Tief in der Unendlichkeit des Weltraums...
Völlige Stille herrscht an diesem Ort. Gedanken würden so laut erklingen wie Meeresrauschen.
Aber es gibt hier kein Wasser, höchstens die Idee davon. Und der einzige Ozean ist das breitgefächerte, glitzernde Sternenmeer...
Richten wir unsere Augen nun auf einen hellen Punkt. Eine Sonne spendet einem Planeten ihr Licht. Wir befinden uns im Mittelpunkt des Universums, an einer Stelle, in der Wirklichkeit und Fantasie aufeinander treffen. Es ist zwar technisch gesehen unmöglich, den Mittelpunkt von etwas zu ermitteln, das unendlich groß ist, doch das hindert ihn nicht daran, zu existieren. Hier herrschen andere Naturgesetze als im restlichen Universum. Überall im All gründen Lebensformen ihre Zivilisationen auf dem Grundstein der Philosophie, der Physik oder etwas anderem, das sie für ziemlich fortgeschritten halten. Sie schwören auf Gesetze wie Schwerkraft, die Relativitätstheorie oder die Schlange im Supermarkt. Und überall im All wären dies auch Gesetze, auf die es sich zu schwören lohnt.
Doch hier gibt es... andere Gegebenheiten. Aus einer Laune der Natur und wegen einer bizarren Krümmung der Raum-Zeit befinden sich der Mittelpunkt und das Ende des Universums an der gleichen Stelle. Und sowohl am einen als auch am anderen Ende entstand im Laufe der Jahrmillionen ein Planet. Der eine von ihnen trägt den Namen Lithios. Von einer hellen, jungen Sonne beschienen, rotiert er um seine eigene Achse, ohne jemals seinen Platz zu verlassen. Die Personen, die auf ihm leben, gaben ihm, sofern sie einer Sprache mächtig waren, den Beinamen Lichtwelt. Der andere Planet - an der gleichen Stelle zwar, doch trotzdem eine Unendlichkeit weit entfernt - existiert so lange wie die Zeit selbst, im Herzen des Universums. Eine sterbende Sonne hüllt ihn in ein düsteres, bösartiges Licht. Dunkelheit reckt lechzend die Finger nach ihm und zerrt an seiner Lebenskraft. Von seinen Bewohnern erhielt er den Namen Krap, doch treffender wäre wohl der Ausdruck Schattenwelt gewesen. Lange Zeit existierten die beiden Welten, ohne voneinander zu wissen. Aber dennoch... nichts bleibt auf ewig verborgen, und manchmal schwappen Dinge über, die nicht dazu bestimmt sind, die andere Seite jemals zu erreichen. Je mehr Zeit verfließt, desto mehr schwappt... in die andere Welt hinüber. Man stelle sich in diesem Zusammenhang eine Badewanne vor, in die ständig neues Wasser rinnt. Nicht alles, was zwischen Krap und Lithios wechselte - seien es Gedanken, Gefühle oder Ideen - erreichte sein Ziel. Immerhin mußten sie in Wirklichkeit eine unendlich lange Wanderung zurücklegen, um von einem Ort zu anderen zu gelangen, auch wenn die Welten theoretisch am selben Platz existierten. Und manche von ihnen, sowohl helle, als auch dunkle Gedanken... blieben auf der Strecke zurück. Verloren sich, irgendwo in den Weiten zwischen den Planeten. Langsam... aus dem Blickwinkel eines Einzelnen betrachtet dauerte es länger als eine Ewigkeit... bildete sich aus diesen Überbleibseln noch eine dritte Welt an der Stelle, an der Mittelpunkt und Ende aufeinander trafen. Es war keine Welt wie Lithios oder Krap. Sie war nichts besonderes. Sie war einfach nur. Hätte sie überhaupt etwas sein können, so wäre sie wohl am passendsten mit dem Wort grau umschrieben worden. Sie vereinte all das in sich, das für immer namenlos bleiben mußte, da es niemanden gab, der die Gedanken empfing. Sie vereinte alle Gefühle, die für immer ungespürt blieben, und alle Ideen, die nie verwirklicht wurden. Nennen wir sie der Einfachheit halber die Grenzwelt. Etwas begann, sich auf der Grenzwelt zu formen und... zu leben. Dieses Etwas - es soll in Ermangelung eines besseren Ausdruckes vorerst Wesen genannt werden - fing an, einen großen Haß auf alles zu entwickeln, das auf der Licht- oder der Schattenwelt existierte. Es haßte das Leben, mehr noch als es das Licht oder die Dunkelheit haßte. Und es war bestrebt, die Dinge selbst in die Hände zu nehmen.
Dies ist der Punkt, an dem unsere Geschichte beginnt...
Schatten hingen an der Wand wie bizarre Gemälde. Einer zeichnete sich durch ein wenig mehr Konsistenz von den anderen ab.
Es ließ sich nicht sicher sagen, wie lange er schon da gewesen war. Doch nun, wo er da war, schien er schon immer hier gewesen zu sein. Es konnte überhaupt kein Zweifel daran bestehen. Eine Person saß über ihre Aufzeichnungen gebeugt an einem Tisch. Sie hatte die Bewegung des Schattens aus den Augenwinkeln beobachten können, ließ sich jedoch nichts anmerken. Ihr ganzes Leben lang hatte sie trainiert, keine Überraschung zu zeigen. Sieh mich an, befahl eine Stimme aus der Dunkelheit. Die Person schob ihren Stuhl zurück und stand langsam auf. Erst jetzt wandte sie sich dem Schatten zu. Dunkle Muster glitten über die Wand. Ein aufmerksamer Zuschauer hätte Konturen in ihnen ausmachen können. Ein aufmerksamerer Zuschauer hätte die Konturen außerhalb der Bewegungen ausmachen und in ihnen eine Person erkennen können. Ein noch aufmerksamerer Zuschauer hätte es vielleicht gar nicht soweit kommen lassen und wäre schon viel früher davongelaufen.
"Wer bist du?" fragte die Person am Schreibtisch. Sie trug keinerlei Waffen bei sich, aber ein Messer lag nur wenige Zentimeter entfernt auf dem Tisch. Der Bruchteil einer Sekunde würde genügen, um danach zu greifen und es auf ein Ziel zu schleudern. Doch die Person war sich durchaus bewußt, daß eine Klinge hier mit großer Wahrscheinlichkeit nichts auszurichten vermochte. Ebenso gut könnte man versuchen, seine Möbel umzubringen. Der Schatten trat aus der Wand. Es war weniger eine Aktion als vielmehr die Erinnerung einer solchen. Das menschliche Auge konnte den Vorgang nicht begreifen und nicht an das Gehirn weitergeben, was es gesehen hatte. So existierte der Eindringling nur als Schatten auf der Wand, oder als Wesen im Raum, obgleich ein Übergang stattgefunden haben mußte. Die Person am Schreibtisch zwinkerte. Manche Menschen hätten längst die Flucht ergriffen, doch es war fragwürdig, ob Flucht eine sinnvolle Maßnahme darstellte. Erst würde sie herausfinden,welche Absichten der Eindringling verfolgte."Wer bist du?" wiederholte sie ihre Frage und achtete darauf, keinerlei Betonung hineinzulegen. Genauso gut hätte sie von einem Blatt ablesen können, auf dem sie zwar die Buchstaben deuten, nicht aber verstehen konnte. Nenn mich... den Grenzer. "Was willst du, Grenzer?"Sieh mich als deinen... Arbeitgeber."Ich habe eine Arbeit."Wenn du meine Aufgabe zu meiner Zufriedenheit erledigt hast, wirst du es nie wieder nötig haben, zu arbeiten.
Der Schatten besaß jetzt die Form eines Menschen. Die Proportionen stimmten zwar nicht völlig, aber man konnte erkennen, daß er sich Mühe gab. Eine eintönige graue Kutte bekleidete die Person. Die Gesichtspartie blieb unerkannt, denn eine breite Kapuze ragte weit über die Stirn und zog Finsternis an wie ein Magnet. "Nun, wir können diskutieren." Es ist ein Mord. "Für solche Dinge bin ich ausgebildet."Ein besonderer Mord. Er muß... dreimal ausgeführt werden. "Drei Morde also." Nein. Ein Mord. Dreimal an der selben Person. Oder vielleicht sollte ich besser sagen: Seele. Drei Wesen, die sich eine Seele teilen. Es ist ein wenig... kompliziert. Die Person wartete einen Moment lang, ob noch weitere Ausführungen folgen würden. Als der Eindringling nichts mehr sagte, nickte sie. Auch Professionalität kannte Grenzen. Die Person vermutete, daß dies keine Situation war, in der das Wort Nein eine Option darstellte. Eine Ablehnung wäre gleichbedeutend mit einem Todeswunsch gewesen. Der gesunde Menschenverstand flüstert einem zu, daß man einen Schatten, der aus der Wand steigt und einem anschließend ein Angebot unterbreitet, nach Möglichkeit nicht wie einen Staubsaugervertreter behandeln sollte.
Die Gestalt an dem Schreibtisch wußte nicht, was ihr bevorstand, aber sie wußte, daß es immer noch besser war, wenn einem wenigstens etwas bevorstehen konnte.Auch der Eindringling nickte beinahe unmerklich, wobei die Kapuze die eigentliche Bewegung vollführte. Der Vertrag war abgeschlossen...
Von oben betrachtet sieht das Land Krotos wie eine eine schlafende Schildkröte aus und ist auch in etwa ebenso gefährlich.
Allerdings: Von oben betrachtet sieht auch ein Ork mit einem breiten Strohhut friedlich und harmlos aus und ähnelt eher einer kleinen Sonne. Es macht einen großen Unterschied, wenn man plötzlich vor ihm steht und einen genaueren Blick auf die Keule werfen kann, die er in der Hand hält. Andererseits, welcher Ork trägt schon einen Strohhut?* (ein Philosoph, der mit dieser Theorie die Existenz von Orks zu widerlegen versuchte, machte schon kurz darauf die Bekanntschaft von einer beachtlichen Menge Holz, welches mit hohem Bewegungsmoment seinen Schädel traf) Wenn man sich ein wenig von der Mitte des Landes entfernt und den Lachsen flußaufwärts folgt, bis sich die Wanderberge *(Wanderberge sind entfernte Verwandte der in den Wüsten vorkommenden Wanderdünen, obwohl Dünen in der Regel so langsam sind, daß man ihnen schon entgegenlaufen muß, um überhaupt Bewegung wahr zu nehmen. Wanderberge hingegen sind schnell: Wer ins Gebirge steigt und dort übernachtet, kommt am nächsten Morgen oftmals in den Genuß einer neuen Aussicht. Der Grund für die Bergwanderungen sind die auf den Bergen lebenden magiebegabten Kühe. Die wiederkäuenden Geschöpfe können sich an steilen Berghängen bekanntermaßen nicht umdrehen. Jeder weiß, daß eine auf Berghängn grasende Kuh zwei lange und zwei kurze Beine besitzt: Die beiden dem Gipfel zugeneigten Beine müssen kürzer sein als die dem Tal zugewandten, denn sonst stünde eine Kuh in etwa so auf einem Berg, wie kleine Kinder beim Malen eines Bildes gerne Schornsteine auf Hausdächern darzustellen versuchen. Eine Kuh würde bei dem Versuch sich zu drehen also riskieren, umzukippen. Deswegen benutzen sie ihre naturgeschenkte Zauberkraft und drehen kurzerhand die Berge um.) zeigen und einen offenen Halbkreis in die Landschaft malen, muß man nur noch ein Stückchen hinabsteigen und dem Lauf des breitesten Stromes, des Knoss, folgen. Hier findet man, eingebettet zwischen den Wanderbergen, die das Tal wie einen schützenden Wall umgeben, die Stadt Snork.
Sie ist, wie alles in der Welt von Krotos, ein wenig... verbraucht. Ihre Häuser hatten schon einmal bessere Zeiten gesehen, ebenso wie ihre Bewohner. Aber obwohl, oder vielleicht auch gerade wegen diesem Umstand, Snork wie eine Insel vom Rest des Landes abgeschirmt ist, ist sie doch die Hauptstadt von Krotos*(niemand hatte zu befürchten, daß die Gesetze, die hier erlassen wurden, jemals bis ins Land vordrangen, da diejenigen, die sie erließen, zu faul waren, um ihre kleine Stadt zu verlassen)** (im übrigen wurden die Gesetze auch in Snork selbst nicht beachtet, denn wie ein königlicher Wächter es einmal ausdrückte: "Wenn das restliche Land tut, was es will, wir uns aber an die Gesetze halten, würde dies alle anderen Bürger des Königreiches automatisch zu Verbrechern machen. Da unsere Verliese nicht groß genug sind, um so viele Leute einzusperren, bleibt uns nur die Alternative, ebenfalls gesetzlos zu sein." Selbstverständlich wurde der betreffende Wächter dafür in die Grube mit den spitzen Dornen geworfen. Still und leise das Gesetz zu mißachten, war eine Sache - dies offen zu bekunden, eine völlig andere) und zugleich der Ort, an dem die unterschiedlichsten Rassen friedlich zusammenleben *(wenn sie nicht gerade damit beschäftigt waren, Krieg zu führen, um den Frieden aufrecht erhalten zu können). Menschen, Elfen, Orks und vereinzelte magiebegabte Kühe sind hier noch die normalsten Lebewesen. In die düsteren Gebiete der Stadt haben sich die Serabi zurückgezogen, ein Volk, das lediglich aus Schatten besteht und keine feste Substanz aufweist. Es heißt, sie wären nichts weiter als die Reminiszenzen einer früheren, mächtigen Rasse, die einst die gesamte Welt regierte. Man flüstert, daß die Serabi die weisesten aller Wesen wären, doch intelligentere Leute bezweifeln diese These, aus dem einfachen Grund , weil die Serabi sich in Snork niedergelassen haben. Neben den verschiedensten anderen Rassen gibt es noch einen Ältestenrat, der die Stadt leitet und ausschließlich aus Druhka besteht, einem uralten Druidenvolk. Manch einer behauptet, die Druhka wären die wahren Herrscher der Welt und würden sie scheibchenweise unter sich aufteilen. Durch den Umstand, daß Snork auch die Hauptstadt aller Magierzünfte in ganz Krotos ist, wandeln Unmengen an magischen Fehlschlägen auf ihren Straßen. Manche säen Angst und Schrecken, wenn sie des Nachts aus ihren Verstecken kriechen, andere wiederum werden gern gesehen. So zum Beispiel die Wockies, ein hölzernes Volk, die nichts weiter sind als Besen mit zwei Armen und Händen. Sie schlubbern auf ihren Borsten und halten auf diese Weise die Wege rein, aber ein adoptierter Wockie ist auch im Haushalt gut zu gebrauchen. Irgendwie scheinen die Besenwesen es sogar fertig gebracht zu haben, sich fortzupflanzen, denn ihre Population nimmt stetig zu, und wenn man großes Glück hat, bekommt man vielleicht einen Baby-Wockie *(Die übliche Bezeichnung für einen Baby-Wockie lautet Handfeger) zu Gesicht, der noch nicht einmal richtige Borsten besitzt. Snork mag nicht die reichste Stadt in Krotos sein, wohl aber die reichhaltigste. Je näher man ihr kommt, desto mehr offenbart sich ihre Turbulenz und Hektik. Doch aus der Ferne betrachtet mag der unbedarfte Reisende sie für einen Ort des Friedens halten und spontan den Entschluß fassen, dort ein Haus zu bauen und seinen Lebensabend zu verbringen. Nun, dies ist die Art und Weise, auf die Snork letztendlich entstand...
Weit entfernt von Snork, südlich der Wanderberge, wo die Oberfläche Krotos' von Hügeln geprägt ist, als hätte ein schlafender Riese sich gestreckt, dabei den Fuß in die Erde gestemmt und sie wie einen Teppich auf gewellt, konnte man eine winzige Person erkennen, die einen kleinen Berg hinauf wanderte. Nun, die Person war natürlich nur aus der Ferne gesehen winzig. Mit ihrem breiten Strohhut und der ausgeblichenen Latzhose hätte man sie auf den ersten Blick mit einem Bauern verwechseln können. Auf den zweiten Blick erkannte ein guter Beobachter, daß es in Wirklichkeit ein Magier sein mußte, denn nur Magier pflegten einen derart schlechten Geschmack in Hinsicht auf Kleidung und Stil. Ein paar Schweißtropfen perlten der Person von der Stirn. An ihrem steten, nicht zu schnellen Schritt konnte man erkennen, daß sie das Wandern gewohnt war. Diese Tatsache erschien verhältnismäßig ungewöhnlich für einen jungen Novizen der Magie, war doch gemeinhin bekannt, daß Zauberer dazu neigten, sich in dunklen Räumen aufzuhalten und den Staub von äonenalten Büchern zu schnuppern. Aber in diesem Falle ließ sich das Gesetz der Allgemeingültigkeit auf einen Handel mit dem Schicksal ein: Es sorgte dafür, daß der Junge kein besonders großes Interesse an kilometerlangen Bibliotheksregalen voller Wälzer aufwies, wenn sich das Schicksal im Gegenzug bereit erklärte, an ein paar bestimmten Fäden im großen Muster zu zupfen... Die betreffende Person ahnte natürlich nichts von alledem, doch sie war sich durchaus darüber bewußt, daß sie... anders war. Ihr Name lautete Deacon. Deacon hatte in seinem noch recht kurzen Leben schon mehrere Berge bestiegen, und dieser hier erschien ihm im Gegensatz zu den meisten anderen eher wie ein Hügel. Deacon war eine jener Personen, die immer ein wenig, nun, rastlos anmuten. Er befand sich schon seit längerem auf Wanderschaft und hatte die böse Vorahnung, daß die Reise, die er angetreten hatte, noch ewig dauern würde: Er suchte nicht nach einem bestimmten Ort; er befand sich auf der Suche nach sich selbst. Der Gipfel war nah, Deacon konnte sein Ziel bereits mit bloßem Auge ausmachen. Eine kleine Ansammlung von Pfählen stand dort. Auf einem der Pfähle hatte sich ein kleiner Greis niedergelassen und genoss die Sonne. Es wäre eine Lüge gewesen, hätte man behauptet, seine Haut wäre braun gebrannt. Er war schwarz wie Ebenholz, seine schlohweißen Haare wehten in einer leichten Brise und erweckten den Anschein, sich eigenständig zu bewegen. Deacon legte einen Schritt zu.Der Alte würdigte ihn keines Blickes, als er vor dessen Pfahl trat. Auch als Deacon sich räusperte, hielt der Greis es nicht für notwendig, seine geschlossenen Augen zu öffnen. Deacon vermutete, daß seine Meditation derart tief war, daß sein Geist nicht mehr in seinem Körper weilte. "Ähem" ließ sich Deacon höflich vernehmen und trat unwohl von einem Fuß auf den anderen. Jetzt zeigte der starre Kopf den Hauch einer Bewegung. Deacon hoffte, den Geist nicht zu einer unfreiwilligen Rückkehr gezwungen zu haben.
"Du stehst mir in der Sonne" sagte der Greis lediglich. "Ich brauche deinen Rat..." meinte Deacon klein laut und achtete darauf, nicht zwischen der meditierenden Person und dem glühenden Ball am Himmel zu stehen. Der Greis blinzelte und streckte dann die Hand aus. "Nenn mich Merho" sagte er und sprang mit einem Satz vom Pfahl. Er war erheblich kleiner als Deacon, doch trotzdem vollbrachte er die Leistung, ihm direkt in die Augen zu sehen, ohne den Kopf auch nur einen Millimeter zu heben.
"Wohin bist du unterwegs? Du hast den weiten Weg doch sicherlich nicht auf dich genommen, bloß um mich zu sehen."
"Ich... ich befinde mich auf der Suche nach mir selbst." "Ah" lächelte Merho. "Da kann ich dir helfen." "Tatsächlich?"
"Ja. Du befindest dich direkt vor mir." Deacon nickte resigniert. Merhos Augenbrauen hoben sich, und der Alte legte den Kopf schief. In einem freundlichen Tonfall sagte er: "Du scheinst wenig begeistert zu sein von meinen Worten. Nun, vielleicht kann ich dir trotzdem helfen. Nach was für einem Rat suchst du?" "Ich, ähm..." "Eher allgemeiner Natur, oder hattest du etwas bestimmtes im Sinn?" "Nun, ich... würde gern mehr über die Schattenwelt erfahren."Der Alte schien nachdenklich. "Die Schattenwelt, wie? Unsere Schwesterwelt." "Die Leute sagen, du wüßtest viel über sie."
"Die Leute sagen auch, daß es am nächsten Tag regnet, wenn der Maulwurf seinen Haufen höher als zwei Fuß aufwirft."
Deacon hielt es für besser, nichts zu erwidern. "Wer hat dich geschickt?"
"Meine Lehrmeister." "Deine Lehrmeister" wiederholte der Alte. "Zu was für einer Gilde gehörst du?"
