Biografien & Erinnerungen
Stadtkind - Kindheitserinnerungen Letzter Teil

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"Stadtkind - Kindheitserinnerungen Letzter Teil"
Veröffentlicht am 29. April 2010, 12 Seiten
Kategorie Biografien & Erinnerungen
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Wer es ganz genau wissen möchte, schaue auf meine Homepage: http://www.ilonas-cottage.de
Stadtkind - Kindheitserinnerungen Letzter Teil

Stadtkind - Kindheitserinnerungen Letzter Teil

Beschreibung

Ich blicke zurück auf eine zauberhafte Kindheit, so behütet und so unbeschwert. Die vielen kleinen Ereignisse hatten damals für mich enorme Bedeutung und formten mich schließlich zu dem Menschen, der ich heute bin. Mit diesem Abschnitt meiner Erinnerungen verabschiede ich mich und hoffe, Sie auf meiner Zeitreise in die 1960er Jahre gut unterhalten zu haben.

 

Mit meinem 8. Geburtstag gingen auch die Sommerferien zu Ende. Hinter mir lagen zwei erlebnisreiche schulfreie Monate. Ich war verliebt in mein eigenes Kinderzimmer und nun sollte ich auch die neue Schule kennenlernen.

 Am 1. Schultag des 2. Schuljahres begleitete mich meine Mutter. Ich freute mich auf eine freundliche junge Lehrerin und auf nette Mitschüler. Im Sekretariat teilte man mir mit, daß ich in die Klasse 2d zu Fräulein Lenz, in Raum 3 gehen solle.

Fräulein Lenz - eine Lehrerin mit so einem freundlichen Namen mußte einfach jung, hübsch und sehr nett sein. Mit meiner Mutter stieg ich also wieder hinunter ins Erdgeschoß. Dort stand eine kleine, blonde, attraktive Frau. Das mußte sie sein.

“Fräulein Lenz?”

Die junge Frau schüttelte den Kopf und wies zum Nachbarraum. Dort fanden wir aber kein Fräulein Lenz. Lediglich eine Putzfrau jagte schimpfend mit einem Blumentopf durch das Klassenzimmer.

 

 

alt

Zu DDR-Zeiten war es durchaus üblich, daß sich vitale alte Leute noch etwas zu ihrer niedrigen Rente dazuverdienten. Diese Putzfrau war mindestens 70 Jahre alt, groß, sehr schlank, altmodisch gekleidet und ihren auffallend kleinen Kopf krönte ein Haarnetz. Unter einer Oma stellte ich mir eine kleine, gütige, liebenswerte Frau vor. Eine so unsympathische Oma wie diese Putzfrau wollte ich nicht geschenkt haben. Was bildete die sich eigentlich ein? Als Reinigungskraft hatte sie sicher nicht das Recht, in diesem Ton die armen Kinder zu tyrannisieren. Wo aber steckte Fräulein Lenz? Jeden Moment mußte es doch wieder zur neuen Unterrichtsstunde klingeln? Schließlich fragte meine Mutter die alte Dame.

“Ja, ich bin Fräulein Lenz. Ich bin deine neue Lehrerin.”

Oh nein! Ganz schockiert blickte ich meine Mutter an, die für einen kurzen Augenblick ebenso entgeistert zurückschaute. Dieser alte Drachen sollte meine Lehrerin sein? All meine Illusionen platzten wie eine Seifenblase. Am liebsten hätte ich auf dem Absatz kehrt gemacht und wäre geflohen. Mutti drückte fest meine Hand, als wollte sie sagen “Kopf hoch! Da mußt du jetzt durch. So schlimm wird es schon nicht werden.” Mit einem mitleidigen Lächeln verließ sie mich.

 

 

 

Fräulein Lenz stellte mich der Klasse vor und fragte, ob sie mich “Loni” nennen dürfe. Sie hätte früher bereits eine Ilona unterrichtet, die sie immer “Loni” nannte. “Loni” ... Meine Name ist ILONA. In mir brodelte es. Alles bäumte sich dagegen auf, aber total eingeschüchtert nickte ich mit dem Kopf.

 Es stellte sich heraus, daß Fräulein Lenz bereits 73 Jahre alt war. Schon mein Onkel hatte unter ihrer skurrilen Regentschaft zu leiden. Nun war sie nicht wirklich boshaft, aber ich bin heute davon überzeugt, daß sie mir eine große Portion meines bis dahin recht ausgeprägten Selbstbewußtseins genommen hat.

