Biografien & Erinnerungen
Der Apfelbaum

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"Der Apfelbaum"
Veröffentlicht am 14. April 2010, 6 Seiten
Kategorie Biografien & Erinnerungen
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Über den Autor:

Mein Leben ist bisher von ständigem Wandel geprägt gewesen. Ich habe in der biologischen Landwirtschaft gearbeitet, in einer Schreinerei, habe die Berufsausbildungen zur Medizinisch-Technischen Laboratoriumsassistentin abgeschlossen und auch zur staatl. dipl. Erzieherin. Ich habe über dreissigmal den Wohnort gewechselt, die längste Zeit habe ich dabei in Bayern verbracht. Zweimal war ich verheiratet und habe drei erwachsene Kinder. Daneben hatte ...
Der Apfelbaum

Der Apfelbaum

Der Apfelbaum

Er war ein ganz besonderer Baum.

Sein kurzer Stamm war leicht gekrümmt und wuchs noch dazu schräg empor, wie eine schief in die Erde gesteckte Banane.
Dafür neigte sich wiederum seine Krone gänzlich auf die andere Seite, wo die Äste fast bis auf den Boden hingen. Wenn ich mich an den mit dickem, weichem Moos bewachsenen Stamm lehnte, wölbte sich seine gesamte Krone über mir - eine von stetigem leisen Rauschen und heiterem Vogelgezwitscher erfüllte, grün-goldene Kuppel. Ich hatte den Eindruck, dass der Baum mir mit den starken Armen seiner Äste Schutz und Zuflucht gewährte.
An diesem Platz, in einem alten Obstgarten, auf einem Hügel, am Rand des schönen Bodensees, war nie ein Mensch ausser mir selbst.
Dies war mein ganz geheimer Platz zum Träumen und Entspannen: Hinter mir die sanften Hügelketten, voller blühender, duftender Apfel- und Kirschbäume, unter mir der glitzernde See, gesprenkelt von weissen Segeln, dahinter das mächtige Massiv der Alpen mit ihren schneebedeckten Gipfeln. 

Kurz nach meinem Auszug von "Zuhause", dem Ort von dem ich bereits das Meiste vergessen hatte, habe ich den Baum entdeckt. Hatte ich eine Kindheit gehabt? Hatte ich einmal reden und lachen können, wie andere Menschen? Auch wenn ich mich bemühte, konnte ich mich nicht mehr an recht viel erinnern.
Nun wurde der Apfelbaum mein Freund. Ich besuchte ihn täglich, nächtigte unter seiner  Kuppel geborgen, im unwirklichen Schein des bleichen Vollmondes. Die Hügel wurden vom bläulich-weissen Mondlicht  in eine so traumhafte Märchenlandschaft verwandelt, wie ich es nie mehr wieder erlebte. Undurchdringliche Nebelschwaden zogen durch die Niederungen und liessen einen glauben, auf einer Insel inmitten eines Wolkenmeeres zu treiben. Dennoch ging der Blick in die Weite, man konnte das Glühen des erleuchteten Fensters der Berghütte am höchsten Gipfel des Kammes erblicken und durch das Watte-Meer tief unten die vielen Lichter der Fähre verschwommen wahrnehmen. Sie erschienen mir,  wie die eines Geisterschiffes. Denn alles rundherum war in vollkommene Lautlosigkeit getaucht, als wäre die Zeit stehengeblieben.

Ich habe auch mit meinem Baum geredet -  in Gedanken natürlich -  und seinen Stamm gestreichelt und umarmt. Und manchmal streichelte er mich mit den feinen herabhängenden Astspitzen, die im Wind wehten.
Doch seltsamerweise habe ich nie einen Apfel von ihm gegessen. Obwohl ich im Herbst Fallobst gesammelt habe in allen umliegenden Gärten der Stadt - ich kann mich nicht erinnern, je einen Apfel von ihm gepflückt zu haben. Vielleicht trug er auch keine in diesem Jahr, er war ja schon so alt.
Die Strudel des Lebens haben mich weiter getragen, fort von den schönen Orten und den verdrängten Erinnerungen. Aber ich habe nie den Baum vergessen, der mich behütet hat, und mir Geborgenheit zeigte, als ich keinem Menschen mehr vertrauen konnte.
Der mich so zärtlich zurück ins Leben gestupst hat. Seine Botschaft war: Vergebung.

