Romane & Erzählungen
Psycho & Ich

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"Psycho & Ich"
Veröffentlicht am 08. Januar 2010, 48 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Psycho & Ich

Psycho & Ich

Beschreibung

Über etwas, das mehr als Liebe ist. Für jetzt ...& für immer.

Prolog

In meinem Leben drehte es sich die meiste Zeit um Männer. Nein, nicht auf die versaute, nymphomanische Art. Ich war bloß seit ich denken kann immer lieber in der Gesellschaft des anderen Geschlechts. Ich hatte immer Freundinnen und bin auch heute noch mit einigen Mädchen gut befreundet. Wer aber die wirkliche Erfüllung in der Freundschaft sucht, sollte sich nicht an Mädchen halten – und Mädchen wissen genau, warum. Selbst wenn man mit einem Mädchen sehr eng befreundet ist; so eng, dass man ihr alles anvertraut – sie nutzt es irgendwann aus. Spätestens wenn die Freundschaft kippt, wenn sie sauer ist, egal ob gerechtfertigt oder nicht. Sie wird jedes Geheimnis gegen die frühere beste Freundin verwenden, sie wird lästern, sie wird sie erniedrigen wollen. Natürlich gibt es ebenfalls Jungs, die so etwas tun – wirkliche Tratschtanten. Bei denen frage ich mich jedoch, ob es wirklich geplant war, dass sie mal echte Männer werden.

 

Zurück zu meinen Männern. Meinem Lebensinhalt. Mal von meiner Familie abgesehen, die natürlich einen wichtigen Punkt im Leben eines jedes Menschen darstellen sollten, gibt es zwei Jungs, die alles für mich bedeuteten. Es waren immer Ken und Psycho. Psycho und Ken.

Mein bester Freund und … Psycho. Ken war unkompliziert, einfühlsam und lustig. Wir kannten einander seit dem Kindergarten und unsere Freundschaft verfestigte sich ungemein, als seine Mutter starb. Sein Vater gehörte zu der Nicht-Vorhanden-Fraktion und somit stand Ken allein da, im zarten Alter von 8 Jahren. Wenn ich etwas auf dieser grausamen und wirklich nicht allzu herzlichen Welt nicht sehen kann, dann sind es weinende Männer. Oder Jungs. So eroberte Ken also mein Herz. Er ist mein Gegenstück, derjenige, der alles von mir weiß. Ja, weiß, nicht unbedingt versteht. Das ist ein gigantischer Unterschied. Ich weiß, dass Ken den Rand vom Toastbrot hasst. Verstehen tue ich es nicht. Ebenso weiß er, dass ich abends gern im Dunkeln durch ein Haus laufe ohne Licht– er weiß es, auch wenn er es nicht versteht. Das ist eher eine schweigende Akzeptanz. Ich denke, das ist der Knackpunkt einer funktionierenden besten Freundschaft: die Akzeptanz. Das hat nichts mit Verstehen zu tun, auch wenn Mädchen sowas gerne sagen.

„Ich verstehe genau was du meinst.“- Lüge. Man kann die ein oder andere Situation eventuell nachvollziehen, sich ähnlich fühlen – aber einen anderen Menschen wirklich zu verstehen ist viel seltener. Weiß diese Art von besten Freundinnen für immer Mädchen aber nicht. Und ich werde meine Entdeckungen mit niemandem von ihnen teilen. Ihr müsst verzeihen.

 

Zurück zum Verstehen. Denn damit kommen wir zu Psycho. Ja, Psycho. Sein eigentlicher Name ist eigentlich total egal, da jeder ihn unter Psycho kannte – und dieser Name eben am besten passte. Wenn mich in meinem Leben jemals jemand verstanden hat, dann Psycho. Und ich rede von richtigem Verstehen – nicht nachvollziehen oder akzeptieren. Er verstand, was in meinem Kopf vorging. Manchmal verstand ich auch, was in seinem vorging. Da, da ist sie. Die Lüge. Und dann gleich die schlimmste Lüge überhaupt – die Lüge, mit der man sich selbst belügt. Ich denke jeder kennt das: es kommt eine Situation, in der man die Wahl hat, sich selbst etwas vorzumachen oder sich die Wahrheit einzugestehen. In den meisten Fällen belügt man sich. Um Schmerz zu vermeiden, der sowieso in einem steckt, da man die Wahrheit eigentlich kennt. Um sich vorzumachen, dass die Situation nicht so schlimm ist, wie es scheint – obwohl sie eigentlich noch viel grausamer ist. Tagtäglich machen wir uns etwas vor, aber wer soll uns dafür bestrafen?

