Kurzgeschichte
So nah und doch so fern

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"So nah und doch so fern"
Veröffentlicht am 22. Februar 2010, 6 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Es tut mir leid, dass ich \\\"Restrisiko\\\" löschen musste, aber es ist jetzt in einer Kurzgeschichtensammlung namens \"Das Unfassbare\" vom ipm-verlag veröffentlicht worden. Wer Interesse hat, kann sich bei mir melden. Unter www.bookrix.de/-schneeflocke kann "Restrisiko" nach wir vor noch lesen. LG Flocke
So nah und doch so fern

So nah und doch so fern

Beschreibung

Ein Abschied

Nur eine Fensterscheibe trennt uns voneinander, gut zehn Millimeter Glas, durchsichtig. Ich sehe ihn und kann ihn doch nicht berühren, so nah ist er mir, und doch so fern. Und in wenigen Minuten wird er noch viel weiter entfernt sein, denke ich, während ich mich auf den durchgesessenen Polstern niederlasse. Nur noch wenige Augenblicke, die wir uns durch das Fenster schweigend betrachten können, und dann wird sich der Zug rumpelnd in Bewegung setzen, mich forttragen an einen Ort, an dem ich nicht sein will, denn jeder Ort, der nicht bei ihm ist, der bedeutet, dass ich nicht in seiner Nähe sein kann, ist leer, trostlos und grau, jedenfalls erscheint es mir so.

Einem inneren Impuls folgend, lege ich meine Hand an die Scheibe in einer Art stummen Abschiedsgruß, fühle das kalte, harte Glas unter meiner Handfläche. Eine Bewegung auf der anderen Seite, und dann liegt seine Hand an der meinen, Handfläche an Handfläche, nur das dünne Glas trennt uns, so nah und doch so fern.

Meine Augen schweifen von unseren so verbundenen Händen zu seinen Augen, und als ich meinen eigenen Schmerz dort wiedergespiegelt sehe, dort, in den warmen, grünen Tiefen, der einzigen Farbe, die für mich zu existieren scheint, da steigen die Tränen in mir auf, und ich fühle, wie meine Augen feucht werden. Auch in den seinen schimmert es verdächtig, und das ist der Moment, in dem etwas in mir nachgibt, in dem ich es nicht mehr ertrage. Ich reiße meine Hand vom Fenster los und wende mich ab, und dann renne ich den schmalen Gang des Abteils hinab, an den anderen Fahrgästen vorbei, und der ein oder andere sieht mir sicher kopfschüttelnd hinterher, doch es kümmert mich nicht. Nur noch einmal will ich ihn in die Arme schließen, und ich renne, so schnell ich kann, der Atem entweicht mir stoßweise. Dann habe ich endlich das Abteil durchquert, reiße hastig die Tür auf, trete in den Vorraum, kalte Luft strömt mir schon jetzt entgegen, ich fröstele, denn ich habe meinen Mantel im Abteil gelassen, doch es kümmert mich nicht, ebenso wenig wie es mich kümmert, dass auch mein Gepäck dort liegt, unbeaufsichtigt, eine in Gold gefasste Einladung für jeden Taschendieb. Alles, was zählt, ist, dass ich rechtzeitig an dieser Tür bin, dass ich ihm noch einmal gegenüber stehen kann, ein letztes Mal für so lange Zeit.

Mit einem leisen Zischen öffnen sich die Türen, kaum dass ich sie erreicht habe, er scheint den Druckknopf von außen betätigt zu haben. Ein Schwall noch kälterer Luft, und dann steht er vor mir, sein Geruch hüllt mich ein, einen Moment bevor sich seine Arme fest um mich schließen, ein letztes Mal. Ich drücke mich an ihn, den Kopf an seiner Brust vergraben, verliere mich in ihm, hier finde ich Ruhe und Geborgenheit, hier will ich bleiben, für immer. Doch die letzten Sekunden zerrinnen mir zwischen den Fingern wie weißer Rauch, und nur zu bald schneidet das schrille Pfeifen des Schaffners durch die Luft, zerstört den Frieden, beendet unsere innige Umarmung. Ein letzter, hastiger Kuss, ein letzter, inniger Blick, zwei Augenpaare, die miteinander verschmelzen, einander nicht loslassen wollen, doch dann bleibt er auf dem Bahnsteig zurück, eine einsame Gestalt auf dem grauen Asphalt, die Schultern gebeugt gegen den scharfen, kalten Wind, der dort bläst, die Hände in den Hosentaschen vergraben, so sieht er mir hinterher, als sich die Türen vor mir mit einem lauten Knall schließen und der Zug sich mit einem Ruck in Bewegung setzt.

So fern, weil ich mich mit jeder Sekunde weiter von ihm entferne, davongetragen von dem Zug, der rumpelnd und schaukelnd über die Gleise rattert, so nah, weil ich ihn doch immer bei mir trage, tief in meinem Herzen.

Zwei Tage später erreicht mich ein Brief, auf der Rückseite ist seine Hand aufgezeichnet, er hat sie mit einem Bleistift umfahren, wie wir es als Kinder zu tun pflegten. „Damit du mich immer spüren kannst“, steht in seiner krakeligen und dennoch zierlichen Handschrift darunter.

 

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schneeflocke
Es tut mir leid, dass ich \\\"Restrisiko\\\" löschen musste, aber es ist jetzt in einer Kurzgeschichtensammlung namens \"Das Unfassbare\" vom ipm-verlag veröffentlicht worden.
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schneeflocke Re: Schööööön -
Zitat: (Original von Sofie am 22.02.2010 - 17:00 Uhr) Guten Tag meine Dame...sie verstehen eindeutig was es für eine Frau/Mann bedeutet Abschied zu nehmen...du hast so viel Gefühl in diese Worte gelegt, dass gewiss viele Menschen an ihre bisherigen Abschiede denken und sie ein weiteres Mal durchleben. Mögen sie noch so schmerzhaft gewesen sein, die Liebe macht das Wiedersehen um so schöner.



