringe und um meine blauen Augen herum glühten die dünnen Äderchen. Ich sah so aus als hätte ich eine Woche lang ohne Schlaf verbracht. Ich kaute auf meiner Lippe herum und drehte meinem Spiegelbild den Rücken zu. Ich ließ Wasser in die riesige Badewanne laufen und kämmte mir die Haare. Ich vermied Spiegelbilder von mir. Ich wollte nicht in das traurige, müde Gesicht blicken.
  Als ich fertig war zog ich mich um und ging mit nassen Haaren in das riesige Bett. Normalerweise gehe ich immer mit geföhnten Haaren ins Bett, da ich sonst immer Locken kriege, welche nur schwer zu bändigen sind.
  Ich schaute mich um, und sah nichts. Gähnende Leere. Alles war schwarz. Ich sah den Boden nicht, so dunkel war es. Ein Luftzug ließ mich erschaudern. Ich wollte mir durch meine Haare streichen, aber sie wirbelten irgendwie in der Luft herum. Als ich nach oben blickte, wurde mir klar, dass ich falle. Ich sah ein Licht das sich immer weiter entfernte und immer kleiner wurde. Panisch fing ich an mit den Armen herumzuwirbeln, als ob ich fliegen könnte. Mein Unterbewusstsein sagte mir, dass ich träumte. Ich kannte diesen Traum. Ich habe ihn schon so oft geträumt. Immer passiert dasselbe. Ich falle so lange bis ich nicht mehr atmen kann und mit einem Schrei erwache. Irgendwie geduldig träumte und wartete ich weiter. Mein Traum hat sich nicht verändert.
  Genauso wenig wie der Schrei, mit dem ich immer erwache. Es war ein Kreischen. Wie immer. Ein erschrecktes, gurgelndes Kreischen. Meine Mutter platzte in das Zimmer, als sie sah, dass ich in meinem Bett aufrecht saß und keuchte, schloss sie ihre Augen, atmete einmal ein und ging wieder hinaus. Wie immer, wenn ich nachts kreischte. Obwohl das blendende Licht mich daran erinnerte, dass es kaum noch Nacht sein konnte. Ich stand auf und ging zum Fenster.
  So einen Himmel habe ich noch nie gesehen. Dieses leuchtende blau faszinierte mich. Nicht ein kleines Wölkchen war am Himmel zu sehen. Adelaide war ein schöner Anblick. Ich hatte von meinem Zimmer aus eine sehr schöne Aussicht. Ich sah ein paar Hochhäuser und das satte grün der Bäume, deren Blätter in dem leichten Wind flatterten. Es sah alles so harmonisch aus. Obwohl man erst denkt, Hochhäuser und Natur, dass passt doch gar nicht.
  Ich hatte auf eine merkwürdige Art ziemlich gute Laune. Aber die sank, als mein Unterbewusstsein mir zuflüsterte, dass es morgen weitergehen würde. Morgen würden wir nämlich wieder zum Flughafen fahren. Dann würden wir weiterfliegen. Leider nicht nach Deutschland, sondern dreitausend Kilometer weiter in den Süden. Nach Perth. Das ist die abgeschiedenste Großstadt der Welt. Ausgerechnet nach dort mussten wir ziehen. In eine Pfütze, rundherum war nichts. Vielleicht gab es ja Berge. Felsen und Klippen. Steine, Sand und Kies. Eine gute Sache gab es ja, dort wo wir hinziehen würden, waren es gerade mal fünf Minuten zum Strand. Ich liebe das Meer. Den salzigen Geruch und den angenehm warmen Wind. Fast schon wollte ich mich beeilen, um so früh wie möglich ans Meer zu gelangen. Aber da gab es eine Sache, die alles Positive herunterspielte.
  Schule.
  Ich wusste nicht was mich Erwarten würde, ich habe diese Schule nur auf einem alten Foto gesehen, aber auch nicht die ganze Schule war auf dem Bild zu sehen. Nur das Gesamtbild. Alleine dieses Gesamtbild wirkte total verstörend auf mich. Denn vor den Fenstern waren Gitterstäbe befestigt und das Schulgebäude, so kam es mir vor, bestand nicht aus Wänden sondern aus Mauern. Es sah fast aus wie ein Gefängnis. Ein sehr verstörendes Gesamtbild.
