Sonstiges
Die Zukunft vor Augen

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"Die Zukunft vor Augen"
Veröffentlicht am 03. Februar 2010, 6 Seiten
Kategorie Sonstiges
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Über den Autor:

Bin ich unverwechselbar? Nein. Ich wurde schon manches Mal verwechselt. Und wie viele andere auch schreibe ich gern. Lyrik und Prosa. Das ist weder einzigartig noch unverwechselbar. Wenn ich auch noch verrate, in welchem Genre mein großspurig auf fünf Bände angelegtes Romanprojekt (zwei davon sind tatsächlich fertig) angesiedelt ist, kann ich gleich einpacken. Da bin ich nicht nur verwechselbar, sondern außerdem auch noch ein Herdentier. Sollte ...
Die Zukunft vor Augen

Die Zukunft vor Augen

Beschreibung

Obwohl es von erzählender Art ist, habe ich es hier untergebracht. Sie sind alt. Sie kämpfen, täglich, nicht immer unermüdlich. Bis sie gehen dürfen. Vielleicht würden sie gerne bleiben. Vielleicht nicht.

Bei meinem Hausarzt wird erst im Wartezimmer Platz genommen, dann auf einer Stuhlreihe vor dem Sprechzimmer. Ich sitze auf dem Stuhl links außen, der Tür am nächsten.

Sie hat einen mürrischen Zug um den Mund wie Raureif um einen verschrumpelten Apfel. Ihre Augen aber, ihre dunklen Augen, ihre einprägsam dunkelbraunen Augen sind es nicht. Im Gegenteil. Sie wirken klar, blicken konzentriert, nicht angespannt, eher gelassen. Sie geht langsam, hält auf den zweiten Stuhl rechts neben mir zu. In ihrer Kleidung, habe ich den ungenauen Eindruck, überwiegt violett. Das Haar ist weiß. Eine Art Hut trägt sie, ein Tuch um die Schultern. Sie nimmt Platz, nicht schwerfällig, mit Bedacht.

Sein Haar ist ebenfalls weiß, nach hinten gekämmt, ungewöhnlich voll mit einer über dem Ohr aus dem geglätteten Verbund ausbrechenden Strähne. Beigefarbene Altherrenjacke mit Knöpfen. Graue Bügelfaltenhose. Kurze, kleine Hakennase, teigweiße Haut, Altersflecke. Stumpfer, irritiert fragender Blick, als sei nichts sicher, so wie sein mit klobigen, orthopädischen Schuhen bewerkstelligter Gang: Ein Fuß um Zentimeter gehoben, vorgeschoben und „Tack“ auf den Boden gesetzt mit zwanzig, vielleicht dreißig Zentimetern Raumgewinn. Der andere folgt, wagt sich kaum eine Handbreit über den ersten hinaus. Von Gestalt ein gespiegeltes Fragezeichen. „Tack, tack“ mit den schweren, schwarzen Schuhen, bis er sich so weit durch Schwerkraft, Raum und Zeit bugsiert hat, dass er sich auf den Stuhl sinken lassen kann, den seine Frau zwischen sich und mir freigelassen hat.

Fragender Blick auf mich, die Hände in den Schoß gedrückt, bis sich die Linke anscheinend wie von selbst hebt und prüfend die Knopfleiste hinauf und hinab fährt. Indem er den Kopf langsam seiner Frau zuwendet – es muss seine Frau sein −, murmelt er etwas. „Nein“, sagt sie. „Du musst dich nicht noch mal ausziehen.“ Er nuschelt. „Ja, dein Mantel hängt draußen.“ Mit der Hand fährt sie ihm über eine unbestimmte Stelle auf der Jacke. Ein Fussel? Ein Wispern. „Deine Brille? Ach was! Die hast du doch gar nicht dabei. Die haben wir gar nicht erst mitgenommen.“ Wispern. Ich verstehe ihn nicht und frage mich schon, ob er eine andere Sprache spricht. „Nein, auch nicht im Mantel. Zu Hause!“ Wispern. „Ja, zu Hause. Und der Mantel hängt draußen im Wartezimmer an der Garderobe.“

Stille. Ich sehe zu Boden, schlucke. Der alte weiße Kopf schwenkt zu mir herum. Dann geht die Peilung wieder in Richtung Frau. Er wispert. Was ist es diesmal? „Nein, ausziehen musst du dich nicht mehr, bestimmt nicht.“

Pause. Knistern. Gesprächsfetzen aus der Annahme. Er räuspert sich, geht mit der Rechten über die Knopfleiste, wispert. „Dein Mantel hängt draußen. An der Garderobe.“ Wispern. „Nein, wir haben die Brille nicht verloren.“ Und du musst dich auch nicht noch mal ausziehen, denke ich, und dass ich ihn gleich umbringe, wenn er wieder von dem Mantel anfängt.