Nach vielen Jahren hatte ich wieder die Gelegenheit, in diese Stadt am Bodensee zurückzukehren. Obwohl ich nun erwachsener geworden war und nicht mehr mit Bäumen redete, habe ich doch noch einmal nach diesem Ort suchen müssen, um zu sehen ob 'mein' Apfelbaum noch am Leben sei. Und tatsächlich: ich habe den alten Weg und die Wiese auf dem Hügel wiedergefunden.
Und da war er auch noch: mein Baum. Und weil ich alleine war, lehnte ich mich noch einmal an seinen weichen, breiten Stamm, sah in die Kuppel hinauf und atmete tief ein, während die kleinen Lichtblitze der Sonnenstrahlen über meinen Körper huschten.
Ich hob die Hand um noch ein letztes Mal einen seiner Äste zu streicheln.
Da passierte es: Oben im Baum knackste und raschelte es leise, und etwas glitt durch das Astwerk der Baumkrone.
Ich erschrak, als dieses Etwas mit einem Knall auf meiner nach oben geöffneten Handfläche aufschlug.
Es war ein Apfel.
Der allerletzte Apfel, der in diesem Herbst noch im Baum hängen geblieben war.
Und der Erste und Letzte, den er mir geschenkt hat.

Danach habe ich meinen Baum nie wieder gesehen.
Doch ich habe nie mehr aufgehört Bäume zu lieben.
Und zu vergeben.

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Hörbuch

Über den Autor

Iriana
Mein Leben ist bisher von ständigem Wandel geprägt gewesen. Ich habe in der biologischen Landwirtschaft gearbeitet, in einer Schreinerei, habe die Berufsausbildungen zur Medizinisch-Technischen Laboratoriumsassistentin abgeschlossen und auch zur staatl. dipl. Erzieherin. Ich habe über dreissigmal den Wohnort gewechselt, die längste Zeit habe ich dabei in Bayern verbracht. Zweimal war ich verheiratet und habe drei erwachsene Kinder. Daneben hatte ich immer auch künstlerische Ambitionen: Musik, Malen, Schreiben, Theater spielen. Ich bin ein naturverbundener Mensch und lebe gern sehr einfach mit und in der Natur.
Seit 2008 lebe ich in Leipzig, habe mich von einer langen chronischen Krankheit kuriert und bin Anfang dieses Jahres (2017) nun in Rente gegangen. Die letzten Jahre habe ich eine Schreibpause eingelegt, zumindest auf dieser Plattform hier, aber nun bin ich wieder da.
Zeit für ein neues Spiel... Mal sehen was mir so einfällt...

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Iriana Re: Sehr bewegende -
Zitat: (Original von Buchfink am 15.05.2010 - 08:55 Uhr) Geschichte.
LG Ines


Danke - und sie ist wirklich auch so passiert.

glg Maria
Vor langer Zeit - Antworten
Iriana Re: -
Zitat: (Original von Luap am 15.05.2010 - 23:07 Uhr) Eine wunderbare Geschichte... ich mag sie auch sehr, die Bäume sie sind voller positiver Energie, wenn man sie umarmt und in die Krone hinauf schaut kann man das spüren...

Liebe Grüsse
Paul


War heute wieder mal im Park bei meinen alten Eichen und habe Energie getankt. Was wäre ich ohne sie...

glg Maria
Vor langer Zeit - Antworten
Luap Eine wunderbare Geschichte... ich mag sie auch sehr, die Bäume sie sind voller positiver Energie, wenn man sie umarmt und in die Krone hinauf schaut kann man das spüren...

Liebe Grüsse
Paul
Vor langer Zeit - Antworten
Windflieger Ich liebe Bäume sehr - und kann es sehr gut verstehen, das Du Deinen Baum stets im Herzen trägst. Eine wunderschöne Geschichte.
LG Ivonne
Vor langer Zeit - Antworten
Buchfink Sehr bewegende - Geschichte.
LG Ines
Vor langer Zeit - Antworten
UteSchuster Re: Re: Re: Re: so einen Zauberbaum hatte ich auch -
Zitat: (Original von Iriana am 14.05.2010 - 22:37 Uhr)
Zitat: (Original von timeless am 14.05.2010 - 22:30 Uhr)
Zitat: (Original von Iriana am 14.05.2010 - 22:26 Uhr)
Zitat: (Original von timeless am 14.05.2010 - 22:17 Uhr) ganz rührend die Geschichte, weil sie so real geschrieben ist.

