Fantasy & Horror
Zwischen Wölfen und Königen 1.3 - Die Prophezeihung

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"Zwischen Wölfen und Königen 1.3 - Die Prophezeihung"
Veröffentlicht am 02. März 2010, 28 Seiten
Kategorie Fantasy & Horror
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Über den Autor:

Ich bin am Niederrhein geboren, aufgewachsen und lebe heute noch dort - wenn auch nicht in der selben Stadt. Das Wichtigste in meinem Leben - auch wenn es mancher nicht glauben mag - ist meine Familie. In meinen Werken ist Zusammenhalt und Konflikte zwischen Familienmitgliedern immer wieder ein Thema. Meine engste Familie, jene mit denen ich zusammenlebe, besteht aktuell aus meiner Frau Veronika, unserem Hund Xanadu, unsere Katze Trixi, sowie ...
Zwischen Wölfen und Königen 1.3 - Die Prophezeihung

Zwischen Wölfen und Königen 1.3 - Die Prophezeihung

Beschreibung

Die Gestalt des Cogadh ragte hoch über den Flammen auf. Das Wort bedeutete Krieg. In ihm lagen Gewalt, Macht, Schmerz, Blut und Leid. All dies vermochte ein Cogadh einzig durch seine Anwesenheit auszudrücken. Es handelte sich um die größte und stärkste Form eines jeden Gestaltwandlers. Er war eine skurrile Mischung zwischen Mensch und Tier. Covergrafik: Moonwolf Blue © Zoa@fotolia.de

Kapitel 3

Königreich Paese
Pinienwald hinter Lepaen
26. Tag des Heilagmanoth im Jahre 1143
Früher Abend des Sonnentages

Die Gestalt des Cogadh ragte hoch über den Flammen auf. Das Wort bedeutete Krieg. In ihm lagen Gewalt, Macht, Schmerz, Blut und Leid. All dies vermochte ein Cogadh einzig durch seine Anwesenheit auszudrücken. Es handelte sich um die größte und stärkste Form eines jeden Gestaltwandlers. Er war eine skurrile Mischung zwischen Mensch und Tier. Sein Anblick allein war so Furcht einflößend, dass die meisten Unwissenden ihn nicht wahrnahmen. Wer jemals einen Cogadh sah, behauptete im Anschluss oft, er wäre einem Bären begegnet. Allerdings war ein Faolchú in dieser Gestalt größer als sämtliche Bären, die in den Wäldern von Paese hausten.
Sein Fell war braun, durchzogen von silbernen Streifen des Alters. Die wolfsartige Schnauze war weiß und kurze, graue Haare wuchsen an den Augen vorbei bis zur Stirn. Leonardo die Natichio war der Älteste Faolchú im ganzen Königreich. Die meiste Zeit des Jahres blieb er in den heiligen Höhlen unter der Handelsstadt, wo er Bittsteller und Ratsuchende empfing. Nur zu zeremoniellen Anlässen wagte er sich noch unter freien Himmel. Seine Anwesenheit, seine spürbare Weisheit ließen jeden böse Wort vergessen und selbst die Kinder schweigen. In dieser ungewohnten Stille knisterte das Feuer überlaut.
Die roten Flammen beschienen die geschmückten Pinien, die einzeln oder in lockeren Gruppen diesen Ausläufer des Waldes beherrschten. Der Festtag der Immergrünen Bäume war erst zwei Tage her. An diesem Tag waren die Kinder und Halbwüchsigen aus der Stadt gezogen und hatten die grünen Symbole des Lebens und des Frühlings geehrt. Kunstvolle Sterne aus Stroh, Girlanden aus farbenfrohen Tüchern, fein gearbeitete Holzfiguren und zerbrechliche Kugeln aus Glas, in denen sich das Licht fing, zierten die Zweige.
Unter ihnen saßen die Faolchú der Umgebung mit ihren Deirfiúracha, den wissenden Menschen und Wölfen; jene, in deren Adern das Erbe Gealachs schlief. Sie hatten sich in einem Halbkreis um das große Feuer versammelt und wärmten sich in kleinen Gruppen an Gluthaufen. Es war ein friedliches Bild, wie Alte und Junge, Zweibeiner und Vierbeiner beieinandersaßen und sich gegenseitig vor der kalten Nacht schützten. Leonardo wirkte fehl am Platz, störte mit seiner kriegerischen Gestalt das Bild des Einklangs. Silvio wusste, dass der Älteste genau das gewollt hatte.
Der junge Krieger führte sein Rudel und seine Familie um das Feuer herum, wo sie von allen gesehen wurden, auf seinen Großvater zu. Obwohl er wirklich nicht der Kleinste war, ganz besonders für einen Paesen, reichte er dem Cogadh noch nicht einmal bis zur Schulter. Er ergriff die riesige Pranke, die Leonardo ihm anbot, führte sie zu seiner Stirn und murmelte: „Zum Schutze Gaias, zum Gedenken Gealachs, will ich die Taten der Ahnen nie vergessen.“
Er blickte in die blauen, klugen Augen seines Großvaters und lief weiter um das Feuer herum und auf den letzten freien Gluthaufen zu. Hinter ihm folgten Amerigo, Ballerino Luno und Giraldo als sein Rudel. Nach jenen kamen Mario und Lillianna, deren Bauch inzwischen prall und rund war sowie die Verwandten der anderen Drei.
Erst als auch der Letzte saß, begann Leonardo zu sprechen.