  Ich  drehte mich um und stand mit dem Rücken zum Fenster, zur Sonne. Ich dachte eine Weile nach. Ich versuchte mir meine Zukunft hier in Australien vorzustellen, aber es schien unmöglich. Ich konnte mir kein Gesamtbild verschaffen, welches nicht verstörend auf mich wirkte.
  Warme Sonnenstrahlen kitzelten meine blasse Haut, ich ging zu meiner Mutter um nach dem Frühstück zu Fragen.
  „Frühstück? Kind, in zwei Stunden gibt es Abendbrot!“ sagte sie nur.
  Ich hatte Vergessen wie man sich bewegt. Ich war auf einmal total verwirrt. Plötzlich schwebten meine Alpträume und meine verstörenden Zukunftsvorstellungen vor meinem Auge. Das alles wirkte plötzlich so unrealistisch. Ich wusste nicht mehr wo vorne und hinten war. „Wie spät ist es?“ fragte ich leise.
  „Es ist kurz nach fünf! Du hast echt lange geschlafen! Ich meine, wir waren um drei Uhr morgens im Hotel. Denk mal nach, über zwölf stunden schlaf. Das schaff ich nicht einmal…“ sie machte jetzt Überlegungen, und murmelte weiter vor sich hin.
  Ich ging ins Badezimmer, ich brauchte jetzt eine heiße Dusche. Das beruhigt mich immer. Und duschen stand sowieso ganz oben auf der Liste.
  Hier in Australien scheint die Zeit wie im Flug zu vergehen. Ich zupfte mir gerade mein Oberteil zu Recht, welches ich gerade angezogen hatte, als meine Mutter an der Tür klopfte und mich zum Essen bat.
  „Gefällt es dir hier? Das Wetter ist toll oder? Hast du die vielen Hochhäuser gesehen? Die sind echt riesig!“ meine Mutter plapperte schon wild drauf los, wir waren nicht einmal bei den Fahrstühlen angelangt.
  „Mom, ich habe noch nicht viel gesehen. Ich stand vielleicht fünf Minuten am Fenster.“
  „Oh“ mehr gab sie nicht von sich. Sie grübelte in sich hinein; ich riss sie nicht aus ihren Fantasien.
  Nachdem wir nur still und schweigend unser Abendbrot gegessen hatten, überfiel mich die Neugier.
  „Wie wird unsere Wohnung aussehen? Oder haben wir ein Haus? Wie ist mein Zimmer eingerichtet? Ist es schon eingerichtet?“ Die fragen sprudelten nur so aus mir heraus, bevor ich darüber nachdenken konnte, was ich sagen wollte.
  „Jetzt überkommt es sogar dich, was? Du wirst sehen, es wird dir gefallen.“ Sie zwinkerte mir zu. Darüber dachte ich etwas nach. Ich habe einen ziemlich ausgefallenen Geschmack, wenn selbst meine Mutter meint, es wird mir gefallen, muss es schon was heißen.
  Wir wollten auf die Terrasse gehen, die Aussicht auf uns wirken lassen. Wir standen auf und gingen in einer langsamen Geschwindigkeit auf die Treppe zu, die zur Terrasse führte.
  Allein die Treppe war völlig bewundernswert. Sie war aus dunklem Mahagoni-Holz und mit einem weichen und einladenden Teppich verlegt. Das Geländer hatte edle und glänzende Verzierungen, die alle paar Zentimeter Rosen formten. Ich hätte erwartet, dass die riesige Holztreppe knarrt oder irgendeinen hohlen Dumpfer von sich geben würde, wenn ich drauf treten würde. Ich hatte mich geirrt. Nicht ein Mucks. Es war sogar kaum zu hören, dass ich die erste Stufe betrat. Als ich ungefähr die Hälfte hinter mir hatte, drehte ich meinen Kopf herum, um mich zu vergewissern, dass meine Mutter noch hinter mir war. Ich hatte nicht gehört, dass sie direkt hinter mir war.