 

Natürlich habe ich Psycho niemals wirklich verstanden. Manchmal tat er so, als würde ich genau wissen, was und vor allem wie er denkt – um mir einen Gefallen zu tun. Auch eine Lüge, aber eine etwas nettere – oder nicht? Es war eine komplizierte Sache zwischen Psycho und mir und dem Verstehen. Er verstand mich und dachte wie ich. Darüber hinaus waren seine Gedanken aber auch an Orten, die ich niemals besucht habe – und, sollte es nach seinem Wunsch gehen, auch niemals besuchen werde. Kurz gesagt dachte er in den Dingen, die ich denke, also genauso wie ich – nur darüber noch etwas hinaus. Und vor diesem „darüber hinaus“ schützte er mich. Es war, als hätte ich einen Gefährten, einen Aufpasser; ja, einen Vortester gefunden. Als erkundete er die Welt der Gedanken und entschied dann, welchen Teil er mit mir teilte und welcher Teil ungeeignet für mich war.

 

Ja, es war eine besondere Sache zwischen ihm und mir. Psycho – und mir.

Kapitel 1

Ich erinnere mich noch genau an den Tag vor meiner Entlassungsfeier. Ich hatte meinen erweiterten Realschulabschluss absolviert, würde bald auf eine weiterführende Schule gehen, um mein Abitur zu machen und am nächsten Tag sollten die zehnten Klassen entlassen werden. Bei uns an der Schule war es immer Brauch, einen Tag vorm endgültigen Abschluss einen Abschlussstreich zu machen. Jedoch sollte dieser für unsere beiden Klassen nicht stattfinden, da im vorherigen Jahr Alkohol mit im Spiel war – wir mussten dafür büßen und bekamen ein Verbot. Welches uns egal war. Wenn wir also nichts am helllichten Tag machen durften, machten wir es eben bei Nacht. Und somit begann alles irgendwie.

 

Es war Sommer, deshalb wurde es erst spät dunkel. In der Abenddämmerung saßen wir, knapp 50 Schüler, zusammen im kleinen Park nahe der Schule. Die Luft roch nach Sommer und baldiger Freiheit, nach Sehnsucht und Liebe und Frieden. Sie roch fantastisch. Ich streckte mich und legte mich mit dem Kopf auf den Bauch von Susi, einer Klassenkameradin, die neben mir im Gras lag. Wir besprachen, wie es ablaufen sollte: wir wurden vermummt in die Schule einbrechen, ohne etwas zu beschädigen. Wir hatten große Spruchbänder gemacht, auf denen Unterschriften und Abschiedssprüche standen, zudem hatten wir jede Menge rosafarbenes Toilettenpapier, womit wir die Schule schmücken würden. Und natürlich die Porträts von unseren Lehrern – die wir mit etwas Edding bemalt ( unser Rektor hatte zum Beispiel einen wundervollen Schnurrbart ) und in Bilderrahmen gepackt hatten, um sie nebeneinander im Schulflur aufzuhängen. Vermummt übrigens nicht, weil die Schule überwacht wurde oder mitten in der Nacht noch jemand dort sein würde, sondern einfach weil’s cooler wirkt. Cooler aussieht. Und vor allem fühlt man sich dadurch viel geheimnisvoller, viel James Bond mäßiger.

 

Andi stand auf. Er war irgendwie sowas wie der Anführer der beiden Klassen, obwohl niemand ihn dazu benannt hatte. Ich denke es war einfach dadurch, dass er sich selbst so gern reden hörte. Außerdem hatte er immer gute Ideen, also ließen die anderen es zu, dass er sich als der König auftat.