Der Älteste nutzte die Sprache der Faolchú, die jeder wissende Mensch und jeder wissende Wolf instinktiv beherrschte.
„Es freut meine alten Augen, so viele von euch hier sitzen zu sehen“, begann er. Seine Stimme war rau und leise, gelangte aber an jedes aufmerksame Ohr.
„Dieser Sonnenlauf brachte uns Reichtum und Wachstum. Jene lieben Seelen, die von uns gingen, rief das Gaia erst nach einer langen Wanderung des Lebens in ihren Schoß. Unsere Streitereien legten wir mit guter Zunge bei. Unsere Feinde besiegten wir ohne Verluste. Das zweite Jahr in Folge schlossen wir ein neues, wichtiges Bündnis. Erinnerten wir uns beim letzten Mal noch daran, wie die Mhac Fíodóir die Syn Duma nach Lepaen einluden, so feiern wie heuer die Verbindung mit den Mhac Finscéal. Und wieder einmal erwiesen sich die Deirfiúracha als unersetzliche Hand der Faolchú. Meine Kinder, meine Nichten und Neffen, meine Enkel und Urenkel, meine Freunde.“
Die Augen des Ältesten wanderten gezielt zwischen Kindern, Erwachsenen und Wölfen hin und her, suchten aus den Versammelten jene heraus, in denen Gealachs Macht nicht erwacht war.
„Ohne euch wären wir Nichts.“
Die Verwandten, tierische und menschliche, legten ihre Köpfe in den Nacken und heulten Leonardo einen Dank für die lobenden Worte zu.
Der Cogadh wartete, bis wieder Ruhe einkehrte. „Doch jetzt langweile ich euch nicht länger mit den Geschichten eines alten Mannes. Heißt unsere Gäste, die Mhac Finscéal willkommen und mit ihnen den Geschichtenerzähler Ronit O‘Healey.“
Unter neuem Freudengeheul erhob sich der Angesprochene, schritt an den Gluthaufen vorbei, um das flackernde Feuer herum und auf Leonardo zu.
Silvio hob eine Augenbraue, während er Ronit betrachtete.
„Das ist kein Mann, sondern ein Junge“, raunte Giraldo neben ihm. Der Rudelführer gab ihm nickend Recht. Das Gesicht des Geschichtenerzählers war von blondem, zottigem Haar umrahmt. Durch die Flammen schimmerte seine Haut rot, doch Silvio erkannte auf dem ersten Blick, dass dieses Bürschchen selbst für einen Bart zu jung war.
„Passt auf, er fiepst wie eine Maus“, flüsterte Giraldo. Die Verwandten und das Rudel, die um den Gluthaufen saßen, lachten leise auf, als Ronit zum Ältesten sprach. Seine Stimme war tatsächlich so hell wie die eines Knaben.
Giraldo feixte weiter: „Ob er schon die Erste Weihe hinter sich hat?“
In das Gelächter erklärte Lillianna unbekümmert: „Er ist ein Nachfahre des großen Healeandir Mac Thinarawyn. Ihr werdet euch bei ihm entschuldigen müssen, wenn er euer Leben gerettet hat.“
„Oh, das ist eine gute Idee. Gleich Morgen werde ich dem Bengel eine Gelegenheit geben, wenn-.“ Mit einem Zischen brachte der Rudelführer Giraldo zum Schweigen.
Ronit, der dem nun sitzenden Cogadh gerade mal in die Augen schauen konnte, begann die Erzählung. Hell und klar drang seine Stimme zwischen die Pinien und weckte einen Hauch Frühling in den Herzen der Versammelten.