Danke für die Bewertung und den lieben Kommentar! Freut mich, dass dir meine Kurzgeschichte gefallen hat!
Und du hast natürlich recht: je schmerzhafter der Abschied, desto schöner das Wiedersehen.

Liebe Grüße, Tina
Vor langer Zeit - Antworten
schneeflocke Re: Der -
Zitat: (Original von Schlauchen am 22.02.2010 - 16:36 Uhr) Text ist wirklich sehr eindrücklich.
Besonders gut hat mir dein Auge fürs Detail gefallen, dass immer wieder so kleine Dinge, die einem unter normalen Umständen nicht auffallen eingefangen hat.
Die Wörter sind sehr schön und intensiv und verdeutlichen den Abschiedsschmerz, auch das Ende hat mir gut gefallen in seiner Intensität.

Alles Liebe
Caro


Hallo Caro!
Vielen lieben Dank für die Bewertung und den Kommentar!
Es hat mich gefreut, dass dir der Schluss gefallen hat, den gerade da war ich mir nicht ganz sicher, ob er stimmig ist und passt.

Alles Liebe,
Tina
Vor langer Zeit - Antworten
Luzifer Re: Re: Ich bin wirklich kein Fan -
Zitat: (Original von schneeflocke am 22.02.2010 - 16:40 Uhr) was genau meinst du eigentlich damit? Das Thema oder die Art des Schreibens?


Nein, die Art des Schreibens ist klasse. Das Thema geht an mir vorbei. Mit Liebe, Frieden etc. kann man mich jagen. Ich mag mehr die psychologischen oder fantasievollen Themen =)
Vor langer Zeit - Antworten
schneeflocke Re: Ich -
Zitat: (Original von Robin am 22.02.2010 - 15:46 Uhr) konnte diesen Abschiedsschmerz richtig nachempfinden, mit ihr oder vielleicht sogar mit dir? :-) Der Text ist so eindringlich, so gefühlvoll, dass ich meine, dass du ihn vielleicht wirklich selbst erlebt hast oder vielleicht interpretiere ich da auch zu viel rein. Wunderschön, ich werde ihn gleich zu meinen Favoriten zufügen. Wirklich, ich liebe deine Geschichten. Eine schöner als die andere :-)

Liebe Grüße
Lisa


Hallo Lisa!
Ups, da hab ich doch glatt vergessen, dir zu antworten, entschuldige, ist grad ein wenig hektisch bei mir.
Vielen lieben Dank also für die Bewertung, den Favo und den netten Kommentar, ich freu mich immer wieder von neuem, wenn du meine Geschichten liest.
Schön, dass dir diese auch gefallen hat, ich werd ja ganz rot bei so viel Lob *g*.

Liebe Grüße,
Tina
Vor langer Zeit - Antworten
schneeflocke Re: Ich bin wirklich kein Fan -
Zitat: (Original von Luzifer am 22.02.2010 - 16:31 Uhr) solcher Sache, aber das bedeutet nicht, dass ich mich da nicht reinversetzen könnte, wenn es gut geschrieben ist.
Du hast sehr schön diesen hektischen Schreibstil umgesetzt, wodurch kaum ein Moment der Ruhe entsteht, was dieser Szene zu Gute kommt. :)
An einigen Stellen hätte ich mir aber trotztdem einen Punkt, statt des Kommas gewünscht. ;)
Ich kann nicht sagen, dass ich die Geschichte behalten werde (wahrscheinlich werde ich sie aber doch behalten), aber ich kann sagen, dass ich nicht bereue sie gelesen zu haben. =)

LG
Luzifer



Dankeschön für die Bewertung und den Kommentar, vor allem, da du solche Sachen eigentlich nicht magst (was genau meinst du eigentlich damit? Das Thema oder die Art des Schreibens?)
Das mit den Kommas, da könnte was dran sein, das schau ich mir nochmal an, ich bin häufiger in der Gefahr, zu wenig Punkte zu setzen, ich glaube, das hast du schon bemerkt ;)
Schön, dass du es trotzdem nicht bereust, reingeschaut zu haben, hat mich auch gefreut.

Liebe Grüße,
Tina
Vor langer Zeit - Antworten
Luzifer Ich bin wirklich kein Fan - solcher Sache, aber das bedeutet nicht, dass ich mich da nicht reinversetzen könnte, wenn es gut geschrieben ist.
Du hast sehr schön diesen hektischen Schreibstil umgesetzt, wodurch kaum ein Moment der Ruhe entsteht, was dieser Szene zu Gute kommt. :)
An einigen Stellen hätte ich mir aber trotztdem einen Punkt, statt des Kommas gewünscht. ;)
Ich kann nicht sagen, dass ich die Geschichte behalten werde (wahrscheinlich werde ich sie aber doch behalten), aber ich kann sagen, dass ich nicht bereue sie gelesen zu haben. =)

LG
Luzifer
Vor langer Zeit - Antworten
Robin Ich - konnte diesen Abschiedsschmerz richtig nachempfinden, mit ihr oder vielleicht sogar mit dir? :-) Der Text ist so eindringlich, so gefühlvoll, dass ich meine, dass du ihn vielleicht wirklich selbst erlebt hast oder vielleicht interpretiere ich da auch zu viel rein. Wunderschön, ich werde ihn gleich zu meinen Favoriten zufügen. Wirklich, ich liebe deine Geschichten. Eine schöner als die andere :-)

Liebe Grüße
Lisa
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