„Ich glaub, es wird langsam mal Zeit.“, rief er und die anderen jubelten. Ich kam mir lächerlich vor. Ich jubelte zwar nicht mit, aber es gibt ja sowas wie Fremdschämen. Hier saßen Jugendliche, die sich für Revolutionäre hielten. Wegen ein bisschen rosa Toilettenpapier. Ich verdarb ihnen den Spaß dennoch nicht.

 

Wir machten uns also auf den Weg zur Schule. So vermummt wie wir waren, sahen wir sicher beängstigend aus. Vielleicht hat jemand uns unterwegs auch gesehen – mir schienen die Straßen sehr verlassen zu sein – und die Polizei gerufen. Das hätte erklärt, was später geschah.

 

Diddi, ein Junge, der im letzten Halbjahr in unsere Klasse gekommen war und schon mehr Schulen besucht hatte, als er alt war, knackte das Schloss geräuschlos und schnell. Die Spannung stieg und einige Mädchen versuchten ihr Quietschen zu unterdrücken. Alle strömten in die Schule, als sei Happy Hour. Ich ging mit als Letzte hinein, neben mir die gemütlicheren Schüler. Das Hausmeisterbüro, welches sich direkt gegenüber vom Eingang befand, lag leer da. Es war komisch, die eigene Schule, die man mehrere Jahre besucht hatte, plötzlich so still und unbelebt zu sehen. In mir stieg fast so etwas wie Melancholie auf. Das war’s also, meine Realschulzeit. Diese verlassene Schule stand irgendwie als Symbol für Abschied nehmen. Aber ich war nicht hier, um mich auf den Boden zu legen und zu weinen oder – noch besser – jeden Fleck meiner heißgeliebten Schule abzuknutschen. Deshalb machten wir das ganze ja – um dieser Schule ihren Stempel aufzudrücken. Um den jüngeren Generationen zu zeigen, dass man sich auch mal gegen Regeln und Verbote wehren musste. Ja, ich gebe es zu, in diesem Moment kam selbst ich mir unheimlich rebellisch vor. Bis die Sirenen kamen und mit den Sirenen das Blaulicht. Und mit dem Blaulicht … die Polizisten.

 

Wir hatten zu dem Zeitpunkt schon gute Arbeit geleistet: ein Teil hatte in den nahen Fluren Toilettenpapier verteilt, einige waren mit dem Aufhängen der Porträts beschäftigt und der Rest – mich eingeschlossen – hing die Plakate auf. Ich klebte gerade ein Plakat fest, auf dem in großen Druckbuchstaben „Der Job als Nutte ist gesichert“ stand, als ich die Sirenen hörte. Ich muss zugeben, dass ich in meinem Leben noch nie die panische oder gar hektische war. Ich gerate selten in Panik und denke erstmal nach, bevor ich etwas tue – in dieser Situation eher schlecht. Denn die meisten von uns suchten sich sofort einen Fluchtweg aus den anderen Ausgängen ( die sie, wie ich später mitbekam, aufbrachen ). Somit stand ich mit ungefähr 20 anderen langsamen Menschen plötzlich allein da. Vor Schreck wäre ich fast von der kleinen Leiter gefallen, wurde aber von einem Mitschüler abgestützt. Einige der Polizisten liefen den anderen 30 Schülern nach, manche kamen mit mehreren Schülern zurück. Und ich stand da und sah mir das Schauspiel an, als würde ich gar nicht recht dazugehören. Im falschen Film mitspielen. Ähm, Entschuldigen Sie, Herr Polizist, eigentlich gehöre ich hier gar nicht in! Ich weiß auch nicht recht, wie ich hier rein geraten bin.

Aber wie ich schnell feststellte, waren die Polizisten verdammt echt. Sie kamen nicht mit Pistolen oder bissigen Hunden, aber allein die Tatsache, dass sie da waren, war erschreckend.