„Dies ist die Nacht der Fallenden Sterne. Ihre Geschichte reicht weit in unsere Vergangenheit zurück.“
Giraldo nickte bedächtig. „Ja, sogar noch weiter, als du Grünschnabel es dir vorstellen kannst.“
Neben ihm leckte sich Ballerino Luno grinsend die Lefzen. Er war der einzige Wolfgeborene des Rudels. Ronit, der nichts von den leisen Worte bemerkte, fuhr fort: „ Sie erzählt von der Zeit, als Gaia, die Mutter Erde, schwach war. Die Brut des Llyngyr, jene die Böses bringen, vermehrten sich schneller, als die Faolchú sie zu bekämpfen vermochten. Habgier, Selbstsucht und die Besessenheit nach Macht fraßen sich in die Herzen der Menschen. Es dauerte nicht lange, bis die Seuche des Hasses unsere Ahnen befiel.
Sie bekämpften sich. Bruder stand gegen Bruder, Mutter gegen Tochter und Wolf gegen Mensch. Dies war die Zeit, in der sich die Nation der Faolchú spaltete.“
„Und die Zeit der Lügen begann“, sinnierte Giraldo. Silvio warf dem Rudelkameraden einen scharfen Blick zu, der diesen zum Schweigen brachte. Es lag in Giraldos Art, niemals den Mund zu halten, immer einen Spruch auf den Lippen zu haben. Doch auch ein Plappermaul wie er sollte die alten Geschichten achten.
Aus den Augenwinkeln bemerkte der Rudelführer, wie Lillianna fröstelnd ihren Wollumhang um sich zog. Er beobachtete sie aufmerksam, während er der hellen Stimme des Erzählers weiter lauschte.
„Die Ersten, die sich zusammentaten um ihre eigenen Wege zu gehen, waren die Mhac Folaíon. Sie nennen sich ‚Söhne des reinen Blutes‘, denn sie glauben den Llyngyr ausmerzen zu können, indem sie sich von dem Menschen fernhalten.“
Silvio schaltete geistig ab, als Ronit von den Helden der Folaíon erzählte. Sorcha hatte mit ihren Worten im Hafen von Vis Banken Recht gehabt. Diese Faolchú waren Radikale mit falschen Ideologien. Die Gedanken des Kriegers blieben bei der Ahnin hängen.
Wenige Tage, nachdem er mit Mario und Lillianna in Lepaen angekommen war, brachte ein Bote einen Brief. Sorcha und Maria hatten Azogaraz, die kleine Grafschaft im Königreich Tires, ohne nennenswerte Vorkommnisse erreicht. In weiteren Botschaften hatte die Älteste von Traumreisen geschrieben und vor einer gefahrvollen Zeit gewarnt. Einige Wochen später war der junge Geschichtenerzähler mit seinem Rudel eingetroffen. Zuerst hatte Silvio geglaubt, Sorcha hielte ihn nicht für fähig genug, ihre Tochter zu schützen. Die Ältesten hatten ihm jedoch erklärt, dass das Rudel der Mhac Finscéal zur Festigung des Bündnisses in der Stadt weilte. Bald danach war ein gemischtes Rudel, bestehend aus Mhac Fíodóir und Syn Duma nach Vis Banken aufgebrochen.
„Es folgten jene, die sich Poikaan Ukkosta nennen“, drang Ronits knabenhafte Stimme erneut an Silvios Ohr. „Die ‚Söhne des Donners‘ bekämpfen den Llyngyr wo sie ihn sehen und wollen ihn mit aller Kraft besiegen. Einer der Stärksten war Jorma Schneewehe. In der Schlacht von Suomi führte er ein winziges Heer gegen den Feind, der sich in der Stadt verschanzt hatte. Und doch-“