"Es sind Magier, die-" "Ah, Magier" sagte Merho, und legte die gleiche Betonung in das Wort wie jemand, der "Ah, Demokratie. Sieh her, wohin mich deine verdammte Demokratie gebracht hat!" sagt. "Kenne diesen Schlag" murmelte Merho weiter, während er zwischen den Pfählen dahin trottete. "Wollen immer alles richtig machen. Erachten sich als aufgeklärt. Haben sogar Anweisungen, in denen beschrieben ist, wie Anweisungen zu verfassen sind, wenn ich mich recht entsinne."
"Es ist keine der normalen Gilden" beeilte sich Deacon zu sagen. Er spürte, daß das Gespräch in die falsche Richtung zu driften begann wie ein Floß, das von einer unliebsamen Strömung davon getrieben wird. Er wußte jedoch nicht so recht, wo er das Paddel ins Wasser stoßen sollte, um um zudrehen.Der Alte stellte ein ungewöhnlich freundliches Grinsen zur Schau. "Etwas besseres als die normalen Gilden, wie? Habt wohl die Magie neu definiert, mh? Wenn nicht gar neu erfunden, was?"
"Wir, ähm..." "Weiß gar nicht, wie oft ich mir das schon anhören durfte" fuhr Merho unbeirrt in seiner Predigt fort. "Wir sind besser als die, denn wir haben dies und jenes vollbracht, wohingegen die nur das und dies geschafft haben, und überhaupt, die haben doch mit der ganzen Sache erst angefangen..." Vor Deacons geistigem Auge zeichnete sich bereits das Riff ab, auf das ihn die Strömung unaufhörlich zutrieb. Sein kleines Floß würde unweigerlich daran zerschellen. Er entschied sich für den Sprung ins kalte Wasser. "Ich bin der Separator." Seine Stimme blieb ruhig, während er es sagte, und er beobachtete, welche Reaktion die Enthüllung wohl auf den Greis haben mochte. Dieser musterte ihn scharf, unterzog ihn einer Prüfung, während deren Dauer Deacon sich vor kam, als würden seine Eingeweide und sein Gehirn von innen durchleuchtet. Dann entfaltete sich ein Lächeln auf Merhos Gesicht wie ein sehr kompliziertes Origami. "Nun, in dem Fall gehe ich davon aus, daß du ein vernünftiger junger Mann bist, der schon viel über sein Leben nachgedacht hat, ja?" "Immerzu" antwortete Deacon.
"Dann solltest du dir einmal die Zeit nehmen, alles seinen eigenen Weg gehen zu lassen" flüsterte Merho plötzlich leise und deutete mit seiner Hand auf einen der Pfähle. "Nimm Platz."Deacon betrachtete die Landschaft, die von den verschiedenen, unterschiedlich langen Pfosten geprägt war. "Warum hast du so viele Pfähle hier? Die meisten anderen Weisen, die ich bis jetzt besucht habe, besaßen immer nur einen einzigen Pfahl zum meditieren."
"Meditieren? Hast du jemals auf einem so unbequemen Ding gesessen und versucht, darauf zu meditieren, Junge?" Er betrachtete Deacon, als käme dieser direkt von der anderen Seite. "Ich sitze auf diesen Pfählen, weil sie mein verdammtes Rheuma lindern! Und ich habe deshalb so viele von ihnen, weil es stinklangweilig wäre, den ganzen Tag nur eine einzige Aussicht genießen zu können..."
Die Prüfungen waren alles andere als einfach, doch Shayne hatte sie bewältigt, ohne auch nur einen Muskel zu viel zu beanspruchen.Shayne bewältigte jede Aufgabe, ohne dafür lernen zu müssen oder sich näher mit der Sache zu beschäftigen. Die, die nicht wußten, wer er war, munkelten, er wäre anders als alle anderen, aber auf eine schlechte Weise.
Sein Lehrmeister beobachtete ihn und fühlte sich unbehaglich unter Shaynes Blick. Der junge Elf hatte besondere Fähigkeiten. Wenn er einem in die Augen sah, konnte man beinahe fühlen, wie sein Geist einem durch die Schädeldecke drang, im Verstand herumwühlte und ganz zufällig auf die Dinge stieß, die man für gut vergraben gehalten hatte. Und er schien fähig zu sein, solche Dinge im unpassendsten Augenblick zur Sprache zu bringen. Wäre er nicht der Separator gewesen... man hätte ihn vermutlich längst entfernt. Shayne lächelte und starrte Kovko an. "Wie war ich?" Kovko wandte seine Augen dem Übungsraum zu. Verborgene Fallen, die jemanden das Auge hätten kosten können, lagen aufgedeckt und zerstört neben Gerätschaften, die die völlige Aufmerksamkeit und Wachsamkeit der Prüflinge beanspruchten*.(Es existierten auch Vorrichtungen, die absichtlich von den etwas verborgeneren Vorrichtungen ablenken sollten. Nicht selten lauteten die Gedanken eines Schülers, der gerade eines dieser Geräte entdeckt hatte: Hah! Diese Falle war aber leicht zu Aaaaaaaaaaaaargh!) Shayne hatte die Vorrichtungen mit der rechten Hand unschädlich gemacht, während er sich mit der Frage beschäftigte, wie er den restlichen Abend gestalten sollte. Natürlich war keines der Geräte eingestellt, die Prüflinge zu töten, doch konnten sie ihnen sehr wohl ernsthafte Verletzungen zufügen. "Es sieht so aus... als hättest du bestanden." Kovko verzog das Gesicht.
"So wie alle anderen Prüfungen" brachte es Shayne auf den Punkt. "Ja, ich..."
"Ist meine Ausbildung beendet?" Kovko zuckte mit den Achseln. "Du weißt, daß sie noch nicht beendet ist. Kein Schüler verläßt diese Schule vor dem zweiundzwanzigsten Lebensjahr." Shayne seufzte. Dies war alles so deprimierend. Irgendjemand hatte ihn mit einer Geschicklichkeit ausgestattet, die für drei Elfen gelangt hätte. Der Jemand hatte allerdings vergessen, ihm die Gebrauchsanweisung dafür zuzustecken. Er lächelte. "Dann zeig mir etwas, das du besser beherrschst als ich."
"Oh, ich..." Kovko war entrüstet. Er hatte lange und hart gearbeitet, um eine so hohe Stellung im Tempel zu erhalten. Seine gesamte Weltanschauung begründete sich auf der Tatsache, daß Alter und Wissen Respekt verdienten. Der Junge stellte ihn hart auf die Probe. Shayne stand auf und verharrte einige Sekunden reglos vor seinem Lehrmeister. Angst spiegelte sich in Kovkos Gedanken wieder. Furcht besitzt ein einfaches Muster, das von einem geübten Auge mühelos erkannt werden kann, auch wenn man keine telepathischen Fähigkeiten besitzt. Dabei wollte Shayne doch gar nichts Böses tun! Er hatte nicht vor, jemandem zu nahe zu treten, doch manchmal rutschten einem eben ein paar Dinge heraus, wenn alle versuchten, einen wie einen Hasen in die Ecke zu drängen. Die Lehrer merkten bald, daß dies mit Shayne nicht funktionierte: Er neigte dazu, persönlich zu werden, wenn er unter Druck gesetzt wurde. Doch er benötigte keinerlei Beleidigungen dazu. Er fing einfach an, von Dingen zu sprechen, die ein Gehirn üblicherweise verdrängte. Man vergleiche ihn in dieser Hinsicht mit einem schlechten Gewissen, das auf zwei Beinen läuft und einen Mund besitzt. *(Die meisten Leute würden sich wahrscheinlich weitaus mehr um gute Taten bemühen, wenn ihr schlechtes Gewissen dazu neigen würde, ohne Unterlaß in Zimmerlautstärke zu plaudern)
Kovko sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an und befürchtete, jeden Moment etwas über sich selbst zu erfahren, das ihm in den nächsten Nächten jeglichen Schlaf rauben würde.
Shayne öffnete den Mund. Profundes Unbehagen erfaßte den Lehrmeister und äußerte sich in weit aufgerissenen Augen. Glücklicherweise entwich Shayne lediglich ein Gähnen. "Wenn du mir nichts mehr zu sagen hast, dann werde ich jetzt gehen."
Shayne war sich sicher, daß Kovko ihn nicht aufhalten würde. Er behielt Recht. Die langen Gänge der altehrwürdigen Schule waren kalt. Es gab nicht viele Fenster. Ein paar kleine Gärten und der große Hof waren die einzigen Orte, von denen aus man den dunkelbraunen Himmel betrachten konnte. Die Welt roch nach Freiheit. Shayne wollte sie endlich ausleben.
Er war ein Gefangener. Die Schule sprach von sich als einen Ort, an dem seit tausenden von Jahren vielversprechende junge Dunkelelfen ausgebildet wurden. Wohin Shayne auch blickte, er konnte keinen solchen Elfen sehen.
Natürlich, er hatte Freunde. Jeder legte sich Freunde zu an einem Platz wie diesem. Wer hier keine Freunde hatte, überlebte nicht lang. Die Tage waren hart, die Nächte noch härter. Wenn die langen Stunden der Ausbildung vorbei waren, mußten Aufgaben erledigt werden, die dem Gemeinwohl dienten. Doch die Freunde, die man hier fand, waren wie Werkzeuge: Man bediente sich ihrer, wenn man sie brauchte, und legte sie ins Regal zurück, wenn man fertig mit ihnen war. Freundschaften wurden auf Zeit geschlossen. Was konnte er tun? Die Frage bezog sich nicht ausschließlich darauf, was er innerhalb der Tempelmauern tun konnte. Sie war sogar noch relevanter, sobald er hier heraus kam. Was verdammt nochmal tat man, wenn man die Schule der Ewigen Nacht absolviert hatte? Gut, er konnte jemandem den Magen aus dem Bauch treten, während er ein mit Tassen gefülltes Tablett auf dem Arm trug - aber wieviel Gewicht hatte so etwas in einem Bewerbungsschreiben?
Das Schlimmste jedoch war etwas anderes. Es mochte für die restlichen Schüler nicht so tragisch sein, wenn sie den gigantischen Komplex nicht verlassen konnten. Sie besaßen etwas, das Shayne nur aus Erzählungen kannte, und weil er es nicht besaß, konnte er sich auch keine Vorstellung davon machen: Fantasie. Dieses winzige Wort bedeutete, daß man seine eigene Freiheit wenigstens im Kopf finden konnte. Es war schlimm, wenn alles, was man hatte, die Realität war...
Ein wenig abseits der Stadt Snork ragte die Zitadelle der Farben in den Himmel.
Sie war das Heim der Magiergilde und somit einer der Orte in Krotos, von denen man in der Öffentlichkeit ausschließlich ehrfürchtig und mit Hochachtung sprach* (schließlich konnte man nie wissen, ob nicht gerade einer dieser rachsüchtigen und eingebildeten Magier in der Nähe war und lauschte). Sie trug ihren sonderlich klingenden Namen deswegen, weil in ihr alle möglichen Arten der Magie praktiziert wurden. In Krotos gab es keine vorherrschende Form der Zauberei. So etwas erachtete man als primitiv. Länder wie Aradanien, in denen es heiß und schwül war und wo die Leute oft nichts am Leibe trugen außer ihrer Sonnenuhr, an solchen Orten war schwarze Magie noch verpönt.* (außerdem wußte jeder, der auch nur etwas über das Ausland wußte, daß man sich dort seltsame Krankheiten einfangen konnte, und daß die Leute dort Menschenfleisch aßen **(Natürlich gab es auch in Krotos allerlei Wesen, bei denen es als eine Delikatesse galt, wenn Menschenfleisch auf den Tisch kam - allerdings hatten sie wenigstens Tischmanieren). In der Zitadelle der Farben war alles erlaubt. Früher einmal hatte man Magie in so lächerliche Kategorien wie gut oder böse eingeteilt, doch diese Zeiten waren glücklicherweise vorbei. Wie hatte der große Magus Clemus einst gesagt: In der Nacht sind alle Magier grau. Oder jedenfalls so ähnlich. Kein Bewohner der Zitadelle konnte sich mehr an die Zeit der Gründung erinnern, doch noch immer gab es eine Statue des ehrenvollen Meisters Mandulin, die vor dem Eingang der Festung thronte. Unter ihr war, auf einem kleinen Sockel, folgendes Zitat angebracht: "Schwarze Magie? Warum sollte ich Angst vor ihr haben? Hier, nimm dieses Pulver, damit kriegst du sie wieder sauber."
Seit dieser Zeit jedenfalls durften in der Zitadelle der Farben alle Arten der Magie benutzt werden, wenn die Novizen nur darauf achteten, daß die Wände keine Flecken abbekamen. Die Jugend von heute konnte es sich einfach nicht vorstellen, was es kostet, eine Wand zu streichen. Wenn man seinen Blick noch ein wenig umherstreifen ließ, fiel er bestimmt irgendwann auf die höchste Nadel, die aus der Zitadelle sproß: den Turm der Magier. Die Aussicht vom Turm der Magier war außergewöhnlich. Nicht nur, daß durch die gebündelte Energie, die von dem Ort ausging, die restliche Welt wie mit einer Lupe vergrößert wurde. Auch alles andere schien von hier oben... fokussierter. Die Gedanken waren klar und rein wie die Luft, der Sauerstoff befreite das Gehirn von jeder unnützen Last. Thamis jedoch kümmerte dies nicht. Dies war einer der wenigen Orte in der gesamten Zitadelle, an denen man auch am Nachmittag nicht befürchten mußte, vom Geschwätz einiger Novizen gestört zu werden. Ein dicker Wälzer ruhte in seinen Händen. Manchmal übernachteten ein paar der Schüler hier oben. In einer dieser sternklaren Nächte konnte man viel über sich selbst erfahren. Man sagte, daß der Aufenthalt in einer Wüste den Geist reinigen würde. Nun, ungefähr das gleiche Ergebnis erzielte dieser Ort. Er hielt so etwas wie eine allesfüllende Leere bereit.
Doch das war es nicht, was Thamis interessierte. Es gab nicht vieles, das dem Jungen wertvoll war oder gar seine Aufmerksamkeit an sich fesseln konnte. Die höheren Magier verlangten von ihm, daß er sich kümmerte. Daß er es seinem Bruder Deacon gleich tat und nach Weisheit in der realen Welt suchte. Weisheit. Was hatte es damit auf sich? Hatte nicht ein gelehrter Mann einst gesagt, Weisheit wäre in Büchern zu finden? Worte bedeuteten Thamis etwas. Nicht die gesprochenen, sondern geschriebene Worte. Er war fasziniert von ihnen. Man konnte ein ganzes Leben mit wenigen Worten auf ein paar Blatt Papier festhalten. Man konnte Wissen binden und es für spätere Generationen zugänglich machen. Doch nicht nur Worte waren wichtig. Thamis liebte auch Bücher. Er machte dies nicht vom Buch abhängig – in seiner Vorstellung gab es keine guten oder schlechten Werke. Er liebte die Bücher selbst. Bücher waren der Schlüssel zum Verstand. Man mußte nur mit ihnen umzugehen wissen, und schon gaben sie die größten Geheimnisse des Universums Preis. Natürlich, es hatte oft... Probleme gegeben. Thamis war sehr bedacht darauf, daß Bücher richtig behandelt wurden. Es hatte da einmal diesen Zwischenfall gegeben, als sein Mitbewohner ein Buch kopfüber und aufgeschlagen auf seinem Bett liegen gelassen hatte. Und das, obwohl jeder wußte, daß eine solche Tat nur eine Stufe unter dem Herausreißen einer ganzen Buchseite stand. Sie war schlimmer als ein Eselsohr... Seit diesem Vorfall wohnte Thamis alleine. Und seinem ehemaligen Mitbewohner ging es auch wieder besser * (Zumindest war er schon wieder in der Lage, feste Nahrung zu sich zu nehmen).Es war alles so ungerecht! Niemand schien ihn zu verstehen! Ein wenig Verständnis war alles, was Thamis sich wünschte. Vielleicht noch mehr Zeit zum lesen, ja. Aber sicherlich Verständnis. Er fragte sich, warum es so schwer sein mußte, einfach nur man selbst zu sein...
Das Innere von Merhos Hütte sah aus wie eine Bibliothek. Das schien ein wenig verwunderlich, denn von Außen hatte sie um einiges kleiner gewirkt. In ihr jedoch bekamen die Dimensionen eine ganz neue Definition. Ein Eingeweihter hätte erkannt: Die Hütte glich einem guten Buch. Es bestand zwar nur aus aneinandergereihten Strichen und Tintenklecksen, doch in der Gesamtheit machten sie viel mehr aus, als eigentlich in das Buch hineinpassen dürfte. Ein guter Roman läßt einen nachdenken und sprengt auf diese Weise die räumlichen Vorstellungen. So ähnlich verhielt es sich mit der Hütte.
All das Wissen, das in ihr lagerte, wirkte sich auf die Wirklichkeit aus wie Wärme auf Quecksilber: Sie begann, sich auszudehnen. Bücherstapel füllten die Gänge zwischen den Regalen, die wiederum ihrerseits mit Büchern aufgestockt waren. Ein unvorsichtig benutztes Streichholz hätte genügt, um das ganze Haus in wenigen Sekunden zu Asche zu verwandeln.
Deacon wagte einen Sprung über einen kleinen Haufen vergilbter Wälzer, die in seinem Weg lagen. Merho beobachtete ihn nachdenklich. Er hatte ein paar der Werke zu einem Stuhl umfunktioniert und saß vor einem der wenigen echten Möbelstücke in der gesamten Hütte, einem Tisch."Hast du all diese Bücher geschrieben?" staunte Deacon.
"Kein Mensch könnte das" sagte Merho. "Es sind Geschichtsbücher." "Jedes einzelne?"
Verträumt nahm Merho einen Folianten in die Hand. Das Buch besaß einen roten Einband und war etwas weniger dick als der Durchschnitt. "Es sind Geschichtsbücher der besonderen Art" betonte der Alte. "In ihnen findest du... Geschichten von Geschichte." "Ich verstehe nicht ganz..."
"Sieh her." Deacon setzte sich neben den Greis. Merho fuhr mit den Fingern am Rande des Einbands entlang, dann öffnete er vorsichtig die erste Seite. Deacon fühlte ein eigenartiges Ziehen und hielt die Luft an. Dort, wo er Worte auf den Seiten erwartet hatte, war nichts. Doch trotzdem war das alte Papier dicht... beschrieben...
... Bilder begannen, sich zu formen... Elfen zogen in einer kilometerlangen Karawane durch eine Wüste. Ihre schlanken Körper trotzten der Hitze, doch man konnte sehen, wie sehr der Marsch sie anstrengte. Statt ihrer waldfarbenen Kleidung trugen sie Safran und Grau. Sie passten sich an. Der Sand knirschte unter ihren Füßen, der Geruch von Schweiß perlte über die Seite...
Deacon kniff die Augen zusammen, als Merho das Buch zuschlug. "Es war... wie ein Traum" sagte er. "Ich konnte alles genau sehen... aber was war es?" "Geschichte" lächelte der Alte. "Eingefangen in Büchern."
"Ist es... ein Trick?" "Kein Trick. Und auch keine sonderbare Form von Magie." Merho rang mit sich, ob er dem Jungen sein Geheimnis anvertrauen sollte. Im Grunde genommen war es tatsächlich keine Magie, und auch keine Zauberei. Es war einfach, wenn man wußte, wie man es anzustellen hatte. Doch ebensogut konnte man behaupten, es wäre einfach, eine Schlange zu beschwören. Wer lange gelebt und genug Erfahrung darin hatte, mochte es schaffen, ohne daß ihn die Schlange biß. Es war lediglich eine Frage der Zeit. "Ich bin ein Buchbinder" gab Merho Preis. "Es gibt nicht viele von uns. Wir teilen uns die Geschichte. Jeder von uns bindet einen bestimmten Teil."
"Du bindest Geschichte? Davon habe ich noch nie gehört. Was genau bedeutet das?"
"Ich bringe die Vergangenheit auf diese Seiten. Sobald die Gegenwart zur Vergangenheit wird, läßt sie sich einfangen. Sie existiert in diesem Sinne nicht mehr, denn sie ist schon längst geschehen. Es ist bloß noch die Erinnerung an die Vergangenheit vorhanden. Deswegen kann ich sie in einem Buch binden."
"Mußt du dafür zugegen sein?" "Nicht allzu nah. Nicht allzu nah" murmelte der Greis. "Es reicht, wenn ich aus der Entfernung beobachten kann. Viele Schlachten wären mein Tod gewesen, hätte ich sie aus der Nähe miterleben müssen. Nein, es reicht, wenn ich mich nah genug heranbegebe... und alles von einem sicheren Hügel oder Berg aus binde..."
Eine Idee keimte in Deacons Kopf und ließ sich auf seiner Zunge nieder. "Kannst du sie umschreiben?"
"Wäre die Vergangenheit in Worte gekleidet, könnte man es vielleicht bewerkstelligen" sagte Merho. "Doch das ist sie nicht."
"Und hast du schon einmal... eingegriffen?" Merhos Antlitz verfinsterte sich. Deacon bekam das Gefühl, ungewollt ein Gewitter heraufbeschworen zu haben. "Keine Intervention!" sagte der Alte. "In die Geschichte darf nicht eingegriffen werden. Das ist das oberste Gesetz eines Buchbinders. Wenn wir uns nicht daran halten würden... nicht auszudenken!"