 

„Jeder von Ihnen wird jetzt sofort das fallen lassen, was er gerade in der Hand hält“, sagte einer der Polizisten, wahrscheinlich der deutsche Beverly Hills Cop höchstpersönlich. „Sie werden die Sachen fallen lassen und dann werden Sie ihre Masken abnehmen.“

 

Ich ließ also das Plakat los, das halb an der Wand festgeklebt nun runter baumelte, sowie den Kleber, mit dem ich es befestigt hatte. Meine Mitschüler taten es mir gleich. Ein ganz großartiger Moment. Und auf solche Gedanken kam ich zugegebener Maßen in den ungünstigsten Momenten. Aber es hatte schon etwas vom großen Kino, diese Stille, das kurze Zögern – und dann der Lärm, der entstand, als alle ihre Sachen fallen ließen. Wirklich großes Kino.

 

Der Polizist staunte nicht schlecht, als plötzlich 50 Jugendliche vor ihm standen, kaum jemand 18 Jahre alt. „In Ordnung“, sagte er ruhig als befürchtete er, jede Sekunde würde einer von uns mit einer Knarre auf ihn losgehen. „Sie werden uns jetzt zur Polizeistation folgen [ kurze Anmerkung von mir: diese liegt nur zwei Minuten entfernt ]. Sie werden sich nicht unterhalten, Sie werden nicht fliehen. Vor Ihnen, neben Ihnen und hinter Ihnen werden Polizisten sein und – glauben Sie es mir, Sie stecken tief in der Scheiße. Jedes weitere Vergehen wie Flucht oder Gewalt wird alles nur schlimmer machen. Haben Sie das verstanden?“

 

Niemand sagte was, aber der Polizist erwartete das auch nicht. Er drehte sich zu seinem Kollegen um, sagte etwas zu ihm und anschließend wurden wir hinaus geführt. Keine Handschellen oder so – was irgendwie viel cooler gewesen wäre. Wir gingen einfach in Zweierreihen nebeneinanderher. Wie früher im Kindergarten, wenn man zusammen einen Ausflug machte. Ohne das Händchenhalten, versteht sich.

 

Ich war noch nie auf einer Polizeistation, aber meine Erwartungen ( die alle von Hollywood stammen ) wurden alles andere als erfüllt. Eindeutig von einer Frau eingerichtet. Blumen, Strickdeckchen, Kaffeetassen mit Sprüchen. Nichts von Gesetzeshärte und starken Männern.

 

Dennoch sah der Polizist-Anführer nicht gerade freundlich drein. Er nahm zuerst unsere Personalien auf und klärte uns dann darüber auf, dass wir eine Straftat begannen hätten und das natürlich Konsequenzen haben würde. Anschließend bekamen wir etwas zu trinken und wurden nacheinander zum Gespräch mit einem anderen Polizisten in einen separaten Raum gebracht.

 

Als ich an der Reihe war ging ich mit zittrigen Knien in den Raum. Er beinhaltete einen Tisch und ein paar Schränke. Am einen Ende des Tisches saßen ein Polizist und ein anderer Mann, der sich mir als Mitarbeiter der psychologischen Abteilung der Polizei vorstellte. Ihnen gegenüber stand ein anderer Stuhl, auf dem ich Platz nahm.

 

„Wie alt sind Sie?“, fragte der Polizist.

„16.“

„16. 16, soso.“ Er kratzte sich mit dem Stift an der kahlen Stirn. „Mit 16 hat man doch schon eine Ahnung, was verboten ist und was nicht. Richtig?“

„Würde ich nicht pauschalisieren.“, murmelte ich als Antwort. Woher dieses Selbstbewusstsein? Abermals kam ich mir wie eine Rebellin vor, wie zuvor in der Schule. Rebellin, Weltverbesserin, Revolutionärin. Und was war ich eigentlich? Teilzeitidiotin. Ein Schuleinbruch würde weder die Welt verbessern, noch in irgendwelchen zukünftigen Geschichtsbüchern vermerkt sein. Ich war ein Nichts.