  Meine Mutter knallte gegen mich, verlor ihr Gleichgewicht und ruderte mit dem Armen. Normalerweise hätte ich nie so schnell und reflexartig gehandelt, aber diesmal war es der Schrecken der mich steuerte.
  Ich streckte rasch meinen Arm aus, griff nach einer Hand von Kasy. Sie hielt sich an mir fest und ich zog sie an mich.
  „Eva! Warum bleibst du stehen? Beinahe wäre ich runtergefallen!“ meiner Mutter schoss Zornesröte ins Gesicht, was ich nicht verstand. Denn ich hatte sie schließlich vor einer Demütigung bewahrt.
  Ebenso Abrupt wie ich stehengeblieben war, drehte ich mich um und ging weiter die Treppe hoch. Meine Mutter schien völlig launisch zu sein. Sie legte mir einen Arm um die Schulter, als sie neben mir war. „Tut mir leid, Liebes. Bist du sauer? Danke, dass du mich aufgefangen hast.“
  „Mom, ich bin nicht sauer. Ich wollte nur runter von der Treppe, irgendwie scheint sie gefährlich zu sein. Still und heimlich.“ Ich grinste sie an und ging durch einen großen, hölzernen Bogen der auf die Terrasse führte.
  Die Terrasse war wunderschön. Die Aussicht war einfach nur genial. Man wollte gar nicht wegschauen.
In der hinteren Ecke der Terrasse war ein Podest, eine Art kleine Bühne, auf der standen vier Männer, die elegant gekleidet waren; jeder von ihnen hatte ein Instrument, sie spielten den Walzer.Â
  Vor der Bühne schwangen sich wenige Paare über die Tanzfläche, sie schwebten von einer Stelle zur anderen. Ich ging an den Rand der Terrasse und lehnte mich an das Hüfthohe Geländer. Hinter den braunen Felsen, die jetzt im Sonnenuntergang rot schimmerten, ging die Sonne unter. Der Himmel war wunderschön. Er war von gelb zu Schwarzblau gefärbt, es war ein Atemberaubender Anblick.
  „Schön, nicht?“ Kasy stand hinter mir und legte eine Hand auf das Geländer.
  „Ja. Es ist wundervoll.“ Ich schaute über die vielen Dächer der Stadt, es kam mir vor wie eine Urlaubsreise.
  Ich wusste nicht, wie lange wir dort standen und uns den Sonnenuntergang anschauten. Irgendwann war über uns ein klarer schwarzer Himmel, beleuchtet vom Halbmond und Milliarden funkelnder Sterne.
  Ich drehte mich zu meiner Mutter um, sie stand jetzt halb zu mir gedreht und schaute in den Himmel.
„Lass uns gehen“ sagte ich. Ich wollte schlafen gehen, ich spürte wie mich die Müdigkeit füllte.
 Auf dem Weg zurück in unser Hotelzimmer wurde ich immer Müder, immer schwerer. Wie konnte mich die Müdigkeit so schnell überrollen? Ich war zusätzlich verwirrt, was mich umso müder machte. Ich konnte nicht mehr klar denken. War ich so müde? Meine Mutter hakte sich in meinen Arm, sie merkte, dass ich schläfrig war. Ein Teil meines Gewichtes lastete auf ihr. Sie schloss unser Hotelzimmer auf und half mir ins Bett, ich wunderte mich, wie ich nach zwölf Stunden schlaf schon wieder so müde sein konnte.
„Morgen wird es ein anstrengender Tag sein, Liebes.“
Ich schaute Kasy mit verschleiertem Blick an, ich konnte wirklich kaum noch denken.
„Schlaf gut, Liebes.“ War das letzte was ich noch richtig wahrnahm. Ich drehte mich zur Seite, ich wollte jetzt in Ruhe schlafen. Die Müdigkeit überkam mich jetzt völlig, ein ruhiger traumloser Schlaf überrollte mich jetzt.