In der 1. Klasse mußte ich mich vom Linkshänder zum Rechtshänder umgewöhnen. Woran ich mich jedoch in der 2. Klasse gewöhnen mußte, war noch viel schwieriger. Für meine schöne Handschrift bekam ich bisher nur Einsen. Bei Fräulein Lenz hagelte es plötzlich Dreien. Sie verlangte eine große, schräge Schrift und meine zierlichen, geraden Buchstaben gefielen ihr gar nicht. Sie stand dann neben mir, beugte sich hinunter und ihre feuchte Aussprache hinterließ Flecken auf meinem Heft. Dabei sah ich in ihr 

 

 

 

zerfurchtes Gesicht. Angeekelt fielen mir dann immer die kleinen weißen Schaumklümpchen in ihren Mundwinkeln auf. Nicht selten kämpfte ich mit einem aufkommenden Brechreiz.

 Im Mathematikunterricht sollte ich einmal den Lösungsweg einer Aufgabe beschreiben. U. a. sprach ich davon, daß ein “Galgen” gezeichnet werden muß. Plötzlich brach Fräulein Lenz in schallendes Gelächter aus. Natürlich wußte ich, daß dieses Ding auch “Tabelle” genannt wird, aber meine erste Mathelehrerin bezeichnete es meist als “Galgen”. Nun wurde ich dafür von der ganzen Klasse und vorallem von der Lehrerin ausgelacht. Meine künftigen Antworten wurden immer vorsichtiger.

 Die alte Dame hatte einige seltsame Gepflogenheiten. Stand z. B. in der ersten Unterrichtsstunde eine Klassenarbeit auf dem Plan, kam sie prinzipiell und ausnahmslos zu spät. Sie hatte verschlafen, die Straßenbahn fuhr nicht pünktlich oder der Bruder, mit dem sie zusammenlebte, war erkrankt. Nun knallte sie die Aktentasche hin, stellte einen Stuhl auf den Tisch und dann mußte ihr ein Schüler beim Hochklettern behilflich sein. Von da oben hatte sie die beste Übersicht. Kein Schüler wagte zu spicken oder 

 

 

vom Nachbar abzuschreiben. 

Einmal lieh sich mein Banknachbar einen Radiergummi aus. Als ich den nun selbst benötigte, sprach ich ihn an. Obwohl ich sonst ganz ruhig war, bekam ich sofort eine Abfuhr.

“Bis morgen schreibst du zehnmal: ,Ich schwatze nicht im Unterricht.’”

Das fand ich sooo ungerecht! Andere Schüler unterhielten sich in der Mathematikstunde über dies und jenes miteinander. Ich wollte lediglich meinen Radiergummi zurück und wurde deswegen des Schwatzens beschuldigt.

 Kinder in der Hofpause. Alle bewegen sich, spielen, rennen, toben, zum Stillsitzen ist im Unterricht genug Gelegenheit. Eine Klasse bildete dabei eine große Ausnahme. Klingelte es zur großen Pause, mußte die Klasse 2d zu zweit antreten und unter Führung von Fräulein Lenz artig und gesittet, Hand in Hand auf dem Schulhof flanieren. Sehnsüchtig schauten wir auf die fröhlich herumtollenden Kinder. Die konnten nicht mehr, als uns bemitleiden.

 

 

Bemitleidenswert war auch ein Geschwisterpaar meiner Klasse. Die beiden kamen aus weniger guten Verhältnissen. Freunde hatten sie kaum, denn mit Wasser und Seife gingen sie äußerst sparsam um. Manchmal fanden wir unter den Bänken vergessene oder absichtlich liegengelassene Schulbrote. Die Geschwister sahen absolut nicht unterernährt aus, machten auf die Lehrerin anscheinend aber so einen ärmlichen Eindruck, daß sie nach einer gründlichen Begutachtung die Schnitten an die beiden verteilte. Ich hätte sie garantiert nicht gegessen, und wenn der Magen noch so laut knurrte. Die Geschwister aßen sie auf, sogar mitten in der Unterrichtsstunde. Das war eine Freiheit, die Fräulein Lenz gern einräumte, weil sie selbst zwischen Deutschdiktaten und dem Einmaleins ständig Knäckebrot knusperte. Nur mit Brötchen oder Weißbrot durften wir uns nicht von ihr erwischen lassen. Das hielt sie für ungesund und nannte es Paps.