Aber das ist es nicht, was ich fühle, ich kann mir nur sehr lebhaft vorstellen es zu fühlen.

Aber die Frau, seine Frau, die Ruhe selbst, ihr Ton, völlig normal, kein Zorn, keine Ungeduld …

Wenn nicht gleich etwas passiert, fang‘ ich an zu heulen.

„Herr Brauer?“

„Ja!“ Ich schnelle hoch und renne ins Sprechzimmer.  

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Hörbuch

Über den Autor

Volker
Bin ich unverwechselbar? Nein. Ich wurde schon manches Mal verwechselt. Und wie viele andere auch schreibe ich gern. Lyrik und Prosa. Das ist weder einzigartig noch unverwechselbar. Wenn ich auch noch verrate, in welchem Genre mein großspurig auf fünf Bände angelegtes Romanprojekt (zwei davon sind tatsächlich fertig) angesiedelt ist, kann ich gleich einpacken. Da bin ich nicht nur verwechselbar, sondern außerdem auch noch ein Herdentier. Sollte Dich das wider Erwarten interessieren, schau auf romansuche.de nach.

1958 geboren, als in Flensburg die Verkehrssünderkartei geründet, Elvis in Bad Nauheim stationiert und in Bonn beschlossen wird die Bundeswehr mit Atomwaffen auszurüsten (Njet, hat die Nato später gesagt.)
Als sie Kennedy erschießen, bin ich fünf Jahre alt. Ich darf bis zum frühen Morgen aufbleiben und zusammen mit den Sommergästen, die wir in diesem Jahr erstmals beherbergen, im Fernsehen dabei zusehen, wie im Juli 1969 Neil Armstrong den Mond betritt.
1974, ein Schicksalsjahr: Brandt verliert durch Günter Guillaume das Kanzleramt und ich meine erste große Liebe. Per Schulkonferenz wird beschlossen, dass ich trotz Leistungs- und Disziplinproblemen in die Studienstufe versetz werde. Mein Vater bringt die letzte Ernte ein. Ich fange das Tagebuchschreiben an.
1975 war einfach ein geiles Jahr.
1976: Ich gebe vor ABBA zu hassen, Led Zeppelin dagegen zu lieben. (Letzteres stimmt.)
Seit zwei Monaten bin ich im Zivildienst, als Weihnachten 1978 das Schneechaos über Norddeutschland hereinbricht.
Als ich anfange einen Roman zu schreiben, Titel: "1975" (bis heute nicht vollendet), gewinnt Boris zum ersten Mal Wimbledon.
1986, als Tschernobyl und Sandoz den Seelenfrieden nachhaltig stören, mache ich das erste Staatsexamen. (Lehramt. Das zweite ist nie gefolgt). Die Katastrophen inspirieren mich zu einem Promotionsthema.
Ein Jahr bevor aus Drüben Hüben wird, fliegt mir der Entwurf meiner Doktorarbeit um die Ohren. (Abbruch) Ich schreibe andauernd Gedichte.
1991, die Stadt ist noch deutlich geteilt, folge ich einer großen Liebe nach Berlin.
Im Sommer des Jahres, in dem Lady Di ums Leben kommt, verbringe ich mit einer anderen großen Liebe einen unvergesslichen Urlaub im "Land wo die Zitronen blühn, im dunklen Laub die Goldorangen glühn".
Die zwei Türme fallen, ich unterrichte Schulabbrecher und schreibe seit einem Jahr am ersten Band meines Romanprojekts.
Ich habe den zweiten Band zur Hälfte geschrieben, da wird Merkel Kanzlerin, und ich versuche seit zwei Jahren vergeblich den ersten auf dem Markt unterzubringen.
2009: Meine große italienische Liebe hält zu mir und unterstützt meine Schreiberei.

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Volker Re: Ja, eine Begebenheit, -
Zitat: (Original von KarinRegorsek am 13.07.2010 - 14:56 Uhr) die Du schön beschrieben hast, und sehr zum Nachdenken anregt!

Liebe ist (geduldig, Ruhe und frei von Zorn)!

Liebe Grüße an dich Volker! Karin


Liebe Karin,
ich bedanke mich sehr für Deinen anerkennenden Kommentar. Und freue mich, dass Du dem Text Deine Aufmerksamkeit geschenkt hast.
Herzliche Grüße
Volker
Vor langer Zeit - Antworten
KarinRegorsek Ja, eine Begebenheit, - die Du schön beschrieben hast, und sehr zum Nachdenken anregt!

Liebe ist (geduldig, Ruhe und frei von Zorn)!