Ein leises Stöhnen ließ Silvios Aufmerksamkeit schwinden. Lillianna saß inzwischen dicht an ihren Gatten gekuschelt, eingehüllt in eine zusätzliche Decke. Mario flüsterte ihr etwas ins Ohr, das der Faolchú nicht verstand und die junge Frau schüttelte energisch den Kopf. Die Brüder wechselten besorgte Blicke, während Ballerino Luno raunte: „Sturr wie ihre Mutter.“
Ohne etwas von der Szene zu bemerken, fuhr Ronit mit der Legende fort.
„Die Fiai Ejszaka waren anderer Meinung. Als ‚Söhne der Nacht‘ unterwanderten sie das Böse. Sie wollten von ihm lernen und die Brut mit ihren eigenen Waffen schlagen. Einigen gelang es sogar. Der bekannteste Trickser von allen hieß Alajos Sohn des Odon. Der Legende nach soll er in den Bergen von Tikakreb geboren sein, die die Reiche Tartós und Baragan im Norden trennten. Dort, wo der ewige Schnee liegt, sollen die Geister der Nacht ihm die Geheimnisse der Heimlichkeit verraten haben. Dort, wo-“
„Man könnte meinen, er verehrt den alten Betrüger“, murrte Giraldo. Silvio hob lediglich die Schultern. Ihn interessierten die Abenteuer längst verstorbener Fiai Ejszaka nicht im geringsten. Lillianna benahm sich immer merkwürdiger. Sie starrte in die flirrende Luft oberhalb der Glut und bewegte unablässig ihre Lippen. Silvio war überzeugt, dass sie der Legende schon lange nicht mehr lauschte.
Luno erhob sich, trabte um den glühenden Haufen herum und schmiegte sich dicht an die werdende Mutter. Ein dankbares Lächeln huschte über ihre Züge. Sie grub ihre Finger in das warme Fell des wölfischen Freundes.
„Seit dem Beginn der Zeit galten die Silbernen Wölfe als die Weisesten der Nation. Alle Faolchú gingen zu ihnen und baten um Rat. Die Fiai Ejszaka besuchten sie ebenfalls, doch statt um Rat zu bitten, überzeugten sie die Schüler der weisen Wölfe von ihrem Vorhaben. Die jungen Faolchú waren nicht stark genug gegen die Verlockungen des Llyngyr. Als Loups d‘Agent erhoben sie sich über alle anderen, die Faolchú zu führen.
Schreckliche Kämpfe entbrannten, besonders gegen die Poikaan Ukkosta. Es folgten die dunkelsten Jahre in der Geschichte der Faolchú. Als der Held der-“
Ein panischer Schrei schnitt dem Mhac Finscéal das Wort ab. Lilliannas Gesicht glich einer Fratze mit vor Angst weit aufgerissenen Augen. Sie bäumte sich gegen Mario und Ballerino Luno auf, die sie gemeinsam auf den Boden drückten und versuchten, ihre wild zuckenden Arme und Beine zu halten. Mit einem Satz sprang Silvio über den Gluthaufen an die Seite seiner Schwägerin. Er schob seinen Bruder aus dem Weg, legte die Hände an Lilliannas Wangen und suchte ihren Blick. Die grünen Augen starrten an ihm vorbei in den Nachthimmel, zugleich ins Nirgendwo.
„Lilli“, sprach Silvio sie mit eindringlicher Stimme an: „Lilli, was siehst du?“
Statt eine Antwort zu geben, fing sie an zu wimmern, riss die Augen gar noch weiter auf. Hilfe suchend hob der Rudelführer den Kopf. Er streifte das vor Schreck bleiche Gesicht seines Bruders und blieb an den runzeligen Zügen Leonardos hängen. Der Älteste hatte sich in einen Menschen verwandelt. In seinem runzeligen Gesicht entdeckte Silvio keine Spur von Besorgnis. Neben dem Ältesten erschien Ronit und auch die anderen taten näher, schlossen einen Kreis um Silvios Rudel.
‚Solange der Kreis besteht, sind sie sicher‘, hörte er Sorchas Stimme.