"Ich wollte nicht-" begann Deacon, doch dann las er den Titel eines der Bücher, auf denen er saß. Der Aufbau der Nar-Nar Brücke. "Was ist dort vorgefallen?" "Wo?"
"Beim Aufbau der Nar-Nar Brücke. Ich wußte nicht, daß es etwas wissenswertes darüber zu berichten gab. Etwas, daß sich in ein Buch zu binden lohnen würde." Merho schenkte ihm einen abschätzigen Blick. "Nichts ist dort vorgefallen" gab er zur Antwort. "Und dann wiederum... alles." Quälende Minuten der Stille vergingen, während Deacon sich fragte, welchen Fehler er gemacht hatte, um eine solche Antwort zu verdienen. "Du meinst..." sagte er schließlich. "Es spielt keine Rolle, ob jemand eine kleine Brücke baut oder eine Schlacht um ein mächtiges Königreich kämpft. Geschichte ist Geschichte."
Merhos Gesicht war eine Maske aus respektvoller Verblüffung und mißtrauischer Berechnung. Er nickte langsam. "Für die Geschichte ist jede Tat gleich viel wert" stimmte der Alte ihm zu. "Wir haben eine Redewendung bei uns: Für die Geschichte ist es nur Geschichte. Anderenfalls wäre es manchmal sehr, sehr schwer, die Arbeit zu erledigen, die ich verrichte. Doch du bist schnell von Begriff." "Ich versuche, so viel wie möglich zu lernen."
"Du solltest lernen, daß Wissen auch von dir selbst kommen kann. Nicht nur die Frage ist wichtig - sondern auch, an wen du sie stellst." "Doch das, was ich erfahren wollte, kannst nur du mir sagen."
"Die Schattenwelt..." murmelte Merho. "Ja." "Viele Dinge weiß man von ihr. Manches ist die Wahrheit. Vieles eine Lüge. Es kommt auf die Perspektive an. Nimm dieses Buch" Merho hielt Der Aufbau der Nar-Nar Brücke in den Händen. "War dieses Ereignis gut oder schlecht?" "Die Nar-Nar Brücke schuf eine Verbindung zwischen den Ländern Nartien und Rohan. Sie brachte Fortschritt. Sie ist gut." "Dann sieh, wieviele Tiere und Bäume dafür sterben mußten. War es aus ihrer Sicht auch gut?"
"Natürlich nicht, aber-" "Aber?" Merho biß sich auf die Lippe. "Es gibt immer ein Aber. Aus jedem Blickwinkel. Das ist es, was ich dir über die Schattenwelt verraten kann."
"Ist das alles?" "Hast du dir mehr erwartet?"
"Ich bin den ganzen Weg hier herauf gelaufen, um mir das anzuhören?" Ungeduld brodelte in Deacon wie Magma unter der Erde, bereit, sich einen Weg an die Oberfläche zu suchen. "Was ist nun mit der Schattenwelt? Man sagt, dort leben Monster! Stimmt das?" "Aber ja." Deacon wollte etwas erwidern, zögerte aber dann. "Böse... Monster?"
"Aber ja." Wieder zögerte der Junge. "Aus welchem Blickwinkel betrachtet?"
"Ah" sagte Merho und lächelte. "Ah."
Dickflüssiger Kaffee perlte gemütlich durch die winzige Öffnung der Kanne und tröpfelte in die Tasse eines mindestens ebenso dicken und gemütlichen Mannes. Er saß an einem Tisch, umringt von mehreren anderen Männern, die gerade in eine Grundsatzdiskussion vertieft waren. Er nahm Notiz von einem der jüngeren Magier, der sich vehement widersetzte, seine Kräfte nur zu Demonstrationszwecken gegenüber den Novizen zu gebrauchen. Nickel schüttelte nachdenklich den Kopf. Er hob die Brauen, als er den Worten, die durch den Raum flogen, folgte. "Marcus" ließ sich einer der anderen, schon etwas betagteren Magier, vernehmen. "Es geht hier nicht darum, ein paar junge Großmäuler zu beeindrucken. Diese Schüler wurden auserwählt, um zu fähigen Magiern ausgebildet zu werden. Wie sollen sie etwas lernen, wenn du ihnen nicht zeigst, wie sie es richtig machen müssen?" "Sollten sie nicht erst die Theorie kennen, um mit der Praxis zu hantieren?" Die Antwort hörte Nickel schon gar nicht mehr. Seine Ohren hatten sich nach Innen gestellt und lauschten seinen eigenen Gedanken. Er machte sich Sorgen. Dieser junge Magus namens Marcus war vielleicht gefährlich. Zu schade. Er hätte es kommen sehen müssen, als er diesen Bengel noch unter seinen Fittichen hatte. Damals war der Junge noch feucht hinter den Ohren gewesen. Man hätte etwas aus ihm machen können. Jetzt war es dafür zu spät. Gewissensbisse plagten Nickel. Er fühlte sich an einen anderen seiner Schüler erinnert. Wie lange war es her? Zwanzig Jahre? Es kam ihm wie wenige Wochen vor. Auch dieser Novize hatte sich als herbe Enttäuschung entpuppt, als er sein Amt als ausbildender Magus angetreten hatte. Der Name schlich sich in Nickels Gedächtnis: Tanos. Er war ein so vielversprechender Schüler gewesen. Strebsam. Aufmerksam. Bereit, sein Leben der Magie zu widmen. Doch schon die ersten Wochen im Amt eines Magiers hatten gezeigt, wie unbrauchbar Tanos für diese ehrenvolle Aufgabe war. Er hatte... Ideen gehabt. Gefährliche Ideen. Und er hatte es nicht für nötig erachtet, sich an die Vorschriften zu halten. Überdies - wer so von dem Gedanken besessen war, der Magie ihren eigenen Lauf zu lassen, konnte nicht ganz bei Sinnen sein. Magie mußte bewacht und gelagert werden. Es wäre unverantwortlich gewesen, sie in der restlichen Welt einfach so... umherfliegen zu lassen. Das war schließlich die Hauptaufgabe eines Magiers - die Magie in sich aufzunehmen und somit harmlos für andere Bürger zu machen! Tanos dagegen hatte immer davon gesprochen, die natürlichen Rohstoffe der Magie zu nutzen... Nickel fragte sich, wo Tanos jetzt sein mochte. Normalerweise wurde kein Magier aus der Gilde ausgestoßen, egal, was er angestellt hatte. Ein unfähiger Magus bekam eine Aufgabe zugewiesen, bei der er sich und den anderen nicht gefährlich werden konnte *(Was ganz offensichtlich eine ziemlich dumme Vorgehensweise war, denn dadurch wurden ausgestoßene Magier dazu verleitet, ihre Magie erst recht entgegen der Regeln anzuwenden). Er mußte die Flure wischen oder Bücher archivieren, Lehrmittel sortieren oder Wache an Orten halten, an denen sich nie jemand zeigte. Es widersprach den Grundprinzipien der Gilde, ein unerwünschtes Mitglied unschädlich zu machen. Manchmal bedauerte Nickel, daß er nicht das Recht besaß, die Gildenregeln zu ändern...
Einer von den kleinen Behältern, in denen man verbrauchte Magie sammelte, wurde in die gelbe Tonne gekippt. Tanos rümpfte die Nase und wartete, bis der letzte Tropfen sich von der Dose gelöst hatte. Es gab sie erst seit ein paar Jahren. In jedem Stockwerk des Magierturms standen sie und warteten darauf, entleert zu werden: Gelbe, weiße und schwarze Tonnen.* (Weiße Tonnen für weiße Magie, schwarze Tonnen für Schwarze. Außerdem gab es noch eine stetig wachsende Anzahl von andersfarbigen Tonnen, von denen niemand mehr so recht wußte, wofür sie eigentlich gut waren, noch bevor der Antrag überhaupt genehmigt worden war. Das änderte jedoch nichts daran, daß man den Antrag bis zum bitteren Ende durchfocht)
Diese Entwicklung war offensichtlich an ihm vorübergegangen, ohne, daß er ein Wörtchen mitzureden gehabt hätte. Es war die Idee von ein paar Novizen gewesen, die entdeckt hatten, daß man aufgebrauchte Magie durchaus noch einmal aufbereiten und verwenden konnte. Natürlich hatte es Streit gegeben und letztendlich hatten sich die alten Magier durchgesetzt und veranlaßt, daß wiederverwertete Magie nur noch für Versuchszwecke genutzt werden durfte. Tanos hatte gelacht, als er davon erfuhr. Allein der Gedanke, Magie einzusperren, behagte ihm nicht im geringsten. Das war mitunter auch der Grund gewesen, warum er sich gegen die gängigen Lehrmethoden gestellt hatte. Tanos war ein notorischer Großdenker. *(Überall im Universum gibt es Leute, denen ihre Welt zu klein ist. Auf Turriculum zum Beispiel (ein Planet, der nicht größer als ein durchschnittliches Nilpferd ist) existiert ein Stamm, der immer darauf achten muß, saubere Füße zu haben, da die Bewohner, wenn sie sich nachts zum Schlafen hinlegen, damit rechnen müssen, daß die Zehen, auf denen ihr Kopf ruht, ihre eigenen sind. Auf dem Planeten Neova Teva hingegen, der hundertmal größer ist als unsere Sonne, haben sich mehr als tausend intelligente Lebensformen entwickelt, die es bis zur Erfindung des Rads gebracht haben, ohne sich jemals gegenseitig über den Weg zu laufen. Und Morgen für Morgen (obwohl es auf Turriculum ungefähr hundertvierundneunzig Millionen Mal Morgen wird, bis es Neova Teva geschafft hat, seine Masse einmal um sich selbst zu wuchten) erwachen auf diesen Himmelskörpern Personen, die sich denken: Wieso nur muß ich auf einem Planeten leben, der genauso klein und beschränkt ist wie seine Bewohner?) Er achtete die Welt im allgemeinen, war aber mit vielen Dingen im Besonderen unzufrieden. Es war nicht nur die Weise, wie ihn die Studenten ansahen, wenn er die schwarzen Tonnen zum Restmüll brachte und dort entleerte. Es war eher der Sinn des Lebens, der ihm zu schaffen machte. Er gab sich wirklich Mühe, positiv zu denken. Doch manchmal, wenn er einen der älteren Magier mal wieder dabei beobachtete, wie er versuchte, eine Suppe mit Hilfe von Magie zu erwärmen und sich dabei die Finger verbrannte... dann... dann ertappte er sich bei dem Gedanken, daß es vielleicht ein Fehler gewesen war, als der erste Affe vom Baum stieg, um nach dem brennenden Ast zu greifen... "Heda" erklang die Stimme von Landull, einem der Ältesten. "Stehst da faul rum und philosophierst über die Welt, was?" lachte er höhnisch und machte sich nicht die Mühe, dem Müllmann in die Augen zu sehen. "Sieh zu, daß du das Zeug wegschaffst." "Natürlich" murmelte Tanos und beeilte sich, die Tonnen davonzuschleifen.
Er war nur eine Gestalt unter vielen. Sein Gesicht wäre nur aus der Masse hervorgetreten, wenn man ihm eine rote Mütze aufgesetzt und eine Pappnase angeklebt hätte. Und vielleicht nicht einmal dann... Er war zu alt, um von anderen Leuten als echte Gefahr angesehen werden zu können. Die grauen Haare hatte er kurz geschnitten, seine Züge umspielte immer ein leichtes Lächeln. Er wirkte wie ein netter ältlicher Herr, der den Vögeln im Park Brotkrumen zuwarf und lange Spaziergänge genoß. Seine Größe und sein breites Kreuz verbarg er durch seinen leicht gebeugten Gang, und unter den weiten Kleidern, die er trug, fielen seine Muskeln nicht auf. Er nannte sich selbst Creeper. Er hatte sich alles, was er konnte, selbst beigebracht. Vielleicht war er deshalb so gut in allem, was er tat. Er hatte ganz einfach nicht die Möglichkeit gehabt, sich das fehlerhafte Verhalten anderer anzueignen. Creeper wandelte auf der Straße wie der sprichwörtliche Wolf im Schafspelz. Er beobachte, ohne beobachtet zu werden. Wenn er von einem Verkäufer angesprochen wurde, lächelte und nickte er freundlich und ging steten Schrittes weiter. Er blinzelte in die Sonne und erfreute sich an ihrer Wärme, während er den kalten Stahl spürte, der unter seinem Mantel verborgen war. Man konnte nicht von ihm sagen, daß er ein bösartiger Mensch war. Es brauchte Personen, die einen kennen, um so etwas zu behaupten. Und solche Personen gab es für Creeper nicht. Er hatte keine Freunde, jedenfalls keine, von denen er wußte. Und er hatte keine Feinde. Dessen war er sich sicher. Wer sein Leben in der Einsamkeit verbringt, lernt, mit sich selbst klar zu kommen. Creeper hatte den Weg, den er eingeschlagen hatte, niemals bereut. Er hatte wahrscheinlich mehr Zeit damit verbracht, sich selbst zu finden, als irendein Mönch in einem Kloster. Es war ein weitverbreiteter Fehlglaube, daß man dann am meisten über sich selbst erfährt, wenn man tief in sich geht. Wieviel Selbsterkenntnis man erlangen kann, wenn man gezwungen ist, stundenlang in einer schattigen Ecke zu sitzen, ohne einen einzigen Muskel zu bewegen, läßt sich nur nachvollziehen, wenn man es selbst einmal getan hat. Creeper hatte sein ganzes Leben damit verbracht, in dunklen Plätzen zu sitzen, und wie gut er darin war, zeigte allein die Tatsache, daß er noch lebte.
In einem Wettkampf um Reglosigkeit hätte ein Toter neben ihm wie ein Nervenbündel gewirkt. Wenn er das Wort Kontinentaldrift hörte, suchte er nach den Haltegriffen. Bei ihm bekam die Redewendung 'er war die Ruhe selbst' eine völlig neue Bedeutung. Jetzt trottete er gemächlich durch die Passanten und machte sich geistige Notizen zu seinem neuesten Auftrag. Grenzer hatte sich die sonderbare Figur genannt, die nichts außer einem Beutel voller Goldstücke zurückgelassen hatte. Er würde sich Informationen über diesen Grenzer einholen, sobald die Zeit reif dafür war. Im Moment mußte er sich um etwas anderes kümmern. Der Grenzer hatte ihm genaue Anweisungen gegeben, die Creeper nur zu einem geringen Teil verstanden hatte. Doch für den Anfang reichte dieses Wissen aus. Alles weitere würde er zu einem späteren Zeitpunkt erfahren, hatte der Grenzer ihm mitgeteilt. Creeper beugte seinen Rücken noch ein wenig tiefer. Die Menge umringte ihn. Er verschwand nicht in ihr. Er scharte sie um sich. Er war Teil der Menge...
"Ich möchte dir etwas zeigen" sagte Merho und verschwand hüpfend in den verschachtelten Gängen seiner Hütte. Als er zurückkam, trug er ein dickes Buch in den Armen wie ein Äffchen, das eine Kokosnuß an sich preßt.
"Siehst du?" fragte er, als er mit den Fingern die Linien nachfuhr, die den Titel des Buches bildeten.
"Dorf Jericho, im Jahre 342" las Deacon vor. "Eine alte Aufzeichnung" teilte ihm der Alte mit. "Sie verrät viel..."
"Über die Schattenwelt?" "Über die tatsächliche Schattenwelt." Merho nickte bedeutungsvoll. Seine Daumen blätterten durch die Seiten, und wenn Deacons Blick für den Bruchteil einer Sekunde auf einer von ihnen hängenblieb, war ihm, als besäße er plötzlich eine Erinnerung an etwas, das er nie erlebt hatte. "Ah" lächelte Merho. Offensichtlich hatte er die Stelle gefunden, nach der er gesucht hatte. Er schlug die Seite auf. Die Hütte verschwand, und mit ihr Deacons Körper. Alles wurde dunkler. Ein Schatten, der in der Ferne geschwebt hatte, wurde klarer. Es war ein Dorf. Ein Hauch der Dämmerung lag bereits über den Dächern, und die Häuser kamen näher. Sie - obwohl Deacon nicht sagen konnte, wo sie sich befanden - passierten eine Brücke und sahen ein Wirtshaus. Die Umgebung veränderte sich erneut, und als die fließenden Schatten stehen geblieben waren, wußte Deacon, daß die Geschichte sie in das Wirtshaus gebracht hatte. Mehrere Männer saßen an ihrem Stammtisch, jeder mit einem großen Krug Bier in der Hand. Ihre lauten, fröhlichen Stimmen hallten durch das Haus. Es herrschte gute Laune.
"Die Hexe hat es nicht besser verdient" sagte einer von ihnen, ein stämmiger Bär, der einen Urwald aus Haaren auf der Brust trug, in dem man ganze Plantagen von Drogen hätte anpflanzen können.. Er wischte sich mit dem Ärmel Schaum vom Mund und fokussierte seinen Blick auf die zwei Krüge in seiner Hand. Leichte Verwunderung zeigte sich auf seinem Gesicht, da er nur einen erwartet hatte. "Gebrannt hat sie... gebrannt..." "Sie hat unser Dorf vergiftet" beeilte sich ein anderer zu sagen. Seine langen, traurigen Züge zeugten von viel Qual, die er überstanden hatte. "Meine arme, kleine Tochter hat sie auf dem Gewissen..." "Ich dachte, deine Tochter sei ertrunken, als sie zwei Jahre alt war?" fragte einer der anderen.
Der Bär nickte so heftig, daß sein Bier überschwappte. Flecken gesellten sich zu früheren auf seinem Holzfällerhemd. "Die Hexe hat sie ertränkt!" "Aber sie kam erst viele Jahre nach diesem Unglück in unser Dorf" gab der Zweifler zu bedenken. Er schien nicht an seinem Leben zu hängen. Der stämmige Mann grunzte unzufrieden. "Na und?"
Ein vierter schlug seinen Krug auf den Tisch, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. "Hat uns wahrscheinlich schon lange im Auge gehabt, dieses Biest!" rief er. "Ist doch sonnenklar! Hat uns beobachtet und uns belauscht... von drüben..."
"Oh, ja..." brummte der Bärige und fletschte die Zähne. "Verdammte Schattenwelt... daher kommen sie doch alle..."
"Sie?" fragte der Zweifler und erntete einen vernichtenden Blick. "Sie. Diese... diese... Monster!"
Zustimmendes Murmeln am Tisch bestätigte diese These. Es konnte gar kein Zweifel daran bestehen, daß sie zutraf.
"Hexen, Kobolde... kommen alle aus der Schattenwelt und wollen uns unser schönes Leben zerstören!"
"Und immer müssen die kleinen Bürger etwas dagegen unternehmen!" fluchte der letzte der Runde, der sich bis jetzt zurückgehalten hatte. "Weil niemand sonst sich kümmert..." "Oh, ich weiß nicht, ob-" begann der Zweifler erneut, doch dieses Mal ließ der Mann im Holzfällerhemd ihn nicht ausreden. Ein Schwall Bier ergoß sich über seinen Kopf. Vor Schreck ließ er seinen Bierkrug fallen, der dem Unglücklichen, dessen Tochter von der Hexe ertränkt worden war, die Finger brach.
Der Zweifler, der genügend gesunden Menschenverstand besaß, um nicht blind in den Tod zu laufen, duckte sich und entging nur knapp einer fliegenden Faust. Der Schlag ging jedoch nicht völlig daneben. Er traf den Bären. Innerhalb von Sekunden flogen die ersten Stühle, und es dauerte nicht lang, bis Kerzen kippten und vergilbte Vorhänge entzündeten. Das Bild verschwamm und zeigte das Wirtshaus noch einmal von Außen. Flammen schlugen aus den Fenstern, und das Feuer fraß sich durch den Giebel bis ins Nachbarhaus... Ein leichtes Ziehen in den Schläfen beförderte Deacon in die Realität zurück.
"Jetzt hat dein Ausflug hierher sich doch noch gelohnt" sagte Merho. "Du hast soeben viel über die Schattenwelt gelernt."
Deacon öffnete den Mund. "Aber... aber... es war so offensichtlich falsch!" Merho schien nicht zu verstehen. "Was war falsch?"
"Alles was diese Bauern gesagt haben!" Deacon war außer sich. "Ich... ich..." Merho schüttelte den Kopf. "Es geschieht immer. Die ganze Zeit über." "Was geschieht?" "Die Schattenwelt. Sie schwappt über."
"Du willst mir doch nicht ernsthaft erzählen, daß diese Hexe, die in dem Dorf verbrannt wurde, tatsächlich aus der Schattenwelt kam!" "Einerseits - nein. Andererseits - ja." Perplex wartete Deacon, ob Merho ihm noch etwas mitzuteilen hatte, doch er schien es mit diesen Andeutungen auf sich zu belassen. Das kann nicht sein! dachte Deacon. Er kann nicht ernsthaft von mir verlangen, ihm zu glauben! Er weiß, daß ich der Separator bin und mehr über die Schattenwelt weiß, als daß ich solchen Unfug für wahr halten könnte! "Aber ja" sagte Merho und begann, sich einen Tee aufzubrühen.