Liebe Grüße an dich Volker! Karin
Vor langer Zeit - Antworten
Volker Re: -
Zitat: (Original von ulla am 05.02.2010 - 20:39 Uhr) Ein sehr ernster Text, der mich umso mehr berührt, denn genau so oder so ähnlich habe ich es jahrelang miterlebt, mein Onkel litt an Altersdemenz. Mein Tante hat ihn jahrelang gepflegt und genauso wie du es beschrieben hast ,spielte sich oft das Leben ab. Ich habe sie sehr bewundert.
lg
ulla


Ja, ulla, ja! Ich danke Dir sehr fürs Lesen und Kommentieren.
Herzliche Grüße
Volker
Vor langer Zeit - Antworten
Volker Re: Der Titel dazu gefällt ;) -
Zitat: (Original von tasja am 05.02.2010 - 20:42 Uhr)
...
Ich musste sehr schmunzeln bei dem Text, hatte sofort so viel ähnliches im Kopf...und ich habe gelernt seeeeeeeeeehr geduldig zu sein..
LG


Respekt, dass Du das gelernt hast! Danke fürs Lesen und Kommentieren, Tasja.
Herzliche Grüße
Volker
Vor langer Zeit - Antworten
tasja Der Titel dazu gefällt ;) - Niedliche und doch auch nervenraubende Story..Ja die tüddelige Zeit steht uns noch bevor und leicht ist das sicher nicht.. für alle..
Ich musste sehr schmunzeln bei dem Text, hatte sofort so viel ähnliches im Kopf...und ich habe gelernt seeeeeeeeeehr geduldig zu sein..
LG
Vor langer Zeit - Antworten
ulla Ein sehr ernster Text, der mich umso mehr berührt, denn genau so oder so ähnlich habe ich es jahrelang miterlebt, mein Onkel litt an Altersdemenz. Mein Tante hat ihn jahrelang gepflegt und genauso wie du es beschrieben hast ,spielte sich oft das Leben ab. Ich habe sie sehr bewundert.
lg
ulla
Vor langer Zeit - Antworten
pekaberlin Re: Re: Man, Volker -
Zitat: (Original von Volker am 05.02.2010 - 15:33 Uhr)
Zitat: (Original von pekaberlin am 03.02.2010 - 23:43 Uhr) Starke Bilder! Vor allem zwischen den Zeilen!
Schreib Deinen Roman! Ich will ihn vertreiben!
Gruß Peter


Mann, Peter. Das ist süß! Ich drück' Dich vor lauter Dankbarkeit, wenn das nicht zu viel ist (das Drücken). ;-)))
Mit Grüßen von Herzen!
Volker
Ach, von Dir lass ick mir jerne drücken!
Gruß Peter

Vor langer Zeit - Antworten
Volker Re: Eine -
Zitat: (Original von dunkelkristall am 04.02.2010 - 18:49 Uhr) eindrucksvolle Geschichte die zwischen den Zeilen fast
mehr aussagt Das sind Situationen auf die man selten
vorbereitet ist

VG Michael


Lieber Michael, ich danke Dir sehr. Und ich freue mich riesig darüber, dass Du einen Blick auf meine Texte wirfst.
Herzliche Grüße
Volker
Vor langer Zeit - Antworten
Volker Re: Für diesen ... -
Zitat: (Original von Gunda am 03.02.2010 - 22:03 Uhr) ...
Es ist eine sehr anrührend geschriebene Geschichte, Volker, und wenn ich sage, dass ich an der gleichen Stelle schlucken musste, an der du (wobei ich einfach mal von etwas real Erlebtem ausgehe) im Text schlucktest, so ist das nicht gelogen.

Lieben Gruß
Gunda


Danke, Gunda, vielen Dank. Dein Lob bedeutet mir viel.
Liebe Grüße
Volker
Vor langer Zeit - Antworten
Volker Re: Es ist manchmal unglaublich...... -
Zitat: (Original von seelenfluegel am 03.02.2010 - 23:21 Uhr) was manche Menschen tragen müssen. Tag für Tag und ohne Beachtung durch die Medien. Wenn manchmal irgend so ein Sternchen am TV als Held gefeirt wird, dann denke ich an diese Menschen die täglich ihre Bürde tragen. Sie sind für mich die echten Helden.

Mir geht es da wie Dir. Ich fühle mit wenn ich so was sehe, ertrage es auch kaum und muss mich fast auf die Lippen beissen um nichts zu sagen. All diese zutiefst menschlichen Reaktionen hast Du so genau beschrieben, man hat es direkt vor sich gesehen.

Bin beeindruckt

LG Karin


Ich danke Dir ganz viel sehr für Deinen schönen Kommentar, liebe Karin. Du hast es ausgesprochen. Das sind die Helden.
Herzliche Grüße
Volker
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