 Mit unserem Fräulein erlebten wir einige recht merkwürdige Episoden. Bei Glatteis kam sie einmal mit dicken Wollsocken über den Schuhen in die Schule. Sie dachte gar nicht daran, sie wenigstens hier auszuziehen. Ich war nicht die einzige Schülerin, die den ganzen Tag belustigt auf ihre Füße schaute.

 

 

Ein anderes Mal erzählte sie uns, weil sie einen ihrer Schuhe nicht finden konnte, hat sie heute ausnahmsweise den rechten von ihrem Bruder an. Fräulein Lenz hatte ziemlich große Füße. Deshalb trug sie meist Herrenschuhe. Der Bruder muß wohl die gleiche Größe gehabt haben. So konnten sie sich ab und zu austauschen. Ein Witz? Nein, Fräulein Lenz meinte das hundertprozentig ernst.

 Manchmal war der Lehrstoff so langweilig, daß jemand nur ein Stichwort geben mußte, um vom Thema abzulenken. Dann erzählte Fräulein Lenz gern eine ihrer düsteren Jugendgeschichten und eins, zwei, drei war die Stunde um. An ihre Lieblingsstory kann ich mich noch gut erinnern. Sehr dramatisch berichtete sie von einem Weg über ein Feld während eines Gewitters. Sie schmiß sich flach auf den Boden und robbte über den Acker bis zu einer Baumgruppe. Da stellte sie sich unter eine Buche. In unmittelbarer Nähe schlug der Blitz in eine Eiche ein. Verheißungsvoll und mit erhobenem Zeigefinger pflegte sie abschließend zu sagen:

“Weiche der Eiche! Suche die Buche!”

 

 

Mit dem 3. Schuljahr ging Fräulein Lenz endlich in Pension. Wir bekamen eine jüngere Lehrerin mit zeitgemäßeren psychologischen und pädagogischen Kenntnissen. Das vergangene Schuljahr wirkte sich ganz maßgeblich auf meine Persönlichkeitsentwicklung aus. Das offene, redegewandte, unbeschwerte Mädchen wurde zurückhaltender. Sein Selbstwertgefühl verwandelte sich mehr und mehr in Unsicherheit. Ich möchte nicht die ganze Schuld daran auf diese Lehrerin abwälzen. Wahrscheinlich liegen die Wurzeln für diese Veränderung viel tiefer. Heutzutage weiß man, daß die entsprechende Gehirnhälfte bei einem Linkshänder stärker ausgebildet ist und dies keinen Makel darstellt. Eine Umgewöhnung ist ein gravierender Einschnitt in die gesamte Persönlichkeit. Heute verrichte ich die meisten Arbeiten mit der rechten Hand. Die Geschicklichkeit, z. B. beim Malen mit der linken, habe ich nach meiner Einschulung verloren. Trotzdem gibt es noch viele Tätigkeiten, die ich nur mit links verrichte. Brot, Wurst, Gemüse schneiden - das funktioniert bei mir nur, wenn ich das Messer in der linken Hand halte. Ja, möglicherweise steckt der Schlüssel für meine Wandlung genau da und dieses alte Fräulein hat mit ihrem Verhalten alles nur bestärkt. Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn man

 

 


 

 

mich Linkshänder hätte bleiben lassen?

 ***

Die beschriebenen Erlebnisse geben Aufschluß über meinen Charakter. Heute würde ich niemanden auf der Schaukel oder wo auch immer quälen, oder Erziehungsmaßnahmen ergreifen, um mein Gewohnheitsrecht durchzusetzen. Ich würde auch keine Reaktionen testen, wofür ich vorsätzlich Schaden anrichte. All diese Begebenheiten jedoch gehören zu mir. Sie erfüllen mich nicht unbedingt in jedem Fall mit Stolz, aber sie trugen zu meiner Persönlichkeitsentwicklung bei. Ich habe sie wahrheitsgemäß und heiter dargestellt, in der Hoffnung, daß sie teilweise auch besinnlich wirken. Dabei wählte ich bewußt den Zeitraum bis zu meiner Veränderung, weil das einfach die schönste und sorgloseste Zeit meines Lebens war.

 ***

Naivität ist ein Gut, das man mit Erfahrung verliert.

 

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