"Aber wie-" "Ich muß dich bitten, meine kleine Hütte und mich jetzt zu verlassen."
"Einfach so?" Merho musterte den Knaben, der ein Mann sein wollte. "Natürlich einfach so." "Aber das kannst du nicht" protestierte Deacon empört. Merhos Miene verfinsterte sich. "Ach? Ich kann nicht? Zu dumm, fast wäre ich dem Irrglauben erlegen, dieses Haus gehöre mir. Ein Glück, daß ich jemanden habe, der mich eines Besseren belehrt."
"Aber wieso-" "Ich kann mich nicht erinnern, dir eine Genehmigung erteilt zu haben, mich in Frage zu stellen."
"Aber ich..." Deacon kniff die Augenbrauen zusammen und schnaubte verächtlich. "Nun denn... wenn du es so willst." Er öffnete die Tür und warf einen letzten Blick auf Merho. Dieser war vollauf mit seinem Tee beschäftigt und schien vergessen zu haben, daß er jemals einen Besucher gehabt hatte. "Hmm" sagte Deacon und schmetterte die Tür hinter sich zu.
Nickel schritt bedächtig einen der langen Flure der Zitadelle entlang, als er fast mit dem vergreisten Dung-Tsu zusammenstieß.
Nickel schüttelte den Kopf. Armer alter Kerl. Dung-Tsu war einst ein großartiger Magier gewesen, bis ein fehlgeschlagenes Experiment ihm den Verstand geraubt hatte. Seither wandelte er durch die Flure wie ein Geist. Nickel hatte das Gefühl, daß der Greis noch immer vieles verstand, und tatsächlich gab es Momente der Klarheit, während derer man sich völlig normal mit Dung-Tsu unterhalten konnte* (jedenfalls so normal, wie man sich mit einem Erwachsenen unterhalten kann, der wenige Minuten zuvor mit aufopferungsvoller Hingabe einen Löffel an die Wand geschlagen hat, um einen Geheimgang zu finden).
Nickel hielt inne, als er Dung-Tsu etwas vor sich hinbrabbeln hörte. Der Name Deacon und das Wort Besucher hatten seine Aufmerksamkeit erregt. Wenn es auch nicht viel gab, das den hohen Magus interessierte, so waren die Belange, die die Separatoren betrafen, doch die Ausnahme. "Dung-Tsu?"
Da der Greis sich nicht angesprochen zu fühlen schien, half Nickel mit einer leichten Berührung auf die Schulter nach.
Sofort ging Dung-Tsu in Abwehrstellung und lauerte in der Hocke, verfolgte jede Bewegung seines möglichen Angreifers...
"Ich bin hier, alter Freund." "Oh..." Dung-Tsu drehte seinen Kopf, doch die Augen wollten offensichtlich in eine andere Richtung blicken. Er klopfte sich zweimal gegen den Schädel, und schließlich waren die meisten seiner Sinne tatsächlich auf Nickel gerichtet. "Seltsamer Besucher..." murmelte er erneut, und kicherte in sich hinein. Der Magus stieß einen Seufzer aus.
"Was erzählst du da von einem Besucher, Dung?" "Besucher?" Dung-Tsu wartete einen Moment, bis seine Gedanken wieder aufgeholt hatten. Nickel stellte sich den Verstand des alten Mannes oft wie eine Hindernisbahn vor: Er dachte die richtigen Gedanken, und am Ende der Strecke wartete sogar ein Ziel. Doch leider blieben die Gedanken an jeder zweiten Hürde hängen, und manchmal kehrten sie auf halber Strecke um, weil sie am anderen Ende der Bahn etwas glitzerndes auf dem Boden entdeckt hatten. Dung-Tsu kaute auf seiner Zunge, bis der Geschmack ihm zu fad wurde. Plötzlich glomm ein Leuchten in seinen Augen, und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Die Gedanken hatten die letzte Hürde überwunden und soeben das Band vor dem Zieleinlauf zerrissen... "Ah, Besucher" sagte er. "Natürlich. Er war vorhin da. War es der Vater von Meister Deacon, vielleicht?" "Deacon hat keinen Vater mehr, mein Freund. Erinnerst du dich?"
Dung-Tsu testete diesen Gedanken aus, befand ihn für akzeptabel und nickte. "Dann Meister Deacons Großvater vermutlich..."
"Erzähl mir, wer war dieser Besucher?" "Oh, er hat gefragt, wo Meister Deacon ist. Er hat sich Sorgen gemacht. Ich habe ihm gesagt, Meister Deacon ist auf einer langen Reise... das stimmt doch, oder?" Der Greis runzelte die Stirn, als er sich zu erinnern versuchte. "Mehr wollte er nicht? Wer war er?"
"Er hat gesagt, er würde später wiederkommen, um Deacon zu besuchen. Ah, und er hat gefragt, wo Meister Thamis ist..."
Nickel atmete schwer. "Thamis?" "Ja, Meister Thamis..." Ein zufriedenes Lächeln umspielte Dung-Tsus Lippen, als er an den Jungen dachte. Von all den Novizen brachte Meister Thamis ihm den meisten Respekt entgegen und hatte immer eine kleine Süßigkeit für ihn in der Tasche... "Was hast du ihm gesagt?" "Ich habe ihm gesagt, wo er Meister Thamis finden kann. Den zweiten Flur links, habe ich gesagt, und von dort aus nur noch gerade-" Das Geräusch von Nickels Schritten verhallte auf dem Flur. Der mächtige Umriß wurde kleiner und verschwand hinter der nächsten Ecke. Aus verständnisvollen Augen sah der Greis ihm nach. "Verdammt!" murmelte Tanos, der bei den schwarzen Tonnen stand und das Gespräch belauscht hatte. Dann nahm auch er die Beine in die Hand und setzte Nickel nach. Der Magiebeutel, den er in der Hand gehalten hatte, klatschte zu Boden und breitete seinen Inhalt über den Fliesen aus*. (Später am Tag würden ein paar Novizen eine unliebsame Begegnung mit halbverbrauchter Magie haben, die sich in Form von spontanen Regengüssen innerhalb des Gebäudes manifestierte. Doch zu diesem Zeitpunkt war Tanos schon längst nicht mehr in der Zitadelle.)
Shayne löste die Verkleidung von den Steinen und betrachtete sein Werk. Ein Tunnel bot sich ihm dar. Obwohl...
... den schwarzen Gang, der sich durch die Eingeweide der Erde schlängelte und knapp unter der Oberfläche endete, als Tunnel zu bezeichnen, wäre so, als würde man behaupten, ein Salat wäre eine Mahlzeit. Manche Leute mochten einen Teller angefüllt mit Blättern und Obst durchaus als vollwertiges Essen ansehen. Doch es kommt immer darauf an, welchen Maßstab man anlegt... Es hatte Shayne fünf Jahre gekostet, den schmalen Gang zu graben. Der Gedanke an eine Flucht war ihm schon gekommen, als die anderen Kinder noch das Lesen gelernt hatten, doch mit der Verwirklichung konnte er erst beginnen, nachdem er sein endgültiges Quartier erhalten hatte. Jetzt war er fertig, doch trotzdem hatte er es noch nicht übers Herz gebracht, zu fliehen. Eigentlich hätte er den Tunnel gar nicht benötigt. Shayne war in jeder Hinsicht so gut ausgebildet, daß er die Wachen ohne weiteres überwältigen konnte. Sie waren einfach nicht gut genug. Es wäre ein ungleicher Kampf gewesen, da Shayne diese seltsame Begabung hatte, die Gedanken seiner Mitelfen zu lesen. Wenn es zu Auseinandersetzungen kam, konnte man Shayne mit einem falschspielenden Kartenspieler vergleichen: Er wußte, welchen Zug der Gegner als nächstes machen würde; er konnte in ihre Karten sehen. Das bedeutete jedoch nicht, daß er diese Fähigkeit immerzu benutzte. Es strengte an, die verworrenen Gedankengänge einer anderen Lebensform zu empfangen. Das meiste, was man erhielt, war belanglos. Niemand bekam gerne mit, wie das Gehirn verschiedenen Organen gerade mitteilte, was sie zu tun hatten. Es kam darauf an, zu filtern. Das war der wirklich schwierige Teil, und Shayne hatte mehrere Jahre gebraucht, um es zu erlernen. Deswegen war der Dunkelelf die meiste Zeit über ein völlig normaler Junge, wie alle anderen Bewohner dieses Gefängnisses auch. Es war eine unwesentliche Veränderung im Bewußtsein, die eine wesentliche Veränderung der Realität darstellen konnte. Man mußte nur wissen, wie man es wieder abstellen konnte, bevor man verrückt wurde. Die Wand war noch immer da. Ohne sich überwinden zu können, die Flucht anzutreten, brachte Shayne die Verkleidung wieder an und setzte sich vor sie. Er starrte sie an und hatte das Gefühl, sie würde zurückstarren. Sie war Freund und Feind zugleich. Wenn er den Schritt wagte, dann gab es kein Zurück mehr. Er hatte noch niemals die Welt außerhalb der Schulmauern gesehen. Er wußte aus Büchern und Erzählungen, wie Bäume oder Tiere aussahen, doch ebensogut hätte man jemandem, der noch nie in den Genuß von Zucker gekommen ist, erklären können, wie Schokolade schmeckt. Shayne stand auf und schritt in seinem kleinen Raum auf und ab. Er wußte sehr wohl, wie wichtig sein Leben war und wieviel davon abhing. Nur hatte er im Moment völlig andere Sorgen. Wieder fiel sein Blick auf die Wand...
Worte waren wie Flüsse. Irgendwo gab es eine winzig kleine Quelle, aus der ein Bach entsprang. Doch die Buchstaben mehrten sich, wurden zu einem Strom, und bald hatte man ein ganzes Meer voller Worte, das darauf wartete, gelesen zu werden. Und je tiefer man das Meer auslotete, desto seltsamer wurden die Geschöpfe, die darin lebten.
Thamis war fasziniert davon, wie einfach es war, Dinge zu erschaffen. Er setzte die Feder auf das Papier und begann zu schreiben. Sofort füllten Worte das Blatt wie Lebewesen, die sich auf einem Kontinent ausbreiteten. Der Vergleich hinkte nicht: Auch Worte waren etwas lebendiges. Sobald man es zuließ, daß sie sich vermehrten, entwickelten sie ein Eigenmoment, und es war unmöglich, zu sagen, wie sie sich entwickeln würden. Worte durchliefen eine Evolution.
Liebevoll, wie ein Vater, der sein Kind in den Armen schaukelt, streichelte Thamis über sein Tagebuch und klappte es zu. Er sehnte sich nach Wissen. Die Zitadelle hielt zwar viele Bücher bereit, doch sie waren alle nur auf ein Thema gerichtet: Die Magie. Thamis sehnte sich nach Schriften, die von Leuten verfaßt worden waren, die mehr... nun, ihm ähnelten. Leute, die gern schrieben und lasen, nicht, um Fakten aufs Papier zu bannen, sondern ganz einfach um des Schreibens selbst willen.
Er seufzte. Wie lange würde er es hier noch aushalten? Sein Bruder Deacon hatte sich längst vom geregelten Leben der Magiergilde verabschiedet und zog durch die Welt. Doch Thamis hatte Angst, daß er einem solchen Leben nicht gewachsen wäre. Man mußte abenteuerlustig sein, und durfte sich nicht kümmern, auch einmal in einem Bett voller Flöhe zu schlafen.
Das bedeutete nicht, daß Thamis nicht ebenfalls erlebnisfreudig gewesen wäre. Doch seine Abenteuer fanden in seinem Kopf statt. Er konnte es sich bildlich vorstellen, wie es war, wenn man durch den Dschungel des Manigani-Landes watete. Er mußte nicht dort sein, um diese Erfahrungen zu machen. Er war sich im Klaren darüber, daß er einer dieser Menschen sein mußte, denen anscheinend jemand das Wort Verlierer quer über die Brust tätowiert hatte. Jemand wie er würde niemals richtige Freunde finden, geschweige denn eine Freundin. Nichtsdestotrotz hatte er eine Freundin, die er von ganzem Herzen liebte: Die Fantasie. Fantasie ist etwas wundervolles: Sie ist eine Erinnerung an etwas, das man gar nicht erlebt hat. Gut, Erfahrungen mit ihr mögen nicht so intensiv sein wie reales Erleben, das auch die Sinne mit einschließt, aber reales Erleben hingegen geschieht auch nur ein einziges Mal. Der Rest spielt sich im Kopf ab. Vielleicht machte das Thamis sogar glücklicher als andere Leute. Sie mußten immer wieder Geld und Zeit aufwenden, um einen kleinen Moment erleben zu dürfen, der schon kurz darauf wieder vergangen war, und bloß die Gedanken daran blieben. Im Prinzip war Fantasie genauso, bloß ohne die erste Phase des realen Erlebens. Dafür konnte Thamis den erstrebenswerten Moment wieder und wieder erleben, so oft er wollte...
Es klopfte an der Tür. Wie lange noch, fragte sich Thamis. Wie lange werde ich noch hier festhängen?
Er verstaute sein Tagebuch sorgfältig im Schrank und öffnete. Ein Mann stand ihm gegenüber. Er war alt, aber nicht verbraucht. Thamis hatte ihn noch nie gesehen. Eine schwarze Robe schenkte der Person Unauffälligkeit, doch sie schien Probleme mit der Haltung zu haben. Ihr Rücken war leicht gebeugt. Sie wirkte nett.
Thamis lächelte zuvorkommend. "Kann ich... dir helfen?" Der Fremde erwiederte das Lächeln und nickte.
Komischer alter Kauz, dachte Deacon, während er zwischen den Pfählen wanderte. Erst bittet er mich zu sich ins Haus, dann wirft er mich ohne viel Aufhebens wieder raus. Deacons Füße traten mißmutig ein paar Steine, schickten sie auf eine lange, hüpfende Reise den Berg hinab. Kann dieser alte Mann wirklich glauben, daß ich den Schwachsinn über die Schattenwelt für bare Münze nehme? Ich meine, nicht einmal Nickel würde für so einen Quatsch die Hand ins Feuer legen, und er ist jemand, der eine neue Idee willkommen heißt, wenn es auch nur eine winzige Seite an ihr gibt, die ihm zum Vorteil gereicht.
Je länger Deacon über seinen Besuch bei dem Alten nachdachte, desto seltsamer erschien ihm alles. Vor allem der Gedanke, Geschichte in Büchern festzuhalten, und zwar nicht auf die übliche Art... Er warf einen letzten Blick über die Schulter. Mit all den Pfählen wirkte der Rücken des Berges wie ein Igel. Das Pochen seiner Schritte hallte in seinem Kopf wider. Die Pfähle...
Deacon blieb stehen und fluchte. Er rannte die Kuppe hinauf und begann, gegen die Tür zu hämmern. "Ich habe es, Merho! Die Pfähle!" Er holte tief Luft. "Es ist wie mit den Pfählen." Er wartete einen Augenblick, und fast dachte er, daß der Alte nicht mehr aufmachen würde. Gerade, als er die Hand zum zweiten mal hob, wich die Tür nach hinten.
Das runzlige, schwarze Gesicht von Merho kam zum Vorschein. "Ah" sagte der bloß. "Der Junge hat nachgedacht."
"Es ist eine Metapher, nicht wahr? Die Pfähle... der ganze Unsinn, daß du sie bräuchtest, um dein Rheuma zu lindern... alles gelogen." "Alles ist eine Metapher" sagte Merho. "Du hast gesagt, du hättest so viele Pfähle, weil du es magst, verschiedene Aussichten zu genießen!" Der Alte nickte zustimmend. "Verschiedene Aussichten... so wie... Blickwinkel."
Jetzt lächelte Merho, als er nickte. "Das ist es, nicht wahr? Darauf wolltest du hinaus, als du sagtest, ich hätte viel über die Schattenwelt gelernt. Du hast mir nicht die echte Schattenwelt gezeigt! Du wolltest mir nur begreiflich machen, daß die Schattenwelt... nein, eine Schattenwelt... in unseren Köpfen ist!" "Ah, und schon wieder hast du etwas gelernt."
"Ja" sagte Deacon aufgeregt. "Ich verstehe jetzt, wie du es meintest, daß die Schattenwelt ständig zu uns herüberschwappt..."
"Nun, du solltest erst einmal hereinkommen und dir einen Tee genehmigen, bevor wir weitersprechen" grinste Merho und entblößte blendend weiße Zähne, die in seinem Gesicht wie ein schwarzes Loch wirkten, nur umgekehrt.
"Nein, danke" lehnte Deacon höflich ab. Er konnte dem Alten schließlich nicht seinen Tee wegtrinken.
"Keine Sorge. Ich habe für zwei Personen aufgebrüht." Der junge Magier legte den Kopf schief. "Aber du wußtest doch gar nicht..." Eine Welle des Schmerzes raste durch seinen Schädel und hämmerte in sein Gehirn. Ein Zeitalter der Agonie brach an und dauerte eine Ewigkeit. Pein, quälende Finsternis, ein Leben in Einsamkeit. Furcht, Angst und Haß strömten gleichzeitig auf ihn ein, hinterließen Furchen in seiner Seele und verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren. Alles, was er noch fühlte, war Leere. Die allumfassende Schwärze, die ihn umgab, verwandelte sich nach und nach in das ernsthaft besorgte Gesicht von Merho. Deacon spürte, wie Wasser an seinen Mund geführt wurde, und gierig schluckte er es.
"Was ist geschehen?" fragte der alte Mann. Deacon wollte antworten, doch sein Mund blieb stumm.
"Du bist ohne Grund umgekippt." "Mein Bruder..." flüsterte Deacon. "Er ist tot."
Rufus langweilte sich. Er war einer der höheren Götter und hatte es nicht verdient, hier unten Dienst schieben zu müssen. Der kleine Raum ödete ihn an. Sein Blick wanderte auf die Uhr, die er am Handgelenk trug. Es dauerte noch Stunden bis zur Götterdämmerung! Da gerade sowieso niemand hier war, bemühte er sich, seinen athletischen Körper ein wenig in Form zu halten. Er war ein recht junger Gott und zählte vielleicht gerade einmal tausend Jahre. In seinem Alter hatte man dafür zu sorgen, frisch und knackig auszusehen. Schließlich sollten Abbilder und Statuen ja eine entsprechende Eleganz aufweisen.
Er betrachtete seinen trainierten Körper in einem Spiegel und winkelte einen Arm an. Muskeln glänzten ölig. Dies würde bestimmt ein wunderbares Portrait von ihm abgeben, wenn er doch nur nicht an diesem gottverlassenen Ort sein müßte.
Es gab wirklich genügend andere Orte, an denen sich ein Gott aufhalten konnte. Ein Besuch in einem Tempel wurde von den Gläubigen immer gern gesehen. Man manifestierte sich schnell als hünenhafte Statue, wankte ein wenig herum, zertrat ein paar Leute und achtete darauf, daß es am besten die Anhänger einer anderen Gottheit waren.
Das Götterdasein konnte wirklich Spaß machen. Rufus war der Gott der körperlichen Ertüchtigung, egal in welcher Hinsicht. Körperliche Ertüchtigung wurde zwar schon praktiziert, seit das erste lebende Wesen entdeckt hatte, daß es auch noch ein anderes Geschlecht gab, allerdings hatte man nicht sofort angefangen, dies als heilig zu verehren.
Dieser Raum war häßlich. Es gab nicht einmal etwas zum Lesen außer diesem schrecklich dicken Buch, das auf einem kleinen Schreibtisch lag und darauf wartete, geöffnet zu werden. Der Gott setzte sich auf einen kleinen Drehstuhl, der auch schon bessere Tage gesehen hatte, und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Eigentlich war dies der Job eines Hausmeisters. Aber da es nun einmal keinen Gott der Hausmeisterei gab, wurde im jährlichen Turnus durchgewechselt. Da saß er nun, an der Pforte zwischen Leben und Tod, und wartete auf seinen ersten Kunden. Eine kleine Glocke bimmelte und kündigte an, daß dieser bereits auf dem Weg war. Rufus nahm eine gerade Haltung ein und ließ aus reiner Gewohnheit seine Muskeln ein wenig spielen. Ein Mensch kam durch die Tür und blickte hilflos drein. "Oh, ich..." murmelte er und blickte sich um. "Wo bin ich hier?"
Ein strahlend weißes Lächeln blitzte ihm entgegen. "Dies ist der erste Tag vom Rest deines Todes" sagte Rufus aufmunternd und streckte ihm die Hand entgegen. Auch wenn es ein öder Job war, mußte man sich um potentielle Kunden kümmern. Immerhin kehrte dieser Mensch möglicherweise in einer Reinkarnation auf die Welt zurück, und dann würde es sich auszahlen, wenn er dem großen Gott Rufus die Hand geschüttelt hatte... "Ich bin tot?"
"Gib bloß nicht mir die Schuld" wehrte Rufus ab. "Sieh es locker: Das ist doch keine Tragödie."