„In Ordnung. Ich helfe Ihnen auf die Sprünge. Erstmal ist es generell verboten, Maskiert in einer Schule rumzulaufen – abgesehen von Kopftüchern. Einbruch und Vandalismus sind ebenfalls verboten. Was sagen Sie dazu?“

„Vandalismus war nicht das Ziel. Es wurde nichts zerstört.“

„Was war denn dann das Ziel? Zudem wurden die Türen bei der Flucht einiger ihrer Kollegen mehrere Türen zerstört.“

„Damit habe ich nichts zu tun.“

„Wie sagt man so schön – mit gehangen, mit gefangen.“

 

Den Rest der Unterhaltung versuchte ich ihm klarzumachen, dass wir der Schule bloß einen harmlosen Streich spielen wollten. Bei der gesamten Unterhaltung sagte der Psychologe kein einziges Wort. Ich fragte mich, ob er stumm war. Oder nur aus dekorativen Gründen existierte. Jedoch entschied ich, ihn nicht direkt zu fragen. Wahrscheinlich war ich eh schon nicht in einer allzu guten Lage.

 

Ich verließ das Verhörzimmer und kam zu den anderen zurück. Es war nun 3 Uhr morgens und einige saßen eingenickt auf ihren Stühlen. Ich gesellte mich zu ihnen, schlief jedoch nicht. Hielt ich für zu stillos. Oder besser gesagt hätte ich sowieso nicht schlafen können. Ich hatte Panik. Schiss. Angst vor dem, was jetzt kommen würde. Denn, wie mir mein Sitznachbar verriet, versuchte einer der Polizisten gerade, unsere jeweiligen Eltern aus dem Bett zu holen. Und der Zorn des Gesetzes ist nichts gegen den Zorn der eigenen Eltern.

 

Die Müdigkeit gewann irgendwann aber doch die Oberhand. Ich schlief ein und wurde von einem Polizisten wieder geweckt, nicht gerade sanft. Grund dafür war, dass unsere Eltern in wenigen Minuten eintreffen würden. Ein paar Eltern, die, die der Polizeistation am nächsten wohnten, waren schon da. Wie klein diese vorhin noch so mächtigen Revolutionäre wirkten, wenn ihre Eltern daneben standen. Mit diesem Blick. Diesem „Bist du verrückt“-Blick? „Willst du mich ins Grab bringen“- Blick. Ich kenne sie alle, diese Blicke. Der meiner Eltern traf mich um 4.58 Uhr morgens. Es war Freitagmorgen. In knapp 4 Stunden sollte unsere Entlassungsfeier eigentlich stattfinden. Diese fiel jedoch ins Wasser, da unser Rektor natürlich informiert worden war. Ein Polizist teilte uns übriggebliebenen mit, dass die Feier nicht stattfinden würde. Unsere Zeugnisse würden wir per Post bekommen.

 

Zurück zum Blick. Dem Blick meines Vaters, der vor mir stand, als wüsste er nicht recht, ob er wirklich zugeben sollte, dass ich seine Tochter war. Für einen Moment stellte ich mir vor, wie er reinkam, mich erblickte und dann einen Rückzieher machte. „Hier muss ein Fehler passiert sein, Herr Polizist. Meine Tochter ist nicht hier. Meine anständige Tochter liegt um diese Zeit im Bett und schläft! Natürlich, Herr Polizist, kein Problem. Jedem passieren Fehler. Gute Nacht!“

Natürlich machte er keinen Rückzieher. Er strafte mich mit einem Blick, als hätte ich die Fußballweltmeisterschaften abgeschafft. Schweigend gingen wir nach Hause.

 

Schade, dass das Schweigen nicht lange hielt. Im Gegensatz zu dem, was mich in den nächsten Tagen an Reden und Tadel erwartete, hätte ich Schweigen allemal vorgezogen. Meine Eltern mit ihrem großen Herzen verziehen mir aber vollkommen. Ich solle mich aber bloß nicht beschweren, wenn der Brief von der Polizei käme, in dem stand, welche Strafe mich erwartete.