Leonardo legte seine knorrigen Finger auf Lilliannas Stirn. Einen Wimpernschlag später lag sie ruhig und sog Luft in ihre Lungen, wie ein Ertrinkender, der durch das Wasser stieß. Angsterfüllt und rastlos huschten ihre Augen umher. Sie öffnete die Lippen, bewegte sie, ohne das Worte hervor kamen.
„Beruhige dich, Kind“, redete der Älteste auf sie ein. „Du bist in Sicherheit. Nichts wird dir geschehen.“
„Mutter“, hauchte Lillianna mit einer Stimme, die nicht wie ihre eigene klang. „Dunkelheit. Schmerz. Unglaubliche Qualen.“ Sie schluchzte auf, ihr Körper bebte und Tränen flossen ihr über die Schläfen ins Haar. „Sie ist tot! Mutter!“
Endlich lag sie still, nur geschüttelt von Tränen. Silvio wich zurück und sah zu, wie Mario seine Liebste in die Arme schloss, ihr über das lange Haar streichelte und einen hilflosen Kuss auf die Schläfe hauchte. Flüsternd versprach er: „Es ist vorbei, alles wird gut.“
Lillianna schüttelte immer wieder den Kopf. Zusammenhanglose Wortfetzen verließen ihre Lippen. „Keine Ruhe. Mutter. Komm zu uns. Sie wandert.“
Als sich eine Frau aus dem Rudel der Mhac Finscéal, eine entfernte Cousine Lilliannas, neben die Trauernde setzte und ihre Hand hielt, stand Silvio auf und trat zu Leonardo. Vorsichtig sprach er ihn an, denn der Alte betrachtete seine angeheiratete Enkelin am Boden.
„Großvater? Sorcha-eagnaí befand sich auf einer Traumreise.“
Mit gerunzelter Stirn ergriff der Älteste Silvios Arm und schob ihn von der Familie fort. Nach einer auffordernden Geste schlug der Jüngere vor: „Wir können im Scáth nach ihr suchen.“
„Weißt du denn, welchem Traum sie folgte, Junge“, harkte der Alte mit heiserer Stimme nach. „Die Welt der Geister ist riesig. Du hast bisher nur einen Bruchteil gesehen. Sorcha O‘Connor ist viel, viel weiter gereist, als du es dir vorstellen kannst.“
„Sollen wir untätig hier sitzen und nichts tun?“
„Nein“, lächelnd tätschelte Leonardo die Wange seines Enkels. „Gleich mit der nächsten Flut senden wir einen Boten nach Azogaraz. Dein Vorschlag, im Scáth zu suchen, ist gut, nur-“
„Mein Kind!“, heulte Lillianna auf. Klagend klammerte sie sich an die Arme ihres Gatten. Silvio beobachtete, wie ihre Cousine unter den Decken tastete. Ihr Blick war ernst, als sie nach weiteren Frauen rief. Was sie ihnen sagte, verstand der Mhac Fíodóir nicht, denn in schmerzhaften Wehen schrie Lillianna: „Zu früh! Es ist zu früh! Es wird sterben.“
„Niemand wird sterben“, übertönte eine alte Deirfiúracha das Klagen und schob Mario zur Seite. Hin und her gerissen starrte Silvio zu dem seinem großen Bruder hinüber, der hilflos, ausgeschlossen von den Frauen, am Rande des Feuerscheins stand.
Er war ein Faolchú, er hatte eine Pflicht gegenüber seinesgleichen. Er wollte Sorcha finden, die Ahnin, die so viel Weisheit in sich barg, zurück zu ihrem Volk bringen.
„Du gehörst an die Seite deiner Familie“, sprach Leonardo ihn an, als er hätte er die Gedanken des Enkels gelesen. Bekräftigend legte er eine Hand auf Silvios Schulter. Mit der anderen deutete er auf Sigismondo, einem älteren Wolfswandler seiner Sippe.
„Er wird mit seinem Rudel nach Sorcha O‘Connor suchen. Achte du auf deinen Bruder.“