"Was mache ich denn hier?" Der Mensch sah sich in dem langweiligen Raum um und trat von einem Fuß auf den anderen.
"Nun, wir Götter nennen es die Pforte." Seine Hand deutete auf ein schwarzes Tor, das in die hintere Wand eingelassen war. Ein paar düstere blaue Wirbel spielten darin und verzwirbelten sich. "Du wirst sie durchschreiten." "Wohin führt sie?"
"Das kommt ganz darauf an. Kraft meines Amtes und gemäß Paragraph soundso bin ich dazu verpflichtet, dich in das Jenseits zu befördern." "Soll ich einfach durchgehen?"
"Nicht so hastig, junger Freund. Erst noch ein wenig Schreibkram, so leid es mir tut. Du bestimmst übrigens dein weiteres Schicksal im Jenseits selbst, aber dazu kommen wir später. Wie heißt du?"
"Thamis. Ich bin Magier" fügte er unsicher hinzu.
"Du warst Magier. Nur Thamis?" "Thamis Blau."
Rufus notierte den Namen im schrecklich dicken Buch und blätterte ein paar Seiten weiter.
"So, und nun hierzu." Er hielt einen Finger auf einen Absatz, der besonders fett hervorgehoben war. "Ich werde dir nun eine wichtige Frage stellen. Je nachdem, wie du antwortest, wird sich das auf deinen Tod auswirken. Besser gesagt darauf, was dich noch alles erwartet. Du solltest dir also gut überlegen, was du sagst." Der Gott überflog die Zeilen schnell und blickte dann skeptisch auf. "Warst du ein General oder ein Feldwebel oder etwas in der Art?" "Das ist die Frage?"
"Ähm, nein. Aber wäre sie es gewesen, dann hättest du jetzt schon mal falsch geantwortet. Nun?"
"Ich sagte ja schon, ich bin Magier..." Rufus studierte den Text noch einmal und gab grübelnde Laute von sich. "Irgendwelche Erfahrungen im Kampf? Wärst du gern Krieger geworden?" "Nein."
"Tja, dann habe ich keine Ahnung, was diese Frage hier soll. Muß ich dir ganz ehrlich gestehen. Aber Arbeit ist Arbeit, sage ich immer." "Wie lautet denn die Frage nun?" Thamis wurde langsam ungeduldig.
"Ah, gut. Also, ich zitiere: Du bist ein Heerführer und fliehst mit hundert Soldaten vor einer riesigen Übermacht von Feinden. In einer Schlucht gibt es zwei Wege, denen du folgen kannst: Wählst du den linken, werden fünfzig deiner Soldaten sterben, doch die andere Hälfte wird sicher und unbeschadet überleben. Wählst du den rechten, werden mit gleich großer Wahrscheinlichkeit entweder alle deiner Männer sterben oder überleben. Für welchen Weg entscheidest du dich?"
Thamis zögerte nicht lange, bevor er antwortete: "Ich glaube, ich würde den linken nehmen."
"Ah, eine gute Wahl" sagte Rufus. Das Portal schimmerte in einem hellen grün und zog Thamis wie magisch an. "Ich wünsche dir noch viel Glück auf deinem weiteren Weg!" Thamis versuchte, so etwas wie Angst zu verspüren, doch sein Geist ließ solche Gefühle nicht mehr zu. Er trat in den Rand der Pforte und wurde sogleich von ihr verschluckt. "Eigentlich war es gar nicht so schwer" murmelte Rufus und blickte auf den Torbogen, in dessen Innern die Farben sich wieder ins Schwarze färbten.
Tanos sah die anderen Magier vor Thamis' Raum stehen und diskutieren. Wenn es ein Herz gab, das so schwer wiegen konnte wie Blei, dann war es seines, in eben diesem Moment. Er biß sich auf die Lippen und verringerte seinen Abstand so unerheblich, daß ihn niemand bemerkte. Blut pochte ihm in den Ohren, doch trotzdem konnte er verstehen, was gesprochen wurde. "Eine Katastrophe" sagte ein Magus. "Wir waren zu unachtsam" seufzte ein zweiter. In seiner Stimme schwang eine Ahnung von Panik mit. "Wir hätten ihn besser trainieren sollen, wir-" "Wir können es nicht ändern!" grollte Somtos, der höchste der Magier. Sein langes weißes Haar fiel ihm über die Stirn und verdeckte seine Augen. Tanos vermutete, daß er froh darüber war. "Wir müssen etwas tun" ließ sich Nickel vernehmen. Er stand im Türrahmen, so daß Tanos der Blick in das dahinterliegende Zimmer verwehrt blieb, so weit er sich auch streckte. Vielleicht war es besser, nicht hineinsehen zu können.
"Hat jemand gesehen, wer es war?" verlangte Somtos zu wissen. "Irgendjemand?" "Durchaus..." stammelte Nickel und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. "Dung-Tsu hat mit ihm gesprochen. Er war es, der dem Fremden erzählt hat, wo Thamis zu finden ist..." Somtos schien innerlich zu erbeben. Seine Hände rangen mit seinen Gefühlen, waren aber unterlegen. Er stieß wütend die Luft aus. "Der alte Narr!" Er zog einen weiteren, noch schlimmeren Gedanken aus seinem Versteck und zwang ihn heraus: "Wo ist Deacon?" Ein kleiner Kreis bildete sich um Nickel und rückte unmerklich nach hinten. Nickel hatte als erster das Wort ergriffen und mit Somtos geredet. Also war es ganz offensichtlich seine Aufgabe, dies auch weiterhin zu tun. Nickel schloß die Augen, als er zugab: "Wir wissen es nicht." Das befürchtete Unwetter blieb aus. Er wagte es, den obersten Magier anzusehen. "Der Separator ist also völlig ahnungslos - und völlig schutzlos - irgendwo?" Somtos hatte ein Tal betreten, das weit hinter dem Zorn lag. Es war umringt von hohen Gebirgen, und über dem Tal strahlte eine Sonne ihr herzlichstes Lachen. Hinter den Bergen wartete unendliche Finsternis darauf, überzuschwappen.
"Er ist intelligent und kann auf sich selber achtgeben. Ihm wird nichts zustoßen." Nickel wanderte auf dem schmalen Grat zwischen dem Tal und ewiger Verdammnis. Gerade eben wurde ihm bewußt, daß er nicht die besten Schuhe zum Wandern angezogen hatte. Somtos lächelte. "Hoffentlich habt ihr das dem Mörder auch mitgeteilt. Dann wird er sich vielleicht gar nicht erst auf den Weg machen." Nickel spürte die Steine unter seinen Füßen bröckeln. Er riskierte einen Blick in Somtos Augen. Der Abgrund, der sich dahinter auftat, hatte keinen Boden. Wenn er stürzte, würde er keinen Halt mehr finden.
"Ich werde... mich darum kümmern. Es werden... Maßnahmen ergriffen. Auf der Stelle." Nickel wollte sich zum Gehen wenden, als eine Hand ihn zurückhielt. Es war die Hand, die ihn aus dem Abgrund zog. "Sieh zu, daß Deacon nichts geschieht. Dies geht uns alle etwas an." Tanos sah, wie Nickel zitternd in sich zusammenfiel, nachdem der oberste Magier gegangen war. Er brachte es fertig, einen raschen Blick in Thamis' Zimmer zu erhaschen. Eine Sekunde später ließ er sich sein Frühstück nochmal durch den Kopf gehen.
Der Übungsplatz für das Bogenschießen war an diesem Morgen wie leergefegt.
Shayne machte sich nicht einmal die Mühe, zu zielen. Das änderte jedoch nichts daran, daß er besser war als die einzige andere Person, die noch auf dem Platz stand. "Du bist schon lange hier auf der Schule" erwähnte Shayne wie beiläufig und ließ die Sehne des Bogens mit einem Schnalzen los. Der Pfeil zischte durch die Luft und blieb mit einem unangenehmen Geräusch in der Scheibe stecken. "Länger, als du sein müßtest." Der Schüler, der sorgsam darauf bedacht war, nicht aus der Konzentration zu geraten, nickte angestrengt. Shayne musterte ihn. Er war ein etwas gedrungener Elf, wie man sie oft bei Verbindungen zwischen Menschen und Dunkelelfen sah. Ihre Geschicklichkeit konnte es bei weitem nicht mit der eines echten Elfen aufnehmen, doch dafür besaßen sie mehr Muskeln. Herm, so hieß der Schüler, hatte wahrscheinlich einen menschlichen Großvater oder Urgroßvater. Für einen Halbling waren seine Züge zu elfisch. Üblicherweise vereinigte ein Kind zweier Völker die besten Eigenschafter derselben. So gab es eben Halblinge mit der Geschicklichkeit von Elfen und der Kraft eines Menschen, oder welche, die so klein und stämmig waren wie Zwerge, und so widerstandsfähig wie ein Ork.
Bei Herm schien genau das Gegenteil der Fall zu sein. Der arme Kerl hatte ausschließlich die schlechten Eigenschaften seiner Eltern geerbt. Sein Gesicht wirkte wie eine Maske des immerwährendens, etwas dümmlichen Staunens in der leidlichen Anstrengung, schlank zu sein. Seine Haut wollte den Dunkelelfen nacheifern und die Farbe des Ebenholzes annehmen, kam aber nur bis zu einem gelbbraunen Ton, der alles andere als natürlich war. Wenn man mit einer solchen Hautfarbe im Wald untertauchen wollte, mußte man zuerst die Bäume streichen. Herms Muskeln waren zwar vorhanden, doch nicht an den richtigen Körperpartien. Er besaß keinen nennenswerten Bizeps, aber dafür hatte er Unterarme, die einem berühmten Seemann das Wasser reichen konnten. Er war zweifellos geschickt, wenn man den Maßstab eines Betrunkenen anlegte. Seine Augen befanden sich auf unterschiedlicher Höhe, was die Natur dadurch auszugleichen versuchte, daß sie ihn schielen ließ. Wenn Herm das Bogenschießen übte, traf er oft die Mitte der Zielscheibe - auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes.
Shayne war sich sicher, daß im Moment tausende von höchst intelligenten Gedanken durch Herms Gehirnwindungen rasten. Nur leider dachte jeder von ihnen am anderen vorbei, und selbst wenn sie zu einem einigermaßen erfreulichen Ergebnis gekommen wären, Herm wäre nicht in der Lage gewesen, nach ihnen zu greifen.
"Ich bleibe hier, bis ich die Prüfungen geschafft habe" sagte Herm stolz und sah Shayne mit einem so freudigen Grinsen an, daß dieser nicht anders konnte, als zu seufzen. Er wußte, daß dies eine Eliteschule war, in der nur die besten eine Chance hatten. Doch es gab immer ein paar reiche Elfen, die ihrem Kind die teuerste Ausbildung zukommen lassen wollten, die es nur gab - auch wenn ihr Kind dies gar nicht wollte. "Sie lassen dich an den Prüfungen teilnehmen?" Allein der Gedanke daran verursachte Shayne Magenkrämpfe. Wer jemanden wie Herm in einen der Übungsräume schickte, mußte entweder ein eiskalter Mörder sein, oder er wollte der Welt einen großen Gefallen erweisen. "Noch nicht..." sagte Herm tonlos, doch sofort spiegelte seine Miene Fröhlichkeit wieder. Shayne konnte dies fast mit Sicherheit an dem leicht gewölbten Mundwinkel und der zuckenden Augenbraue erkennen. "Aber sie sagen, ich wäre bald soweit." "Ah" machte Shayne und nickte aufmunternd. "Ja." Herm schenkte dem Dunkelelfen einen Mund voll strahlend gelber Zähne. "Dann solltest du schön üben - immerhin wirst du bald die Prüfungen machen müssen!" Shayne wandte sich wieder seinen eigenen Problemen zu. Der Pfeil, den er auf die Sehne gelegt hatte, wartete noch immer darauf, ins Ziel geschossen zu werden. Er legte an, fixierte sein Ziel... Ein Surren durschnitt die Luft. Shayne spürte einen Luftzug knapp an seinem Hinterkopf vorbeihuschen und sein Ohr vernahm das Geräusch eines Pfeils, der sich in die Wand bohrte, neben der er stand. Sein Gehirn befand sich nicht in der Lage, diesen Laut zu deuten, denn es hatte vor Schreck alle Verbindungen zur Außenwelt getrennt. Nachdem Shaynes Sinne sich getraut hatten, den Kontakt zueinander wieder herzustellen, betrachteten sie gemeinsam den Pfeil, der nur einen Zentimeter neben dem Elfen in der Wand steckte. Langsam drehte Shayne sich um. Herm hatte die Lippen zu einer Art schuldigem Grinsen verzogen. Die Tatwaffe ruhte noch immer in seinen Händen. Es wird wirklich Zeit, hier den Abflug zu machen, dachte Shayne. Allerhöchste Zeit...
Creeper schrubbte seine Hände mit Seife. Er haßte unsaubere Aufträge. Wenn es etwas gab, das er nicht sehen konnte, dann war es Blut. Er betrachtete sich als einen Meister des blutlosen Kampfes. Natürlich hatte er gewußt, daß sein Auftrag keine gewöhnliche Person war. Doch dieser Junge... er hatte... Fähigkeiten besessen. Er war hartnäckiger gewesen als ein Steinchen, das sich im Schuh festgetreten hat. Der Junge war gut gewesen. Wirklich gut. Er hätte es beinahe geschafft, ihm den Arm zu brechen. Creeper hatte dies zwar verhindern können, aber allein die Tatsache, daß er es fast geschafft hatte, unterschied ihn von allen bisherigen Opfern. Der Assassine hatte sich nicht des Eindrucks erwehren können, daß den Jungen eine seltsame Aura des Schutzes umgab. Letztendlich hatte all die Gegenwehr natürlich nichts genutzt, aber dennoch... die Leistung war beachtlich. Creeper schlenderte zu seinem Arsenal und verstaute die Waffen, die er mitgenommen hatte, fein säuberlich in Regalen und Kästchen oder hängte sie an Halterungen in der Wand. Eigentlich hielt er nichts davon, Waffen zu benutzen. Sie waren unelegant, und sie waren meist dafür gefertigt, daß man mindestens ein Ende von ihnen in den Gegner bohrte, was so gut wie immer zu einer wirklich großen Schweinerei führte. Blut ließ Spuren zurück. Und, was noch viel schlimmer war: Fragen. Wenn die Leute eine ermordete Person in einer großen Blutlache vorfanden, begannen sie nach dem Mörder zu suchen. Man sprach dann von einem Schlächter, der seine Opfer auf bestialische Weise zerstückelt, und ähnliches.
Ein guter, sauberer Genickbruch hingegen, den das Opfer nicht einmal spüren mußte, war vielmehr ein Kavaliersdelikt. Man mußte ihn gar nicht bemerken, oder seine Spuren verwischen. Das wurde einem abgenommen. Die Gesellschaft war gut darin, sich selbst zu belügen. Er ist die Treppe hinuntergestürzt, hieß es dann. Oder der arme Kerl war im Bad ausgerutscht und unglücklich gefallen... Creeper konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß es einen Wächter gab, der beim Anblick eines dreigeteilten Mannes, der inmitten eines Chaos aus verwüsteten Möbeln lag, sagte: "Hm. Wahrscheinlich hat er den Kartoffelschäler falsch bedient"* (obwohl die Statistik einwandfrei belegt, daß die meisten Unfälle im Haushalt geschehen. Creeper hatte Kartoffelschälern noch nie ganz über den Weg getraut...) Dann gab es noch Gift. Gift war eine saubere Alternative, doch irgendwie war sie zu... unpersönlich. Creeper hielt einen Mord für eine Angelegenheit zwischen dem Opfer und dem Mörder, und seiner Meinung nach verdiente ein gutes Opfer auch eine angemessene Behandlung. Wenn man erst einmal mit einer solchen Sache wie Gift anfing, dauerte es nicht lang, bis man auf die Idee kam, den Leuten Pakete mit explosivem Inhalt zu schicken. Der Gedanke an sich war nicht schlecht, doch Creeper mangelte es an genügend ortographischer Erfahrung für seine Ausführung, und es wäre zu gewagt gewesen, das Paket selbst abzuliefern. Deshalb verließ er sich hauptsächlich auf seine jahrelange Erfahrung, und, wenn die nicht reichte, auf die Waffen, die er beim jeweiligen Auftrag mit sich führte.
Er zuckte nicht im Geringsten zusammen, als er ein Geräusch in seinem Rücken vernahm. Das Blatt eines Breitschwertes, das vor ihm hing, spiegelte nur graue Schlieren an der Stelle wieder, wo Creeper seinen Gast vermutete. Er wandte sich ihm zu.
Der Grenzer hatte die Hand an ein Kinn gelegt, das unter der Kapuze verborgen war. Ein Kratzen ließ darauf schließen, daß er mit den Fingern über Bartstoppel strich. Da er keine erkennbaren Augenbrauen besaß, die er fragend nach oben ziehen konnte, ging Creeper davon aus, daß dies das Äquivalent dazu war. Einer von dreien, ließ sich die Stimme aus den Schatten vernehmen. "Der andere befindet sich nicht in der Stadt" sagte Creeper. Wo ist er? Creeper fand es ein wenig seltsam, daß die Gestalt zwar wußte, wen er umbringen sollte, sich jedoch nicht im Klaren darüber war, wo diese Personen genau waren. Für ihn jedenfalls hatte es den Anschein, als würde dieser Grenzer sich überall manifestieren können. Warum also nutzte er nicht seine Macht und sah selbst nach, wo sich die besagten Personen befanden? Creeper wäre allerdings nie auf die Idee gekommen, dies laut auszusprechen. Er respektierte die Einstellungen seiner Auftraggeber und stellte sie niemals in Frage, solange die Bezahlung stimmte. Es gibt Orte, die für mich nicht... zugänglich sind. Creeper nahm sich vor, seine Gedanken in Gegenwart des Grenzers ab jetzt für sich zu behalten. Ich will dich nicht mit Erklärungen langweilen.
"Soll ich hier auf ihn warten oder mich auf die Suche nach ihm machen. Mir ist sein ungefährer Aufenthaltsort bekannt."
Weder noch. Du kannst dich um dieses... Problem später kümmern. Es gibt immer noch eine dritte Lebensform, die beseitigt werden muß."Du sagtest, sie befände sich in der Schattenwelt."Die Kapuze deutete ein Nicken an. "Wie soll ich also an sie herankommen?" Trägst du bei dir, was du benötigst?
Creeper bediente sich an seinem Arsenal. Für einen Laien hätte es den Anschein machen können, als wähle er willkürlich Waffen und Werkzeuge aus, doch in Wirklichkeit war der Unterschied so groß wie der zwischen Leben und Tod selbst.
"Ja." Die verhüllte Gestalt nickte erneut und zeichnete mit der Hand die Linien einer Tür in die Luft. Dort, wo ihre Finger entlangfuhren, glänzte ein silberner Faden wie von einem dünnen Spinnennetz. Sie deutete auf den Umriß.
Es gab keinen Raum hinter dem Faden, und auch kein ominöses Schimmern, das zwischen den imaginären Türstöcken gleißte. Es gab nicht einmal ein Geräusch oder ein paar verheißungsvolle Worte. Trotzdem verschwand Creepers Körper aus dieser Welt, als er durch die Tür trat.
"Dein... Bruder?" fragte Merho. "Ja. Ich kann es fühlen. Es ist, als wäre ein Teil von mir einfach... ausgelöscht worden."
"Du bist der Separator. Wie kannst du einen Bruder haben?" Deacon ließ den Kopf hängen. "Das ist eine lange Geschichte. Normalerweise gibt es nur einen Separator, da hast du Recht. Doch mein Vater, er war eine... besondere Person."
"So besonders, daß er die Naturgesetze mißachten konnte?" "Er war der erste Mensch, der es schaffte, ein Tor zur Schattenwelt zu schaffen. Jedenfalls hat man mir das erzählt." "Aber auch er ist nicht mehr am Leben, nicht wahr?"
"Er starb bei dem Versuch, auf die andere Seite zu gelangen." Der Tee war bereits kalt. Keiner der beiden hatte einen Schluck davon getrunken. "Ich muß zurück nach Snork" stellte Deacon fest. "Ich muß wissen, was geschehen ist. Die Antworten, die ich jetzt suche, kann ich nur in der Zitadelle der Farben finden. Ich danke dir für deine Gastfreundschaft." Merho tippte sich gegen die Stirn. "Ein kluger Mann sagte einmal, viele Antworten der Welt wären bereits ausgesprochen."
"Was bedeutet das?" "Daß du nicht mehr nach ihnen suchen mußt. Du brauchst nur die richtigen Fragen zu stellen."
"Soll das wieder eine deiner Metaphern sein? Ich bin jetzt wirklich nicht in der Stimmung für so etwas."
Merho schüttelte traurig den Kopf. "Dann geh. Wenn dies deine Aufgabe ist, dann werde ich dich nicht daran hindern, sie zu erledigen." Deacon zögerte. Er war schon zu oft auf den alten Mann hereingefallen, und jedes mal hatten sich seine Andeutungen als wahr erwiesen. "Nun, die Frage lautet: Warum ist mein Bruder gestorben?"