Ganz liebe Grüße deine Ute



In diesem Fall handelt es sich tatsächlich um eine reale Geschichte, auch wenn sie märchenhaft klingt...
Ja, diese Bäume können einem viel Kraft geben, bin gestern auch wieder im Park gewesen, wo es viele herrliche alte Eichen, Kastanien, Linden, und Buchen gibt...

ganz liebe Grüße,

deine Maria



Mein Baum hatte einen Wichtel in einem Astloch versteckt, den konnte man wirklich sehen, habe sogar ein Foto davon. Dann war ich ja so krank und als der Sturm Paula war, hat er den Baum umgeschlagen.
Ich war ganz traurig, waber auch befreit.

Liebe Grüße deine Ute


vielleicht hat der Baum ja etwas von dem mit genommen, was Dich krank machte...

ganz liebe Grüße,

deine Maria



hat er ganz sicher. Obwohl ich traurg war, dass er nicht mehr war, war ich auch befreit.

So und nu geh ich ins Bett,

schlaf gut und träum schön,

deine Ute
Vor langer Zeit - Antworten
Iriana Re: Re: Re: so einen Zauberbaum hatte ich auch -
Zitat: (Original von timeless am 14.05.2010 - 22:30 Uhr)
Zitat: (Original von Iriana am 14.05.2010 - 22:26 Uhr)
Zitat: (Original von timeless am 14.05.2010 - 22:17 Uhr) ganz rührend die Geschichte, weil sie so real geschrieben ist.

Ganz liebe Grüße deine Ute



In diesem Fall handelt es sich tatsächlich um eine reale Geschichte, auch wenn sie märchenhaft klingt...
Ja, diese Bäume können einem viel Kraft geben, bin gestern auch wieder im Park gewesen, wo es viele herrliche alte Eichen, Kastanien, Linden, und Buchen gibt...

ganz liebe Grüße,

deine Maria



Mein Baum hatte einen Wichtel in einem Astloch versteckt, den konnte man wirklich sehen, habe sogar ein Foto davon. Dann war ich ja so krank und als der Sturm Paula war, hat er den Baum umgeschlagen.
Ich war ganz traurig, waber auch befreit.

Liebe Grüße deine Ute


vielleicht hat der Baum ja etwas von dem mit genommen, was Dich krank machte...

ganz liebe Grüße,

deine Maria
Vor langer Zeit - Antworten
UteSchuster Re: Re: so einen Zauberbaum hatte ich auch -
Zitat: (Original von Iriana am 14.05.2010 - 22:26 Uhr)
Zitat: (Original von timeless am 14.05.2010 - 22:17 Uhr) ganz rührend die Geschichte, weil sie so real geschrieben ist.

Ganz liebe Grüße deine Ute



In diesem Fall handelt es sich tatsächlich um eine reale Geschichte, auch wenn sie märchenhaft klingt...
Ja, diese Bäume können einem viel Kraft geben, bin gestern auch wieder im Park gewesen, wo es viele herrliche alte Eichen, Kastanien, Linden, und Buchen gibt...

ganz liebe Grüße,

deine Maria



Mein Baum hatte einen Wichtel in einem Astloch versteckt, den konnte man wirklich sehen, habe sogar ein Foto davon. Dann war ich ja so krank und als der Sturm Paula war, hat er den Baum umgeschlagen.
Ich war ganz traurig, waber auch befreit.

Liebe Grüße deine Ute
Vor langer Zeit - Antworten
Iriana Re: so einen Zauberbaum hatte ich auch -
Zitat: (Original von timeless am 14.05.2010 - 22:17 Uhr) ganz rührend die Geschichte, weil sie so real geschrieben ist.

Ganz liebe Grüße deine Ute



In diesem Fall handelt es sich tatsächlich um eine reale Geschichte, auch wenn sie märchenhaft klingt...
Ja, diese Bäume können einem viel Kraft geben, bin gestern auch wieder im Park gewesen, wo es viele herrliche alte Eichen, Kastanien, Linden, und Buchen gibt...

ganz liebe Grüße,

deine Maria
Vor langer Zeit - Antworten
UteSchuster so einen Zauberbaum hatte ich auch - ganz rührend die Geschichte, weil sie so real geschrieben ist.

Ganz liebe Grüße deine Ute
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