Staatenbund Lointain
Wald von Nollissour
26. Tag des Heilagmanoth im Jahre 1143
Späte Nacht des Sonnentages

„Sie kämpften gegeneinander, die Loups d‘Agent gegen die übrigen Sippen, ganz besonders gegen die Poikaan Ukkosta. Wir hielten uns aus diesem Streit raus. Und wisst ihr auch warum?“
Der Salaigh reckte einen nackten Arm in die Luft. Er beobachtete, wie die honigfarbenen Augen des alten Wolfes über die Welpen glitten. Es war ein reiches Jahr gewesen. Sieben Junge waren im Frühjahr geboren und alle hatten den Sommer überlebt. Die Chancen standen gut, dass sie den nächsten Frühling ebenfalls erlebten. Seelensänger hatte prophezeit, dass mit diesem Wurf wenigstens zwei Faolchú heranwuchsen. Noch waren diese sieben zu jung, um sich zu verwandeln. Erst in einem Jahr kamen sie in das richtige Alter. Dennoch war es wichtig, dass alle die alten Legenden und die Lebensweisen der Mhac Folaíon kannten. Die Welpen verstanden die Hintergründe noch nicht. Drei von ihnen balgten spielerisch herum, bis Heuler der Legende sie knurrend zurechtwies. Der Salaigh spürte die Augen des Ältesten einen Moment auf sich ruhen. Hoffnungsvoll erwiderte er den Blick. Doch Heuler der Legende erzählte weiter, ohne ihn anzusprechen.
„Weil sie sich mit den Menschen zusammentaten, weil sie vom Llyngyr besessen waren, der Zwietracht in ihnen säte.“
Enttäuscht ließ der Salaigh den Arm sinken. Er hätte die Antwort gewusst, wurde aber wie immer übersehen. Es war das Schicksal eines jeden Salaigh als Ausgestoßener am Rande der Sippe zu leben. Er war ein Faolchú, Gealach hatte ihren Segen in sein Blut gelegt. Doch auch seine Eltern waren Wolfswandler gewesen - beide. Sie waren eine verbotene Verbindung eingegangen und er war weder als Wolf noch als Mensch geboren. Seit er das Licht der Welt erblickt hatte, war er ein Cogadh. In diese majestätische Gestalt, die dem Kampf und den heiligsten Ritualen gewidmet war, war er gefangen.
Er würde sich verwandeln können, eines Tages. Wenn er zu einem Halbwüchsigen heranwuchs und sein Körper sich veränderte, würde die Kraft in ihm erwachen. Der Salaigh betete jeden Tag zu Gealach, das er sich bei diesem ersten Mal in einen Wolf verwandelte und nicht in einen Menschen. Er fühlte sich nicht stark genug, solch eine zusätzliche Schande zu tragen. Ganz bestimmt ließen die Ältesten keine Gnade mehr weilen und töten ihn, wenn er als schwächlicher Zweibeiner durch das Lager tappte. Haarlos war er sowieso schon.
Als wäre er mit der Schmach seiner Eltern nicht ausreichend gestraft. Als reichte es nicht, das er als Cogadh niemals das normale Leben eines Wolfswelpen führen konnte. Nein! Gealach strafte jeden Salaigh außerdem mit einem unübersehbaren Makel.
Die Ältesten behaupteten, ein Faolchú sei solch eine perfektes, reines Wesen, dass eine Verbindung mit einem anderen seiner Art keine weitere Perfektion hervorzubringen vermochte. Manche kamen mit verkrüppelten Gliedmaßen zur Welt. Andere waren von beginn an blind oder taub. Es gab sogar welche, denen ein Geweih, wie bei einem Hirsch, oder Hörner, wie bei einem Widder wuchsen. Sie waren gekennzeichnet als Beutetiere. Dieser Salaigh war ohne ein Fell geboren. Nicht ein einziges Haar bedeckte den riesigen, grotesken Körper. Er hatte das Fell eines selbst erlegten Bären um sich geschlungen. Obwohl er noch ein Kind war, reichte seine Kraft um junge Bäume auszureißen. Vor einigen Wochen war ein übermütiger Bär in der Lager gestolpert. Kein einziger Faolchú war da gewesen. Nur die Welpen, die Jünglinge aus dem Vorjahr und zwei weibliche Deirfiúracha, in denen die Macht Gealachs nicht erwacht war, hatten die heimatlichen Höhlen bewacht. Gegen Bruder Petz hätten sie keine Chance gehabt, wäre der Salaigh nicht in der Nähe gewesen. Er hatte das große Tier besiegt und auf ein wenig Anerkennung gehofft. Sein größter Wunsch war, einen passenden Namen zu erhalten. Bärentöter. Doch als das Rudel von der Jagd heimkehrte, hatten sie noch nicht einmal einen Dank für ihn übrig. Lediglich das Fell gestanden sie ihm zu. Seinen unübersehbaren Makel durfte der Salaigh damit nicht verbergen, sich jedoch wenigstens vor der Kälte des Winters schützen.