"Mh. Wäre ich an deiner Stelle, würde ich mich für eine andere Frage entscheiden..." Deacon zuckte die Achseln. Er war nicht dumm, doch in seinem Verstand herrschte ein heilloses Durcheinander. Es gab Gedanken, die ihm sagten, er solle trauern, und wieder andere, die ihn antrieben, sofort aufzubrechen. Tief in den Ecken seines Geistes gab es auch noch Stimmen, die ihm rieten, auf den alten Mann zu hören, doch dies alles vermischte sich so sehr... Er hatte ein Wollknäuel aus tausend verschiedenen Farben und Fäden im Kopf. Er wußte, daß ein paar der Fäden diejenigen waren, die es zu entwirren galt - doch er konnte nicht sagen, welche Farbe sie besaßen, geschweige denn, wo die Enden der Fäden aus dem Knäuel herauslugten.
"Ich muß aufbrechen, Merho. Ich hoffe, du kannst es verstehen." "Nun, ich werde dich nicht aufhalten. Aber ich möchte dir etwas mitgeben." Er verschwand in den Tiefen seiner Hütte. Deacon hatte in der kurzen Zeit, die er hier verbracht hatte, gelernt: Die Hütte glich einem Eisberg. Man konnte nur einen kleinen Teil von dem sehen, was sie tatsächlich war, und wenn man nicht acht gab, dann bedeutete sie... Gefahr. Als Merho nach einer ganzen Weile wieder zurückkehrte, ruhte eine kleine Schachtel in seinen Händen. "Was ist das?" "Eine Schachtel. Man kann Dinge darin aufbewahren."
"Ich meinte, was ist in ihr?" "Ah. Du findest darin eine Waffe." Merhos Stimme senkte sich, so daß Deacon sich anstrengen mußte, um ihn zu verstehen. "Es ist die schärfste und gefährlichste Waffe der Welt. Sie schneidet selbst das stärkste Material! Doch du darfst das Kästchen erst öffnen, wenn du keinen anderen Ausweg mehr siehst, verstehst du?"
"Ich... das kann ich nicht annehmen." "Sie nützt mir nichts mehr, glaube mir. Die Zeiten, in denen ich sie gebraucht habe, sind vorbei. Nimm sie mit dir. Aber versprich mir, daß du nur mit allergrößter Vorsicht Gebrauch von ihr machen wirst."
"Ich verspreche es, Merho." "Gut. Sieh dich vor. Und wenn dir der letzte Ausweg versperrt scheint, dann erinnere dich an das Kästchen..." Deacon nickte und ließ Merho, die Hütte und bald auch den Hügel hinter sich zurück.
Man mußte zugeben, daß sich die Straßen der Schattenwelt tatsächlich von denen der Lichtwelt unterschieden. Es gab zum Beispiel keinen Müll. Das durfte man nicht falsch auffassen: In Snork gehörten Müllberge zum Inventar der Stadt. Viele Wesen konnten nur deshalb überleben, weil sie sich kleine Gänge und Wohnungen in die riesigen Haufen buddelten, die die Gassen anfüllten. Es gab hier auch nicht direkt das, was man Gassen nannte. Zu einer guten Gasse gehörten eng aneinanderstehende Häuserwände, ein wenig Schatten * (allerdings nur soviel, daß man gerade noch genügend erkennen konnte, um sich zu fürchten. Die unheimlichste Kulisse der Welt nützt nichts, wenn die Personen, die sich darin aufhalten, nichts von ihr sehen können. Dunkelheit ist nur dann wirklich gruselig, wenn es gerade noch soviel Licht gibt, daß die Fantasie sich frei entfalten kann...), und ein paar in Decken gewickelte Penner auf dem Boden. Mit einer solchen Gasse war alles in bester Ordnung.
Hier boten die Häuser einem nur ihre nackten Fassaden, als würden sie sagen wollen: Du suchst nach jämmerlichen Gestalten, die ihr Dasein in ewiger Dunkelheit fristen müssen? Nun, du darfst dich gern hinlegen und anfangen, wenn du möchtest...
Es kam nicht oft vor, daß Creeper ein Schauer über den Rücken lief. Es geschah auch jetzt nicht, aber sein Körper hatte zumindest die Möglichkeit in Betracht gezogen. Auch mit dem Himmel schien etwas nicht zu stimmen. Kam es ihm nur so vor, oder war er tatsächlich näher als auf der anderen Seite? Man fühlte sich eigenartig beschwert, wenn man plötzlich eine große Last über sich spürte und immer, wenn man aufblickte, daran erinnert wurde, daß es der Himmel war. Die Tatsache, daß die untergehende Sonne hier alles in Braun tauchte und das Licht mehr zu Violett als zu Rot neigte, störte im Gegensatz dazu nicht weiter. Nun, Creeper mußte sich ja nicht für immer an diesem Ort aufhalten. Er wußte, wohin er sich ungefähr wenden mußte. Notfalls konnte er immer noch einen Passanten fragen, bloß schien es von denen hier nicht allzu viele zu geben.
Das Trappeln von Schritten wurde in seinem Rücken laut. Ein kurzer Blick nach hinten gewährte ihm die Aussicht auf eine Person, die eine bestimmte Gangart anschlug. Creeper erkannte sie. Es war nicht das Geräusch von Schuhen, die auf ein bestimmtes Ziel zustrebten, sondern mehr so etwas wie eine Warnung. Es bedeutete: Ich laufe direkt hinter dir, und es hat den Anschein, als würde ich das rein zufällig tun. Allerdings lasse ich mich nicht abschütteln, und wenn du versuchst, davonzulaufen, werde auch ich anfangen zu rennen... Eine zweite Gestalt bog um die Ecke und schloß zur ersten auf.
Die Kreuzung vor Creeper war einen Augenblick zuvor noch leer gewesen. Jetzt warteten dort zwei dunkle Figuren.
Eingekreist, dachte er und blickte zur Seite. Es gab noch eine Straße, die eine Fluchtmöglichkeit bot. Für jemanden, dem die Angst im Nacken saß, schien es der perfekte Ausweg aus der Situation. Creeper machte keine Anstalten, die Straßenseite zu wechseln oder gar schneller zu werden. Ohne Zweifel gab es auch am Ende der leeren Straße ein paar Verfolger.
Er beschloß, an dem Spiel teilzunehmen. Allerdings mußte noch etwas an den Regeln gefeilt werden. Die beiden Figuren, die in einigem Abstand hinter ihm gegangen waren, hielten an, als er sich gegen die Wand lehnte und in die Tasche griff.
Ein Streichholz entflammte, und das Ende einer Zigarette glühte auf, als Creeper sich einen genußvollen Zug genehmigte. Rauchringe kräuselten sich in der Luft. Die Gestalten hielten eine halbe Zigarette lang durch. Dann begannen sie, sich ihm weiter zu nähern. Ungeduldig, dachte Creeper. Ich kenne euren Typ. Ihr seid wie die kleinen Diebe, die alten Damen die Taschen vom Arm reißen. Ihr plant nicht. Deswegen müßt ihr immer in den Tag hinein leben und kommt nie zu etwas Größerem. Der alternde Tag malte den Fremden schwarze Schatten ins Gesicht. Doch es war gar kein Licht nötig, um sie zu identifizieren: Es waren allesamt Elfen, Dunkelelfen möglicherweise. Sie waren gertenschlank und größer als ein durchschnittlicher Mensch. Ihre Ohren waren lang und spitz, wie man es nur bei Elfen sah, deren Linie reinrassig war. Diese Personen besaßen einen Stammbaum. Creeper vertrat die Ansicht, daß dies eine Eigenschaft war, auf die man bei Hunden wert legte. "So spät noch unterwegs, alter Mann?" fragte der Elf, der ihm am nächsten war.
"Hast dich wohl verirrt, nicht wahr?" "Zu dumm, daß es schon dunkel wird..."
Der vierte, der sich bis jetzt mit einer Äußerung zurück gehalten hatte, bedachte Creeper mit einem verächtlichen Blick. Er war nicht abschätzig oder verletzend, sondern eher so, wie eine Putzfrau einen verrotteten Apfel betrachten würde, den sie hinter dem Schrank gefunden hatte: Er war ganz einfach ein Ärgernis, das es aus dem Weg zu schaffen galt.
"Wir haben keine zwanzig Jahre damit zugebracht, diese Stadt von Unrat rein zu halten, nur, damit du jetzt hier herumläufst und sie mit deinem Gestank verpestest" sagte er, und in seiner Stimme schwang Zorn mit. Er war ohne Zweifel der Anführer der vier* (das ließ sich unschwer erkennen. Jede Gruppe im gesamten Universum, deren Gehirnzellen gleich der Quersumme ihrer Anzahl war, akzeptierte schnell den zornigsten und reizbarsten als ihren Anführer. Es war eine Art Naturgesetz, ähnlich der Schwerkraft: Wer sich ihr widersetzte,** (zum Beispiel, indem er in dem Glauben, er könne fliegen, von einer Klippe sprang), fand keine Gelegenheit mehr, den anderen zu erzählen, ob es funktioniert hatte.) Die Elfen warteten ab, ob ihre Worte die erwünschte Wirkung erzielten. Creeper teilte ihnen mit, daß dem nicht so war, indem er dem Anführer einen Rauchkringel in die Augen blies. "Mutig, mutig" sagte dieser. Man konnte seine Wut förmlich spüren. Er hielt sie nur deswegen zurück, um sie auch völlig auskosten zu können, wenn er ihr freien Lauf ließ. "Willst du gar nicht versuchen, wegzulaufen?"
"Wir sind zu viert..." raunte ein anderer. Creeper nickte. "Ich weiß, es ist ungerecht. Aber ich habe keine Zeit, um zu warten, bis noch mehr von euch kommen." Der Elf wirkte verwirrt.
"Sieh es einmal so" sagte Creeper, führte die Zigarette an den Mund und nahm einen kräftigen Zug. Dann schnippte er den Stummel in einem hohen Bogen in die Luft. Ein glühender Punkt inmitten von Dunkelheit hat etwas außerordentlich Anziehendes an sich. Auch wenn das Gehirn dem Körper mitzuteilen versucht, daß er sich nicht von solchem Schickschnack ablenken zu lassen braucht - für einen winzigen Moment folgen die Augen dem Punkt dennoch.
Dieser winzige Moment war vollkommen ausreichend für Creeper. Zwei Elfen trennten sich unfreiwillig von ihren Köpfen. Der dritte würde keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen können, und der Anführer wünschte sich, daß Creeper nie geboren wäre *(was eine weitaus bessere Alternative darstellte, als sich zu wünschen, nie geboren worden zu sein). Die Kippe berührte das Kopfsteinpflaster.
Tanos machte sich Gedanken. Nun, er hatte sich schon immer welche gemacht. Wenn Menschen wie Tanos damit aufhörten, sich Gedanken zu machen, waren sie nicht mehr am Leben. Selbst Nachts, wenn die eine Hälfte der Bevölkerung schlief und die andere Hälfte sich Dingen zuwandte, die eher... körperlicher Natur waren, hüpften Tanos' Gedanken in seinem Verstand herum und verknüpften Synapsen. Es war nicht so, daß er es absichtlich tat. Es war mehr eine Art des unterbewußten Denkens, die der Körper völlig allein übernahm. Wenn Tanos eine Fliege über das Essen lief, entwickelten sich in seinem Kopf automatisch Gedankengänge wie: Über welche Mahlzeit ist sie vorher spaziert? Bleiben Reste des Essens an ihren Füßen kleben? Weiß die Fliege, daß ihre Lebenserwartung die einer Daunenfeder bei einem Zimmerbrand beträgt, wenn sie sich auf den Speisen von Leuten niederläßt? Und, wenn ja, empfindet sie Schmerz? Aber wenn eine Fliege Schmerz empfindet, muß sie auch Freude empfinden können. Und jedes Lebewesen, das glücklich sein kann, will diesen Zustand so lange wie möglich aufrecht erhalten. Die Fliege aber tut sich an meinen Würstchen gütlich und wird ergo nicht mehr lange glücklich sein, woraus sich der Schluß ziehen läßt, daß sie entweder nicht intelligent genug ist, zu begreifen, was sie da eigentlich tut, oder daß der Geschmack eines Bratwürstchens für eine Fliege den Tod rechtfertigen kann… Und so weiter und so fort. Es gab viele Dinge auf der Welt, über die man sich Gedanken machen konnte. Gerade eben dachte Tanos über ein sehr besonderes junges Mädchen nach. Sie war nicht für ihn sehr besonders, obwohl es viele Männer im mittleren Alter geben mochte, deren Glitzern in den Augen zunahm, je weiter das Alter der Frauen abnahm. Nein, das Mädchen, das Tanos beschäftigte, war an sich etwas besonderes. Sie war kein normaler Mensch* (aber, alles in allem, wer konnte das schon von sich behaupten?). Ihre Geburt war einigermaßen unüblich gewesen. Sie war keine Waise, hatte aber ihre Eltern nie kennengelernt. Sie besaß einen völlig normalen bürglichen Namen, doch es war nicht der ihre. Überdies wußte sie nichts von alledem.
Tanos hatte ihren Werdegang aus dem Hintergrund verfolgt, seit er sie ihren Pflegeeltern übergeben hatte. Er war schon immer sehr daran interessiert gewesen, was aus ihr wurde. Ihre Eltern hatte er mit Bedacht ausgewählt: Sie durften nicht zu arm sein, denn sonst hätte vielleicht Gefahr für das Mädchen bestanden. Doch auch eine zu wohlhabende Familie wäre der falsche Weg gewesen. Sie hatte auf sich allein gestellt aufwachsen müssen. Sie wußte nicht, wieviel ihr Leben bedeutete, aber sie mußte in der Lage sein, darauf acht zu geben. Es war bedauerlich, daß Tanos ihren Eltern nie die Wahrheit über sie hatte sagen dürfen. Das Risiko wäre zu hoch gewesen. Der Magier zweifelte nicht an der Loyalität des alten, gutmütigen Paares. Doch er wußte, daß die Liebe zu einem Kind jede Loyalität übersteigen konnte. Früher oder später hätten sie es ihr gesagt, und damit wäre vielleicht alles verloren gewesen. Aber wie sollte er es ihr jetzt sagen? Sie lebte ihr eigenes Leben, sie war inzwischen zu einer jungen Frau herangereift, die sich von niemandem mehr Befehle erteilen ließ. Es war eine harte Entscheidung, aber er hatte sie treffen müssen. Er durfte ihre Gesundheit nicht aufs Spiel setzen. Der junge Thamis war bereits gestorben. Möglicherweise war sie die einzige Rettung, die diese Welt noch besaß. Wenn der Mörder Deacon fand und zur Strecke brachte, war sie der letzte Separator. Und Tanos war der einzige, der davon wußte.
Das Wort Rassismus war den meisten Bewohnern der Stadt Snork fremd* (wenn auch nur deswegen, weil sie zu arm waren, um sich ein Wörterbuch zu leisten). Wenn man seine Heilkräuter bei den Kobolden, die Nahrung von den Menschen, die Geschicklichkeit im Konstruieren und Bauen bei den Elfen, den Schmuck aus Juwelen und Gold bei den Zwergen und die rohe Arbeitskraft bei den Orks bekam, blieben einem nicht mehr viele Auswahlmöglichkeiten, um rassistisch zu sein. * (natürlich gab es immer wieder Einzelfälle, doch die erledigten sich nach kurzer Zeit von selbst. Wenn man zwei Wochen lang am Hungertuch nagt, überlegt man es sich irgendwann dreimal, ob man diese kindischen Gedanken nicht doch einfach über Bord werfen sollte. Schließlich sind wir ja alle Freunde...) Auch Creeper, der in Snork aufgewachsen war, konnte mit einer solchen Weltanschauung nichts anfangen. Nach seiner Erfahrung machte es keinen Unterschied, welcher Rasse ein Lebewesen angehörte - wichtig war, man konnte es umbringen. Seiner Ansicht nach gab es nur zwei Kategorien, in die es Personen einzuteilen lohnte: Die Auftraggeber, und die Kunden. Alles weitere waren nur unbedeutende Kleinigkeiten, beispielsweise die Hautfarbe: Creeper hatte in seinem Leben schon tausende von Skeletten gesehen – und jetzt versuch einmal zu sagen, wie deren Hautfarbe aussah. Er hatte mehrere Male die Worte Subspezies oder niedere Wesen aufgeschnappt, dabei aber immer nur an Fische gedacht. Die Elfen der Schattenwelt hingegen schienen den Gedanken eigenartig anziehend zu finden. In Vidanos - der Grenzer hatte diese Stadt so genannt - wimmelte es geradezu von ihnen. Sie waren erpicht darauf, die einzigen intelligenten Bewohner zu sein* (Obwohl man bei manchen von ihnen den Maßstab ziemlich tief anlegen mußte, da ihnen sonst die Nutztiere ausgegangen wären). Creeper erachtete diese Einstellung als dumm: Ein Wald, in dem es nur eine einzige Baumsorte gab, war anfällig. Es brauchte nur einen kleinen Sturm, oder einen holzfressenden Käfer, der sich auf genau diese Gattung spezialisiert hatte, und schon kamen die Bäume auf den Boden der Tatsachen zurück, und zwar meist horizontal.
Creeper war zwar nicht der Käfer, der sich in Vidanos eingenistet hatte, aber man konnte ihn durchaus als Förster sehen: Er achtete darauf, daß der Bestand an Elfen nicht zu groß wurde. Außerdem gab es keinen Förster, der seine Arbeit nicht auch aus Leidenschaft verrichtete... Im Moment kauerte er hinter einer Säule und inspizierte den Tempel, dessen aufragende Mauern in der dunklen Sonne wie unüberwindbare Hindernisse wirkten. Das mochte durchaus stimmen, doch Creeper beabsichtigte nicht, über sie zu klettern. So etwas gebührte sich vielleicht für Diebe, und Creeper haßte es, mit ihnen in eine Schublade gesteckt zu werden. Für einen Dieb war es wichtig, schnell und leise zu sein und soviel Beute wie möglich zu ergattern. Für einen Mörder galten die ersten beiden Sachverhalte ebenfalls, und die Beute, die man nahm, bestand im Leben einer Person. Allerdings kann man sich als Mörder sicher sein, daß der Beraubte einem nicht die Hunde auf den Hals hetzt, wenn man durch den Garten davonrennt... Zwei Wächter standen vor dem Eingang des Tempels. Eine Stadt, die ausschließlich von Dunkelelfen bewohnt wird, ist ungefähr so sicher wie eine Sandburg während der Flut. Creeper hob einen Stein auf und schleuderte ihn so zu Boden, daß er ein paar Zentimeter aus seinem Versteck herausrollte. Vier Augen suchten die möglichen Orte ab, von denen aus jemand einen solchen Stein geworfen haben konnte, während Creeper den Schutz der Säule verließ. Elfen sind keineswegs dumme Geschöpfe, doch vor einem Ort wie dem Tempel jahrelang aufmerksam zu sein kommt der Bewachung eines Museums für überholte Lernmittel gleich. Ebensogut könnte man aufpassen, daß keiner die Sonne stiehlt. Als er längst im Gebäude war, starrten die beiden Wächter noch immer Löcher in die Luft. Es wäre eine Leichtigkeit gewesen, sie zu töten, doch so etwas hielt Creeper für unnötig. Es kam ihm nicht so sehr darauf an, keine Unschuldigen mit in eine Sache hineinzuziehen, sondern eher, daß es Aufmerksamkeit erregte, wenn plötzlich zwei Elfen ihren Posten verließen und unauffindbar waren.
Es war ein winziger, nur spärlich beleuchteter Hinterhof, der zwischen den aufragenden Wänden der größeren Häuser lag. Ein kleiner Pfad führte durch den Garten in den versteckten Teil eines Ladens. Hierher kamen nur Personen, die genau wußten, wohin sie wollten. Man verirrte sich nicht an diesen Ort. Der Laden kam ohne Werbung aus, und von vorne betrachtet, wenn man vor der Häuserfront stand und keine Ahnung hatte, daß es auch einen Hintereingang gab... dann mochten sich Gedanken an ein unschuldiges Geschäft aufdrängen. Aber dann gehörte man nicht zum Kreis der Eingeweihten. Wer einmal herkam, der kam wieder. Es war so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz. Und wenn er wiederkam, dann brachte er Freunde mit. Nicht unbedingt während seines Besuches, aber indirekt. Solche Dinge wurden hinter vorgehaltener Hand getuschelt, denn man konnte sich nie sicher sein, ob die andere Person es nicht falsch auffassen würde, was man ihr erzählte.
An diesem Ort herrschte immer rege Betriebsamkeit. Es kam vor, daß sich hier Leute trafen, die sich ein Leben lang kannten und glaubten, bereits alles vom anderen zu wissen. Sie hätten ihren rechten Arm verwettet in dem ehrbaren Glauben, daß die andere Person niemals an einen solchen Platz kommen würde - ja, ihn nicht einmal kannte.
Und wenn der anfängliche Schock erst einmal überwunden war, dann konnte die Freundschaft durch dieses Erlebnis nur noch tiefer werden. Jede Stadt besaß eine solche Lokalität, die meisten sogar mehrere. Tanos stand vor der Hintertür und ließ den Klopfer dezent an das Holz krachen. Ein kleines, grauhaariges Männchen öffnete ihm. "Guten Tag, Herr Nachtschatten" grüßte Tanos und trat ein. Seine Augen brauchten eine Weile, um sich an das Dunkel zu gewöhnen, doch eine entflammende Kerze machte es ihm leicht, sich zu orientieren. "Wie geht es deiner Frau?" erkundigte sich der Magier.
Das schmächtige Männlein lächelte und brachte eine kleine Teekanne zum Vorschein. Tanos war sich nicht sicher, wie er es anstellte, daß der Tee immer heiß war, wenn er kam, doch das war eben eines der kleinen Geheimnisse dieses Ortes. Service und Diskretion hießen die Zauberworte, von denen sich potentielle Kunden eines solchen Geschäftes anlocken ließen wie Wasser von einem Staudamm. Herr Nachtschatten nickte freundlich. "Gut. Auch das Geschäft läuft gut. Wir können uns nicht beklagen." Herr und Frau Nachtschatten betrieben einen sehr speziellen, sehr... besonderen Club. Hier trafen sich Leute, die außerordentlich offen für neue Erfahrungen waren, insbesondere in Beziehung auf... nun, Beziehungen.
Wenn man der Aufschrift des Schildes, das über dem kleinen Laden in der Binsengasse hing, Glauben schenken durfte, dann fand man im Innern des Geschäftes das Spielzeugland für kleine Leute. Es gab sogar einen niedlichen hölzernen Bären vor der Eingangstür, dessen erhobene Pranke feststellte, ob man von der Größe her noch als echtes Kind durchging und somit einen Lutscher geschenkt bekam. Vom hinteren Bereich des Ladens konnte ebenfalls zu Recht behauptet werden, daß es ein Spielzeugland war. Allerdings richtete es sich an eine etwas andere Zielgruppe. Das Ehepaar Nachtschatten sorgte dafür, daß immer die neuesten Erfindungen und Spielzeuge aus ganz Krotos vorrätig waren. Sie besaßen, als das einzige Geschäft in Snork, einen eigenen Kurier, der halbjährlich ins Inland reiste und mit einem großen Karren voller Waren wieder zurückkehrte. Der Karren war sogar vor den hiesigen Wegelagerern sicher, denn auch sie zählten bereits zur Stammkundschaft * (Es hatte einmal einen Vorfall gegeben, bei dem zwei Räuber sich des Inhaltes des Transportes bemächtigt hatten. Nur wenige Tage später fanden sie sich bei Herr und Frau Nachtschatten ein, brachten ihnen unaufgefordert die gestohlene Ware zurück und kauften sogar eine ganz spezielle Salbe, welche, auf wunde Stellen aufgetragen, wahre Wunder vollbrachte).
Tanos leerte seine Tasse und lehnte sich im Sessel zurück. Er hatte das alte Ehepaar schon seit fast einem Jahr nicht mehr besucht, doch er war ein gern gesehener Gast, wenn er auch nicht aus dem selben Antrieb hier auftauchte, wie die meisten anderen. "Ich... müßte mit deiner Tochter sprechen." Der Mann nickte langsam. "Ich wußte, daß dieser Tag kommen würde" murmelte er. Zum ersten Mal erblickte Tanos in seinem Gesicht etwas, das ihn alt aussehen ließ. "Jane ist ein gutes Mädchen." "Ich weiß." "Wir haben sie mit Liebe großgezogen."
"Ich weiß." "Wir haben ihr nie gesagt, daß sie nicht unser eigenes Kind ist."
"Ich weiß." Trauer spiegelte sich im Gesicht des alten Mannes wie ein Schatten auf einem tiefen See. Tanos zog seine Lippen in die Breite. "Du brauchst keine Angst um sie zu haben." "Weißt du, meine Frau und ich, wir... waren immer anständige Menschen. Wir führen ein anständiges Leben." "Niemand würde es je wagen, dies zu bezweifeln."
"Ich meine, natürlich, wir haben dieses Geschäft... aber es dient dazu, die Leute glücklich zu machen, und deswegen kann es doch nichts schlechtes sein..." Tanos fühlte sich dazu gedrängt, ihm die Sorgen von den Schultern zu nehmen. Es gab Plätze, an denen sie besser aufgehoben waren. "Ich werde sie euch nicht wegnehmen. Keiner kann das. Es herrschen zur Zeit nur... extrem schwierige Umstände, und ich möchte auf Jane aufpassen, damit ihr nichts zustößt."
"Du wirst mit ihr fortgehen, nicht wahr?" Der Magier wollte den Alten nicht anlügen. Er nickte.
"Ich schätze, das ist eben so, mh? Irgendwann verlassen sie einen... und man will es nicht wahr haben, bis es dann soweit ist. Ich liebe sie als wäre sie mein eigenes Kind." "Ich bin mir sicher, daß kein Vater seine Tochter mehr lieben könnte, als du es tust." "Nun, dann will ich dir nicht länger im Weg stehen, Tanos." Herr Nachtschatten erhob sich und deutete zur Treppe. "Sie ist oben." Bevor Tanos die Stufen hinaufsteigen konnte, entrichtete er auch Frau Nachtschatten noch seinen Gruß.
Es konnte, rein äußerlich gesehen, kein ungleicheres Paar geben: Er war so schmächtig und dünn wie eine Bohnenstange, und wenn er lief, hielt man instinktiv den Atem an, aus Angst, er könnte durch den Luftzug weggeweht werden. Sie dagegen war korpulent und kräftig, zwei Köpfe größer als er und erinnerte an die Hausdrachen in Kindermärchen, die den ganzen Tag ausschließlich damit beschäftigt waren, anderen das Leben schwer zu machen. Bis auf die Statur hatte Frau Nachtschatten jedoch keine Gemeinsamkeiten mit einer solchen Person: Sie war, wenn überhaupt möglich, noch gutmütiger als ihr Gatte und trug immer ein weites Kleid und ein Lächeln auf dem Gesicht. Hätte man die beiden zusammen auf der Straße gesehen, dann wäre ein bestimmtes Wort mit drei Buchstaben einem nicht einmal dann in den Sinn gekommen, wenn die beiden es auf einem Schild um den Hals getragen hätten. Wie so oft beglückwünschte sich Tanos erneut zu der Tat, Jane in ihre Obhut gegeben zu haben.
Der Weg schlängelte sich zwischen hohen Felsen hindurch, die wie Bewacher an seinem Rand standen. Es mochte Zeiten gegeben haben, da hatten sie tatsächlich diese Aufgabe übernommen, denn wer sich während eines Krieges auf dem Hügel verschanzte, konnte sich in jede Richtung hin hervorragend verteidigen. Deacon stand auf einem der Monolithen und spähte ins Tal hinab. Wolken umspülten das Dorf wie Wasser ein paar Steine in einem Fluß.
Was hatte der alte Mann gesagt? Viele Antworten sind bereits ausgesprochen? Nun, wie sollte er aber wissen, was seinem Bruder zugestoßen war, wenn er es nicht von den Magiern erfuhr? Ein Gedanke kroch durch seinen Verstand: Wenn viele Antworten bereits ausgesprochen waren, dann mußte es wenige geben, nach denen es zu fragen galt. Gut. Auf welche Weise konnte Thamis gestorben sein? Es war kaum möglich, daß ihm ein Buch auf den Kopf gefallen war, und dort, wo er sich aufhielt, gab es auch sonst nicht allzu viele Möglichkeiten, um sich zu verletzen. Aber Thamis war auch nicht der Mensch, der so etwas wie Selbstmord in Betracht ziehen würde. Krank war er auch nicht gewesen, denn das hätte Deacon gespürt. Er hatte schon immer diese seltsame Verbindung zu seinem Bruder gehabt: Wenn Thamis sich mit einer Nadel gestochen hatte, piekste es auch in Deacons Finger. Doch das, was er auf dem Berg erlebt hatte, war mehr als nur bloßer Schmerz. Dies war kein Leid gewesen, das entsteht, wenn jemand aus großer Höhe herunterfällt – etwa von einem Turm - und auf den Boden schlägt. Es war nicht kurz gewesen. Wenn Deacon es beschreiben hätte sollen, wären ihm spontan Worte wie 'eine Welt aus Schmerzen' eingefallen. Er wirkte nachdenklich. Es blieben also nur noch wenige Antworten übrig: Man hatte ihn umgebracht. Es mochte ein Mörder gewesen sein, oder, was noch ungleich schlimmer war, eine Verschwörung innerhalb der Mauern der Zitadelle. Es machte zwar keinen Sinn, daß Magier Schuld an seinem Tod tragen sollten, aber Deacon mußte wenigstens die Möglichkeit in Betracht ziehen. Und je länger er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, wie vorsichtig er sein mußte. Einfach in die Zitadelle zu spazieren könnte der letzte Ausflug werden, den er in seinem Leben unternahm.
Deacon registrierte das Gewicht, das an seinem Mantel zerrte. Er nahm die Schachtel aus der Tasche und musterte sie. Was schlummerte in ihr? Er kannte diese Art von Waffen: Im Volksmund nannte man sie den letzten Ausweg. Helden führten so etwas üblicherweise mit sich. Sie waren teuer, sehr teuer, und nicht selten magisch. Viele große Kämpfer, die gefesselt im Verlies eines Schurken lagen und einen letzten Wunsch äußern durften, hatten nur überlebt, weil sie nach einer Zigarette verlangten. Mit befreiten Händen zogen sie dann ihren letzten Ausweg und brachten den Bösewicht zur Strecke.
Es gab sie in den verschiedensten Variationen: Hörner, die einen beim Blasen an einen anderen Ort brachten, Zauberstäbe, die einen Meteoritenhagel niedergehen ließen, und so weiter. Deacon fragte sich, welches Utensil sich in seiner Schachtel befand. Ob er sie einfach aufmachen und nachsehen sollte? Aber nein, Merho hatte bisher für alles einen guten Grund gehabt, und wenn er sagte, man dürfe sie nur als allerletzten Ausweg benutzen, dann wollte Deacon dies auch einhalten. Trotzdem, allein der Gedanke, eine solche Waffe mit sich zu tragen, verschaffte einem ein angenehmeres Gefühl. Der Mörder seines Bruders, wer immer es auch war, würde sich noch umsehen...
Die Gänge, die sich durch den Tempel wanden, erforderten keine besondere Vorsicht. Die Personen, die in ihnen wandelten, waren allesamt wichtig. Es schickte sich nicht, einer so unauffälligen Gestalt wie Creeper Beachtung zu zollen. Außerdem waren nur Leute, die nichts wert waren, dazu imstande, so viel Mühe darauf zu verschwenden, mit den Schatten zu verschmelzen. Da Creeper sich nicht im Geringsten im Tempel auskannte, gab es nur eine Möglichkeit, dies zu ändern: Er brauchte einen Führer. Daß der nächste Elf, der ihm entgegen kam, Shaynes Lehrmeister Kovko war, hatte nichts mit einer besonderen Fügung des Schicksals zu tun, es war reiner Zufall. "Uh?" sagte der Lehrer, als sich von hinten eine Hand auf seine Augen preßte. Creeper hatte herausgefunden, daß dies eine weitaus klügere Alternative darstellte, als seinem Opfer die Hand auf den Mund zu pressen. Niemand, der zwei Finger direkt an seinen Augen spürt und weiß, daß derjenige, dem diese Finger gehören, einfach zudrücken könnte, hält es mehr für nötig, einen Laut von sich zu geben. Außerdem gestalten sich Unterhaltungen recht schwierig, wenn man dazu neigt, seinen Opfern den Mund zu zu halten. "Ein Ton, und du wirst nie wieder sehen können, wie die Sonne aufgeht" teilte Creeper gesprächsfreudig mit und zerrte Kovko vom Hauptgang fort. "Hörst du beim Namen Shayne irgendwelche Glocken läuten?" Kovko antwortete nicht.
"Du darfst natürlich reden, wenn ich dir eine Frage stelle." Angehaltene Luft entwich den Lungen des Lehrmeisters. Er wirkte trotzdem nicht erleichtert. "Wir haben keinen Schüler, der so heißt." "Woher wußtest du dann, daß ich von einem Schüler spreche?" Mist! Kovko sackte in sich zusammen. Er hatte versucht, zu Lügen. Niemand konnte ihn dafür verantwortlich machen, daß es nicht funktioniert hatte! Außerdem schien der Fremde zu wissen, was er will, deswegen würde es wahrscheinlich sowieso nichts nutzen, ihm etwas vorzumachen... "Ich werde dich zu ihm bringen."
"Das ist schon eher nach meinem Geschmack." Sie passierten mehrere Kreuzungen und kamen sogar an anderen Elfen vorbei, doch die kleine Messerspitze, die Kovkos Kleidung durchdrang und genau so fest in seine Haut piekste, daß er nicht vergaß, daß es sie gab, machte ihm die Entscheidung einfach, nicht um Hilfe zu rufen.
Eine schwere Eichentür war die Endstation ihrer Reise.
"Und hinter dieser Tür finde ich Shayne?" Der Elf nickte eifrig. "Warum also beschleicht mich dann der Verdacht, daß du mich hinters Licht führen möchtest?" Gezuckte Schultern deuteten an, daß der Elf auch keine passende Antwort auf diese Frage hatte. Creeper zeigte auf ein Schild, auf dem in Alt-Elfisch die Worte Sue nucta toneva, talaran eingraviert waren.
"Öffne deinen Geist und tritt ein" übersetzte er. "Wenn ich einen solchen Spruch vor meinem Zimmer anbringen würde, müßte ich schon ein ziemlich hohes Tier sein. Priester in einem Tempel vielleicht, oder Oberster Dukkar..."
Kovko wirkte unglücklich. "Ich mache dir einen Vorschlag, mein Freund: Du bringst mich zu Shaynes wirklichem Aufenthaltsort, und ich verzichte wirklich darauf, dir dein Herz aus der Brust zu schneiden."
Der Lehrmeister wackelte heftig mit dem Kopf, und dieses mal blieben die beiden vor einer etwas kleineren Tür stehen. Sie wirkte alt, und das war sie tatsächlich. Die Unterkünfte für die Schüler wurden nur dann renoviert, wenn Bestandteile der Einrichtung bei Berührung in der Hand zurückblieben. In diesem Fall fiel auf der anderen Seite der Türknauf herunter, wenn man daran drehte. Creeper sah sich in dem verfallenen Raum um. Der bewußtlose und gefesselte Kovko wartete draußen in einem Schrank. Ein paar Kerzen erhellten die steinernen Wände. Man konnte mit Gewißheit sagen, daß sie schon bessere Zeiten gesehen hatten, denn ein großes Loch klaffte in einer von ihnen. Creeper leuchtete mit einer der Kerzen in den dunklen Tunnel, der dahinter lag. Der Kerzenschein verlor sich nach wenigen Metern, doch der Gang führte weiter. "Verdammt!" murmelte er. Der Tag hatte so gut begonnen.
Der Grenzer fühlte sich wohl in seiner Welt.
Sie war grau. Es gab nichts in ihr, das dieser Beschreibung gespottet hätte. So etwas wie ein Himmel existierte nicht, denn wenn der Boden, der Horizont und der Himmel grau sind, kann man nichts davon mehr auseinander halten.
Natürlich gab es etwas in dieser Welt, denn ansonsten hätte das Wesen, das sich Grenzer nannte, wohl kaum existieren können. Es gab... Gedanken. Und... Gefühle. Der Grenzer haßte sie. Sie waren wie Farben: Unberechenbar und fehl am Platz. Gedanken waren der Tod eines reinen Geistes. Wie konnte man leben, wenn man umgeben von Farben war? Und das Schlimmste war: Farben mußten nicht tatsächlich gleich Farben sein! Es mochte verrückt klingen, doch die Gestalten, die die Schatten- oder Lichtwelt ihre Heimat nannten, sahen nicht das selbe, auch wenn sie auf die selbe Farbe starrten. Der Grenzer hatte diesen offensichtlichen Fehler versucht zu analysieren, und er war zu folgendem Ergebnis gekommen: Der Verstand eines lebenden Wesens war so verunreinigt, daß er, je nach Grad der Verunreinigung, einen anderen Blickwinkel auf die Welt hatte. Dies erschien nur logisch. Zum Beispiel gab es Menschen, die sehr oft sehr zornig waren. Ihr Geist war bereits so unsauber, daß sie permanent rot sahen. Oder es gab Elfen, die ihr langes Leben im Wald und auf den Wiesen, im Einklang mit der Natur verbrachten. Sie wußten von einem speziellen Kraut, welches sie, gut getrocknet, in kleine Papiertütchen drehten und rauchten. Ein solch vernebelter, beinahe schwebender Elf betrachtete die Welt mit völlig anderen Augen: Alles erschien viel klarer, deutlicher, im Moment festgehalten. Die Wahrnehmung beschränkte sich auf einen kleineren Teil der Welt, doch dieser war dafür umso intensiver. Dies mußte ohne Zweifel vom Rauch kommen, der durch ihre Adern flutete und ihr Gehirn vernebelte. Warum sie die Kräuter weiterhin rauchten, blieb dem Grenzer verborgen. Die Kreaturen des Lichtes und des Schattens sprachen also keineswegs von der gleichen Farbe, wenn sie auf eine Blume zeigten und sich darüber unterhielten, wie wundervoll die roten Blüten doch anmuteten. Ein jedes von ihnen mochte ein völlig unterschiedliches Rot sehen, und dazu noch völlig andere Gedanken damit verbinden. Sie waren so dermaßen fehlbar!
Manchmal hatten seine Gefühle, insbesondere jenes Gefühl, das man Neugier nannte, den Grenzer übermannt. Es war schier unmöglich, dem Drang zu widerstehen. Ebensogut hätte man versuchen können, eine Wand mit bösen Blicken umzuwerfen. In solchen Fällen, wenn er seine graue Ebene verließ und sich in die Höhle des Löwen begab, nahm er die Gestalt eines dieser fehlerhaften Wesen an, um sie zu studieren. Für den Grenzer gab es keine Beschränkungen wie Form, Volumen oder Masse. Er konnte sein, was er wollte. Wenn er als Vogel die blauen Weiten erkunden wollte, mußte er dies nur kurz denken, und schon passierte es. Auch ein Mensch war kein Problem, oder etwas noch komplexer strukturiertes, so wie ein ganzer Termitenhügel.Doch es gab auch gewisse... Probleme. Es war nicht weiter schwierig, eine Katze zu analysieren und deren Form anzunehmen. Aber Lebewesen neigten dazu, sich zu bewegen, und die seltsame Masse, die Körper hieß, zu diesem Kunststück zu überreden, war die eigentliche Aufgabe. Es war in etwa, als würde man die Unterschrift einer fremden Person fälschen: Wenn man nur ein, zwei Worte in der anderen Handschrift niederschreiben sollte, so konnte man dies mit ein wenig Übung ohne weiteres. Doch wenn man ein komplettes handgeschriebenes Buch auf diese Weise übertragen sollte, geriet man ins Schwitzen* (Der Grenzer hatte es nie bewerkstelligen können, zu schwitzen. Manche Menschen mochten ihn darum beneiden** (vor allem diejenigen, die sich in der Nähe von den Menschen befanden, die ihn um diese Eigenschaft beneideten). Eine kleine Unterschrift mochte so aussehen wie das Original, doch irgendwann schlichen sich Fehler ein. Die Buchstaben wurden zu lang, der Schwung des O's zu ausufernd oder das i-Tüpfelchen erlaubte sich ein wenig Kreativität. Alles in allem schien es zwar noch immer die gleiche Handschrift zu sein, aber wenn man sich einen längeren, aufmerksamen Blick gönnte, erkannte man, daß ein anderer am Werk gewesen war. Der Grenzer bekam es nie völlig richtig hin. Zudem hatte die ganze Geschichte noch einen weiteren Haken: Wer schon einmal die Handschrift eines gesamten Buches kopiert hatte, wußte, daß solche Dinge sich zur Gewohnheit entwickeln konnten. Und Gewohnheiten waren bekanntermaßen schwer abzustreifen.