Der junge Faolchú kratzte mit einer Klaue Symbole seines Volkes in den Schnee. Er kannte die Geschichte, die Heuler der Legende erzählte, hörte sie bereits zum dritten Mal. Es entstand das Zeichen der Weiblichkeit. Geteilt von einem zackigen Blitz symbolisierte es die ‚Töchter des Sturms‘. Damals, in der Zeit, von der Heuler der Legende berichtete, hatten sie sich von den ‚Söhnen des Donners‘ abgespalten. Seit dem bekämpften sie das Böse als Daetur Áfram.
Daneben malte er zwei gekreuzte Lorbeerzweige. Diese standen für die Ehre, denn dies war das Einzige, das die Sippe der Syn Duma besaß. Es folgte ein Ankh, das aus einem vollen Mond wuchs. Es war das Zeichen der Leanaí Beatha.
„Die ‚Kinder des Lebens‘ beteten zur Mondgöttin und baten um Beistand für ihre Schwester“, erklärte Heuler der Legende. „In dieser Nacht weinte Gealach und die Sterne fielen vom Himmel.“
Der Salaigh zeichnete drei der Himmelslichter in den Schnee, das Symbol der Seuns van Sterre, die die Tränen Gealachs damals als erste sahen. Er hob den Blick zum Himmel, zu den unzähligen Lichtern und der leuchtenden Scheibe. Sie war nicht mehr voll, aber noch ein paar Tage vom Halbmond entfernt. Es war die Zeit des Amhránaí.
„Unter diesem Mond wird Kreativität geboren“, hatte Heuler der Legende ihm vor einer Weile erzählt. Der alte Wolf war sein Mentor, ein strenger Lehrer, der diese Aufgabe nur widerstrebend übernommen hatte.
Jede Sippe brauchte Geschichtenwahrer - es sei denn sie wollten alle zu den Mhac Finscéal laufen und von denen lernen. Diese waren die Hüter des Wissens der gesamten Nation. Leider paarten sie sich mit Menschen. Ein ausreichender Grund, dass ein Mhac Folaíon sich lieber den Schwanz abbiss, als dort um Rat zu fragen. In diesem Lager und in weitem Umkreis war Heuler der Legende der Einzige Geschichtenwahrer, der Einzige Amhránaí - abgesehen von dem Salaigh. Wenn es in den nächsten beiden Jahren keinen Welpen gab, der unter dem fast vollen Mond geboren wurde, wäre er eines Tages der neue Geschichtenwahrer. Dann würden die Übrigen endlich Respekt zeigen, statt ihn wegen seiner Existenz zu verachten.
Versunken in seinen Zukunftsträumen hatte der Missgestaltete das Ende der Geschichte nicht mitbekommen. Er blickte erst auf, als große Pfoten die Zeichnungen verwischten. Augenblicklich duckte sich der Cogadh in den Schnee. Obwohl er so viel größer als die erwachsenen Wölfe war, hatte er nur den Status eines Welpen und durfte sich nicht über die Älteren erheben. Der Salaigh versuchte die Kälte zu ignorieren, die in seinen Haut stach, wo das Bärenfell nicht hinreichte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Wölfinnen ihre Jungen zurück in die warme Höhle trieben. Zu gerne wäre er ihnen gefolgt, doch verdrängte er diesen Wunsch rasch, als er die Stimme seines Mentors vernahm.
„Du hast nicht zugehört“, warf ihm Heuler der Legende vor.
Der Salaigh runzelte seine glatte Stirn und widersprach: „Doch, das habe ich. Du hast-“ Der Welpe verstummte, als die Pranke des ausgewachsenen Wolfs über sein Gesicht schrammte, wo sie rote Striemen hinterließ.
„Belüg mich nicht, Salaigh.“ Aus dem Maul des Alten klang das Wort wie eine Beleidigung. „Dein Kopf hing in den Wolken. Du hast geträumt, über deine Zukunft nachgedacht.“
Der Haarlose zitterte unter seinem Fell. Kein Laut des Schmerzes war seinen Lippen entwichen, so alltäglich war die grobe Behandlung. „Du hast von den ‚Söhnen des Webers‘ gesprochen. Sie verehren die Menschen und behaupten, sie handeln nach Gealachs Willen, dabei sind sie vom Llyngyr befallen.“
Dagegen konnte Heuler der Legende kaum widersprechen. Der junge Ausgestoßene bewies, dass er die Geschichte kannte, obwohl es dem Mentor anders lieber gewesen wäre.
„Morgen wirst du mir die Sage vortragen“, verlangte der Geschichtenwahrer. „Du solltest besser keinen Fehler machen.“
Der Salaigh rappelte sich auf, als er hörte, wie sich der Alte entfernte. Er zog das Bärenfell fester um sich. Lächelnd flüsterte er zu sich selbst: „Morgen wirst du mich loben müssen.“ Vielleicht bekam er dann endlich seinen Namen. Beseelt von dieser Hoffnung, steuerte er den hohlen Baum an, in dem er die Nacht verbrachte.