Es war mehr als einmal vorgekommen, daß der Grenzer, in seinem eigenen grauen Reich, plötzlich Hunger verspürte. Und das war zweifellos kein besonders gutes Gefühl, wenn die gesamte Welt, die man bewohnte, keine Vorstellung von Essen beinhaltete. Der Grenzer wandte seinen metaphorischen Blick der Schattenwelt zu. Er konzentrierte sich und versuchte, den Elfen Shayne zu erkennen, doch sein Blick blieb verschwommen. Das war eigenartig, denn eigentlich hätte er in der Lage sein müssen, den Dunkelelfen zu sehen. Das Prinzip war einfach: Der Grenzer konnte sich an jeden beliebigen Ort beider Welten begeben, wenn es dort genug graue Zonen gab. Diese konnten auf unterschiedliche Weise zustande kommen: Wenn zum Beispiel eine Person in der Lichtwelt genügend schwarze, dunkle Gedanken dachte, entstand Gräue um sie herum. Kriecher war so ein Wesen: Mit seiner bloßen Existenz rammte er einen düsteren Pflock in das Herz der Lichtwelt. Und an den Rändern, zwischen Licht und Schatten... floß das Grau. Das genaue Gegenteil war in der anderen Welt der Fall: Wesen des Lichtes, die mit reinen Gedanken durch ihr Leben schritten und nicht zögerten, einer alten Dame über die Straße zu helfen, auch wenn diese offensichtlich gar nicht vor hatte, sie zu überqueren, bohrten ihrerseits Löcher in die dünnen Wände, bis sie begannen, zu lecken. Es war unerheblich, ob die Kreaturen vollkommen böse oder nur ein wenig wütend, ehrenhaft bis zum kleinen Zeh oder einfach gut gelaunt waren: Wo die Gegensätzlichkeiten sich vereinten, da breiteten die grauen Finger sich aus wie gierige Tentakel... Umso erstaunlicher war es, daß dem Grenzer der Blick auf Shayne verwehrt blieb. Seine graue Wolke hatte sich verdunkelt und war nun in das schwarze Allerlei hinabgetaucht. Er konnte beim besten Willen nicht sagen, wo der Elf sich aufhielt. Es mußte einen Gegenpol geben, oder zumindest etwas, das nicht hell leuchtete, und zwar ganz in seiner Nähe.
Auch Kriecher konnte irgendwo auf der Schattenwelt sein. Der Grenzer hatte ihn zwar nach Vidanos, nahe der Hohen Schule Der Ewigen Nacht, übersetzt, doch nun konnte er bereits sonstwo sein - mit etwas Glück befand er sich im Tempel und würde den Separator schon bald ins Jenseits befördert haben. Der Grenzer tat etwas, das er von den Lebewesen gelernt hatte, deren Körper er manchmal nachahmte: Er lachte. Es war ein hohles Lachen und entbehrte aller Gefühlen, die es zu einem Lachen machten. Es war eine Grimasse.
Ein Hahn auf einem Hinterhof begrüßte den Sonnenuntergang mit einem Krähen, als ein paar Steine begannen, sich merkwürdig zu bewegen. Zuerst tanzten sie auf dem Boden, bis dieser schließlich auseinanderbrach und einen Kopf offenbarte.
Shayne lugte heraus und versicherte sich, daß niemand in der Nähe war. Nach langem Zögern, wie bei einem Hund, der zwar das Gartentor sieht, das sein Herrchen aus Versehen offen gelassen hat, sich aber noch nicht wirklich schlüssig ist, ob er flüchten soll, hatte er es letztendlich doch gewagt, seinen Tunnel zu Ende zu graben. Ein flaumiges Gefühl brodelte in seinem Magen. Die Welt hier draußen... sie sah so... anders aus. Es war eine der Regeln der Hohen Schule Der Ewigen Nacht gewesen, daß die Schüler bis zu ihrem vollendeten zweiundzwanzigsten Lebensjahr das Tempelgelände nicht verlassen durften. Dazu mußte gesagt werden, daß die Anlage größer war als so manches kleine Dorf, aber selbst wenn ihre Mauern einen kompletten Kontinent umfaßt hätten: Es änderte nichts an der Tatsache, daß man eingesperrt war.
Der erste Eindruck, den Shayne von der neuen Welt erhielt, war der einer wohlbehüteten, kleinen Stadt. Der zweite Eindruck machte ihn mit vier Leichen bekannt, die anscheinend auf diesen Hof gezerrt worden waren. Eine Untersuchung ergab, daß zwei der Dunkelelfen ihren Kopf verloren hatten, und das nicht bloß in metaphorischer Hinsicht. Ein anderer war übelst zugerichtet, und der vierte... nun, Shayne war sich nicht sicher, wieviel vom vierten Elfen er vor sich hatte.
"Du meine Güte" rief Herm, der jetzt ebenfalls aus dem Loch gestiegen war. Shayne verzog das Gesicht und preßte ihm die Hand auf den Mund. "Still, oder willst du ebenfalls so enden?"
Er bereute es bereits jetzt, daß er Herm mitgenommen hatte. Warum er es überhaupt getan hatte, war ihm selbst nicht klar. Vielleicht hatte ihm der kleine Kerl einfach leid getan, denn bis er die Prüfungen bestand, durfte er nicht aus dem Tempel. Und die Prüfung, die Herm bestehen konnte, mußte erst noch erfunden werden. "Hmpf" sagte Herm, und Shayne ließ seine Hand sinken. "Und wechsel verdammt nochmal deine Klamotten!" "Warum? Mir gefallen sie!"
Herm blickte an sich herab. Wenn er es auch nicht schaffte, in einer Prüfung mit hundert möglichen Punkten nur zu erahnen, welche Leistung man erbringen mußte, um einen von ihnen zu ergattern, so hatte er es doch fertig gebracht, die Kleidung anziehen zu dürfen, die seine Mutter ihm geschickt hatte - wahrscheinlich deswegen, weil man ihn dann schon aus der Ferne erkennen und rechtzeitig in einen anderen Gang wechseln konnte. Jetzt folgte Herms Blick dem von Shayne, und eine schreckliche Erkenntnis krabbelte in seinen Verstand: "Du willst, daß ich mit ihnen Kleidung tausche!" rief er empört und zeigte auf die bemitleidenswerten Häufchen, die einmal Elfen gewesen waren. Er malte sich aus, wo die Köpfe sich wohl befinden könnten. "Zumindest brauchst du ihnen nicht ins Gesicht zu sehen.""Das war geschmacklos."
Nachdem Shayne die Zeit des Wartens damit verbracht hatte, die Gegend weiter zu erkunden, musterte er seinen Gefährten skeptisch. Die engen Kleider der Dunkelelfen ließen ihn wie eine Preßwurst erscheinen. Nun, wenigstens wirkte er jetzt nicht mehr wie eine offensichtliche Zielscheibe, wenn sie durch die Stadt gingen. "Glaubst du, sie haben schon entdeckt, daß wir abgehauen sind?" fragte Herm ängstlich. Shayne zuckte die Schultern. "Was spielt das schon für eine Rolle? Wichtig ist, daß wir so schnell wie möglich die Stadt verlassen, denn hier werden sie zuerst nach uns suchen." "Meine Eltern werden sich bestimmt Sorgen machen." Shayne gab Herm einen langen, ausdauernden Blick, in dem die Frage stand, ob er die letzte Aussage wohl tatsächlich ernst gemeint hatte. Seine Fähigkeiten, in die Köpfe anderer Lebewesen zu sehen, fanden bei ihm ihre Grenzen. So sehr er sich auch anstrengte, er konnte nicht herausfinden, was Herm dachte. Oder, was noch interessanter gewesen wäre, ob er dachte. "Du... vermißt sie doch nicht etwa, oder?"
"Na ja..." Der Saum seines Wamses war wie zufällig in Herms Hände gerutscht, wo er ihn nun verlegen durchknetete. "Immerhin ist es das erste mal, daß ich alleine draußen bin..."Shayne klopfte ihm freundschaftlich auf den Rücken und machte eine aufmunternde Miene. "Ach komm schon, so schlimm wird's schon nicht werden!" sagte er fröhlich, während sein Blick auf die enthaupteten Gestalten am Boden fiel. Wenn man sein gesamtes Leben in Gefangenschaft verbrachte, lernte man schnell, immer positiv zu denken, selbst in der ausweglosesten Situation. Und gerade eben befanden sie sich, an Shaynes Maßstäben gemessen, in der besten Situation, die überhaupt vorstellbar war: In Freiheit.
Die Pfähle waren auch nicht mehr das, was sie einmal waren.Merho rutschte auf einem von ihnen herum und versuchte, angestrengt ins Tal zu spähen."Mist" murmelte er, stand auf und suchte sich einen anderen.
Deacon war fort, doch ein Teil von ihm war zurückgeblieben. Dieser Teil hatte sich in Merhos Gedächtnis niedergelassen und sprang nun freudig auf seinen anderen Gedanken herum, sobald er versuchte, sich zu konzentrieren. So konnte er nicht arbeiten! Das Schlimmste war: Dieser aufmüpfige kleine Teil von Deacon, der noch immer in Merhos Kopf weilte, war ausgerechnet der, den er schon seit vielen Jahren für tot erklärt hatte. Jedenfalls hatte er in einer unbehelligten Ecke gelegen und geschlafen, doch der Junge hatte in seinem Übermut genau diese Ecke gefunden und war dem schlummernden Gefühl mit voller Wucht in die Rippen getreten. Jetzt rieb sich Merho die Stirn, fluchte zum ersten Mal, seit er vor langer Zeit seine innere Ruhe gefunden hatte, und verschwand in der Hütte. Ein paar unbedeutend aussehende Bücher stapelten sich rasch zu einem Turm, der zusammen mit ein wenig Proviant in einem Bündel verschwand. Reisefertig betrachtete Merho seine heimelige Hütte und fragte sich ernsthaft, ob er sie jemals wiedersehen würde. Letztendlich konnte er nicht anders, holte einen Besen hervor, ging nach draußen und begann, seine Pfähle zu kehren. Schließlich konnte man nie wissen. Er zückte seinen Reiseführer und musterte die Landschaften, die darin abgebildet waren *(Buchbinder bevorzugten eine eher ungewöhnliche Methode, um zu reisen. Sie wußten zwar, daß zwischen den Orten A und B eine bestimmte Strecke lag, doch im Kopf schrumpfen Entfernungen bekanntlich auf einen Bruchteil zusammen. Ein Buchbinder mußte nur den Daumen in die Luft recken, um an jeden beliebigen Ort auf der Welt mitgenommen zu werden. Ein guter Buchbinder hingegen konnte folgendes bewerkstelligen: Er band die Vergangenheit in einem Buch, während er sich selbst belog, indem er ganz intensiv wußte, er befände sich an einem völlig anderen Ort. Man mußte nur eine ausreichend starke Willenskraft dafür besitzen. Sobald die Vergangenheit sich im Buch befand, war dort natürlich festgehalten, daß der Buchbinder sich an dem Ort befand, von dem er dachte, daß er sich eben dort befunden hätte, wo er sich demnach dann auch aufhielt. Auf den ersten Blick mochte diese Art des Reisens ein wenig paradox anmuten, doch wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hatte, ohne Vorwarnung mit voller Montur an einem heißen Sandstrand zu stehen, oder in Badehosen vom Gipfel eines Berges zu blicken, verzichtete man gern auf die Variante des Reisens, bei der man seine Beine bemühen mußte.). "Ah, wunderbar" sagte er zu sich selbst und schloß die Augen.
Er konnte das Gefühl, das Deacon in ihm geweckt hatte, nun mit voller Intensität spüren. Es hatte tatsächlich keinen Sinn, sich ihm zu widersetzen. Er konnte es sogar benennen: Es war die Abenteuerlust. Und wenn er auch nur eine Sekunde länger zögerte, ließ sie ihn vielleicht einfach zurück. Die Welt um Merho verzerrte sich, wie immer, wenn Vergangenheit in ein Buch gepreßt wurde. Ein Wirbel entstand, in dem neue Luft mit der alten kämpfte, und gewann. Es gab ein Geräusch, ein Ploppen, als würde ein Vakuum plötzlich aufgefüllt. Der Hügel, die Hütte und die Pfähle standen einsam und verlassen da.
Sowohl auf Lithios, der Lichtwelt, wie auf ihrem Gegenstück Krap, der Schattenwelt, sprach man vom großen Muster. Den Überlieferungen nach bedeutete es die Ewigkeit und vermochte die Unendlichkeit auszudrücken. Man mußte es sich wie einen gigantischen Teppich vorstellen, auf den Szenarien eingestickt waren. Jede Handlung, jedes Lebewesen und sogar alles, was nicht lebte, fand sich auf diesem Teppich wieder. Und alles, was geschehen war, geschah oder jemals geschehen sollte, war in mühevoller Kleinarbeit in ihn eingestickt worden. Anscheinend hatte jedoch eine ziemlich nachlässige Person mit wenig Gespür für Ästhetik und noch weniger Gespür für eine geregelte Welt am Webstuhl gesessen. Zudem konnte man den Eindruck gewinnen, daß mitten während der Arbeit der Pizzaservice vorbeigekommen war, denn das Gebilde wirkte nur halb fertig. Außerdem waren nach einiger Zeit die bunten Fäden knapp geworden, weswegen sich die Person darauf konzentrieren mußte, nur noch die richtigen Wesen farbig hervorzuheben. Dies war unter anderem der Grund dafür, daß es so viele Leute auf der Welt gab, die irgendwie... farblos wirkten. Ihr Leben bestand hauptsächlich aus Langeweile oder dem Bestreben, Geld für weiteres Bier zu verdienen. Sie wandelten zwar unter der Sonne wie jeder andere auch, doch trotzdem konnte man sich nicht an sie erinnern, sobald sie aus dem Blickfeld verschwunden waren. Ihre Namen entfielen einem, weil die Ohren sich nicht die Mühe machten, die Information ans Gehirn weiterzuleiten, und ihre Gesichter... nun, wer gezwungen war, sie zu beschreiben, der würde schon bald feststellen, daß die Konturen vor dem geistigen Auge verschwammen und nur Gräue zurückließen...
Jane war das Gegenteil einer solchen Person. Wer immer das große Muster auch gewebt hatte, bei Jane hatte er eindeutig zuviel farbige Fäden benutzt. Eigentlich versuchte sie nur, eine ganz normale junge Frau zu sein, doch aus irgendeinem Grund spielten weder ihre Gedanken noch ihr Körper bei diesem Vorhaben mit. Auch Tanos erinnerte sich daran, daß das Mädchen einen Schuß zuviel.. nun ja, zuviel von irgendetwas abbekommen hatte, als er die Treppe hinaufstieg. Er fand sie, eine Laute zupfend, in ihrem Zimmer vor. Jane blickte auf und legte das Instrument beiseite. Es glänzte schwarz, und auf den ersten Blick war erkennbar, daß Veränderungen daran vorgenommen worden waren. Es waren weniger Saiten vorhanden als gewöhnlich, von den ursprünglichen zehn waren nur sechs über das Instrument gespannt. Außerdem hatte es durch einen Unfall ein Loch im Klangkörper. Da die Musik seitdem in Janes Ohren weitaus besser klang, hatte sie es nie geflickt.
"Wie ich sehe, experimentierst du schon wieder mit deiner Laute herum." Jane grinste. "So langsam bekomme ich den Dreh raus! Ich kann diese langweiligen Bardenklänge nicht mehr ausstehen." "Nun, dein Stil klingt auf jeden Fall interessant." Tanos setzte sich neben sie. Seit Jane denken konnte, war der Magier so etwas wie ein Onkel für sie gewesen. Er hatte sie mit kleinen Zauberkunststückchen überrascht, als sie noch ein Kind war. Das lag nun schon einige Zeit zurück, und Tanos' Besuche waren immer seltener geworden, doch trotzdem hatte sie einen Platz in ihrem Herzen für ihn bewahrt.
"Etwas ist geschehen" sagte er ruhig. "Du klingst besorgt."
Er wünschte sich, das Thema wechseln zu können. "Deine Eltern haben dir nie von... deinen Eltern erzählt."
"Manchmal glaube ich wirklich, du bist verrückt." "Ich meine es genau so, wie ich es gesagt habe: Deine Eltern sind nicht deine Eltern." "Wessen Eltern sind sie dann?"
"Ich... keine Ahnung! Sie haben kein Kind. Du wurdest von ihnen adoptiert." Janes Augen lasen Tanos' Züge. Sie erkannten die Wahrheit darin. Ihr Gehirn akzeptierte sie, doch ihr Körper ließ sich nicht so leicht dazu überreden. Ebensogut konnte man versuchen, sich einzureden, man besäße drei Beine. "Und... wer bin ich dann?" "Es ist eine lange Geschichte..." begann der Magier. "Du weißt, daß es noch eine zweite Welt gibt, neben unserer." "Die Schattenwelt."
"Ja. Und falls die Seiten jemals aus dem Gleichgewicht geraten sollten, dann würden sie unweigerlich in sich zusammenfallen. Es wäre das Ende beider Welten." Ihr Gehirn reproduzierte einen Gedanken, den sie einmal gehört hatte: "Gibt es denn nicht so etwas wie einen Separator?" Tanos lächelte. "Genau. Durch die Existenz des Separators werden die beiden Welten getrennt. Er - oder sie - lebt wie ein ganz normaler Mensch unter uns, ist äußerlich nicht von uns zu unterscheiden. Er kann einem Kind das Leben schenken. Damit geht das Los auf den Nachkommen über. Dein Vater, Jane... er war dieser Separator."
"Aber dann..." "Er war ein großartiger Magier, und ein noch größerer Mann. Aber er starb kurz nach deiner Geburt."
"Und meine Mutter?" Stille schlich sich in den Raum wie ein ungebetener Gast. Keiner der beiden konnte sich überwinden, sie wieder hinauszubefördern. Tanos hatte die Augen geschlossen, und Bilder zogen an ihm vorüber. Er gab sich einen Ruck. "Sie starb bei deiner Geburt." Jane nahm die hilflose Hand des Magiers in ihre eigene. Sie spürte seine Trauer. Sie selbst konnte keinen Schmerz für ihre toten Eltern empfinden. Man vermisst nichts, das man nie besessen hat.
"Warum erfahre ich das alles erst jetzt?" "Weil niemand wissen durfte, daß du überhaupt lebst."
"Aber wenn ich nicht leben würde, wäre die Welt doch längst aus dem Gleichgewicht gekippt!" "Es war keine normale Geburt. Dein Vater war kein normaler Mann. Deine Mutter brachte Drillinge zur Welt." Jane atmete schwer.
"Zuerst kam Deacon" erläuterte Tanos. "Doch dann stockte allen Anwesenden der Atem, denn Ilanor, deine Mutter, schenkte einem weiteren Kind das Leben. Ich war nicht anwesend, doch ich hörte die überraschten Rufe, während ich vor der Tür wartete. Aber dann war etwas nicht in Ordnung, denn die Stimmen wurden angsterfüllt und panisch. Kurz darauf kam dein Vater zu mir und überbrachte mir die grausame Nachricht von Ilanors Tod." Tanos wischte mit der Hand imaginären Schweiß von seiner Stirn. Er durchlebte die Sekunden, als wären sie gerade erst vergangen. "Und bevor du nun fragst, warum ich nicht von deiner Geburt erzählte - sie kam in dem Sinne nie zustande. Trotz Ilanors Tod gab es Grund zur Freude: Sie hatte Zwillinge bekommen. Ich wurde als einziger zur Totenwache zurückgelassen, während die anderen sich um die Neugeborenen kümmerten. Ich kannte deine Mutter gut, und in meiner Trauer, wie sie dort auf dem Bett lag, legte ich meine Hand auf ihren Bauch. Und da spürte ich es. Ich spürte dich. Und so erstaunt ich auch war, ich handelte schnell: Ich rettete dein Leben und floh aus der Zitadelle. Ich weiß nicht, warum ich es tat, aber es war wie ein Zwang. Und so gab ich dich in die liebenden Hände eines Paares, das selbst kein Glück mit Kindern hatte..." "Meine Eltern... sie haben mir nie davon erzählt..." "Ich hatte es ihnen verboten. Ich wollte, daß niemand von deiner Existenz erfährt. Separatoren führen kein leichtes Leben, und sie bekommen eine harte Ausbildung. Ich wollte, daß dir dies alles erspart bleiben würde. Ich wollte, daß du ein normales Leben hast. Deine Eltern haben mich nie gefragt, wer du wirklich bist, weil sie in meinen Augen lasen, daß ich es ihnen nicht sagen konnte. Für eine lange Zeit war ich das einzige Wesen, das um deine Herkunft wußte." "Jetzt sind wir zu zweit."
"Vielleicht noch mehr" flüsterte Tanos. "Das ist der Grund, warum ich dir heute alles erzählt habe. Du schwebst möglicherweise in großer Gefahr. Einer deiner Brüder wurde umgebracht." "Ja“ war alles, was Jane sagt. „Ich habe es gespürt." Ihre Stimme war nur ein Hauch, denn das Gefühl klang noch immer in ihren Knochen nach, wenn sie sich konzentrierte. "Es war wie ein Unwetter in meinem Kopf. Es war schrecklich." Tanos blickte sie an. "In euch allen steckt der Geist des Separators. Ihr seid verschiedene Personen, aber nur ein... nun, Leben. Ich weiß nicht, wie ich es sonst ausdrücken soll. Ihr könnt eure Schmerzen gegenseitig fühlen." "Ja, das ist mir schon früher aufgefallen. Ich wußte nur nicht, wo ich es einordnen sollte. Was würdest du denken, wenn du ohne ersichtlichen Grund Nasenbluten bekommst?" Sie hatte sich bereits gefangen. "Wer hat meinen Bruder umgebracht?" "Das weiß bis jetzt niemand. Es ist aber möglich, daß er von dir weiß. Deswegen bin ich hier. Nur in meiner Gegenwart bist du sicher."