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Über den Autor

Sunnypluesch
Ich bin am Niederrhein geboren, aufgewachsen und lebe heute noch dort - wenn auch nicht in der selben Stadt. Das Wichtigste in meinem Leben - auch wenn es mancher nicht glauben mag - ist meine Familie. In meinen Werken ist Zusammenhalt und Konflikte zwischen Familienmitgliedern immer wieder ein Thema. Meine engste Familie, jene mit denen ich zusammenlebe, besteht aktuell aus meiner Frau Veronika, unserem Hund Xanadu, unsere Katze Trixi, sowie einem Aquarium voller Fische. Für Letzteres ist allerdings meine Frau verantwortlich.

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Sunnypluesch Re: Na, -
Zitat: (Original von Luzifer am 07.03.2010 - 22:21 Uhr) dann bin ich mal gespannt, wie er sich entwickeln wird, der keine Kraftbolzen, wo er doch eine so schöne Stärke in sich birgt.


Ohh.. das wird eine laaaaange Geschichte. :-) Aber ich werd mir Mühe geben, dass sie dir nicht langweilig wird.
Vor langer Zeit - Antworten
Luzifer Na, - dann bin ich mal gespannt, wie er sich entwickeln wird, der keine Kraftbolzen, wo er doch eine so schöne Stärke in sich birgt.
Vor langer Zeit - Antworten
Windflieger Re: Re: Wieder richtig gerne gelesen, -
Zitat: (Original von Sunnypluesch am 03.03.2010 - 20:20 Uhr)
Zitat: (Original von Windflieger am 03.03.2010 - 13:15 Uhr) Ich bin schon gespannt wie es weiter geht.
LG Ivonne


Spannend? ;-)
Deinen Clan des Bussards habe ich übrigends nicht vergessen. Nach der Arbeit habe ich im Moment nur nicht den Kopf frei, um das Kapitel noch einmal zu lesen. Spätestens am Wochenende hole ich das nach.
lG
Sunny

Lieben Dank, ja ich finde Deine Geschichte echt spannend, auch die Ausführungen zu dem, was zu den Kriegen geführt hat und die verschiedenen Stämme.
LG Ivonne
Vor langer Zeit - Antworten
Luzifer Hast - recht, so ist es spannender ^^
Vor langer Zeit - Antworten
Sunnypluesch Re: Wieder richtig gerne gelesen, -
Zitat: (Original von Windflieger am 03.03.2010 - 13:15 Uhr) Ich bin schon gespannt wie es weiter geht.
LG Ivonne


Spannend? ;-)
Deinen Clan des Bussards habe ich übrigends nicht vergessen. Nach der Arbeit habe ich im Moment nur nicht den Kopf frei, um das Kapitel noch einmal zu lesen. Spätestens am Wochenende hole ich das nach.
lG
Sunny
Vor langer Zeit - Antworten
Sunnypluesch Re: Und -
Zitat: (Original von Luzifer am 02.03.2010 - 23:12 Uhr) da hatte ich noch gehofft, dass nicht so viele Stämmenamen kommen werden. *hacht* Aber es ist zur Geschichte passend und nötig. =)
Nun hat man ein wenig mehr zu der Geschichte des Volkes erfahren und gleichzeitig zur Religion. Den Cogadh fand ich eine schöne Idee. Bin gespannt, wann er mal kämpfen muss und wie es aussehen wird. ^^

Fortsetzung sei erwartet. ;)

LG
Luzifer



Tjaja, und ihr beide gehört nun zu den wenigen Leuten, die die Legende an einem Stück "gehört" haben. *g* Ich habe die eine Hälfte mal verschoben. Vielleicht wird dieser Teil irgendwann noch einmal erzählt. Jetzt ist es auf jeden Fall noch eine Ecke spannender.

Fortsetzung folgt...
Vor langer Zeit - Antworten
Windflieger Wieder richtig gerne gelesen, - Ich bin schon gespannt wie es weiter geht.
LG Ivonne
Vor langer Zeit - Antworten
Luzifer Und - da hatte ich noch gehofft, dass nicht so viele Stämmenamen kommen werden. *hacht* Aber es ist zur Geschichte passend und nötig. =)
Nun hat man ein wenig mehr zu der Geschichte des Volkes erfahren und gleichzeitig zur Religion. Den Cogadh fand ich eine schöne Idee. Bin gespannt, wann er mal kämpfen muss und wie es aussehen wird. ^^

Fortsetzung sei erwartet. ;)

LG
Luzifer
Vor langer Zeit - Antworten
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