 

Die Polizei hatte sich mit dem Rektor zusammengesetzt. Dadurch war es nur logisch, dass die meisten der bösen Verbrecher in der Schule arbeiten mussten. Und zwar mussten eine gewisse Anzahl an Sozialstunden dort verbringen, vor allem damit, dem Hausmeister zu helfen.

 

Jedoch konnten in der kleinen Schule keine 20 bis 25 Jugendlichen rumlaufen, soviel Arbeit gab es nicht. Zudem hätte das wahrscheinlich auch zu viel Aufsehen erregt. Also durften nur 5 in der Schule arbeiten ( 3 drinnen, 2 draußen ). Der Rest wurde anderswo eingesetzt, um die Sozialstunden abzuarbeiten. Einige landeten als Putzkraft im Altenheim, einige an anderen Schulen. Man achtete darauf, dass möglichst jeder alleine an einem Ort arbeitete, damit man bloß keinen Spaß hatte. Somit wurde ich in der städtischen Organisation BFS – Bürger für Sauberkeit eingeteilt. In schicken orangefarbenen Putzanzügen würde ich also meine Sozialstunden damit verbringen, verschiedene Parks sauber zu halten. Ich Rebellin und Revolutionärin und Weltverbesserin.

Kapitel 2

 

Seitdem ich den Brief bekommen hatte, quälte mich der Gedanke im Hinterkopf. Ich war nervös, wenn ich auf neue Menschen trat, auch wenn meine Schüchternheit nie lange anhielt. Ich hatte auch kein Problem damit, ein Gespräch anzufangen. Aber die Nervosität blieb und nagte jedes Mal, wenn ich in eine solche Situation kam, an mir.

 

Ich fand es nicht allzu schlimm, dass ich Parkarbeit verrichten musste. Ich mochte Parks. Was ich noch lieber mochte war Fotografieren. Am liebsten mochte ich Fotografieren im Park. Ich war auch schon einige Male im Sol-Park, für den ich eingeteilt war, gewesen – manchmal eben zum Fotos schießen, manchmal zum Lesen. Ich mochte den Park sehr, denn obwohl er – wie es für Parks eben gewöhnlich war – viele Bäume hatte, fiel sehr viel Licht auf dieses Stück Erde, weshalb er auch den Spitznamen „der helle Fleck“ hatte. Zudem galt der Park generell als relativ sauber. Was vielleicht nur daran lag, dass böse Menschen wie ich ihn zweimal die Woche sauber machten.

 

Es war ein angenehm milder Montag. Meine Mutter fuhr mich zum Treffpunkt, einem Rosenbogen, der den Eingang des Parks darstellte. Davor standen ungefähr 10 andere Schwerverbrecher in denselben schicken Putzsachen wie ich. Meine Mutter wünschte mir mit unüberhörbarer Schadenfreude viel Spaß, ließ mich aussteigen und fuhr davon. Ich war auf mich allein gestellt. Wie konnte diese Frau mich mit potentiellen Vergewaltigern und Mördern allein lassen? Von der ersten Sekunde an war ich mir ohne jegliche Arroganz bewusst, dass ich eigentlich gar nicht hier hingehörte. Mal wieder im falschen Film gelandet.

 

Ich nickte den anderen zu und sie taten es mir gleich. Möglichst unauffällig gesellte ich mich zu ihnen. Keiner von ihnen sah unheimlich böse aus. Wobei die Bösen wahrscheinlich auch nicht das Wort Böse auf ihrer Stirn tätowiert hatten.

 

Verstohlen begann ich, die anderen der Reihe nach zu mustern. Direkt gegenüber von mir stand ein Muskelprotz, der recht zahm aussah. Mehr noch, er hatte das Gesicht eines Babys. Der war sicher nicht wegen einer Schlägerei hier. Drogen? Nein, bestimmt nicht. Vielleicht ist er im Bus schwarz gefahren. Er sah schüchtern aus; ja, fast eingeschüchtert, von wem auch immer. Er denkt sicher auch, dass er eigentlich gar nicht hier hin gehörte. Vielleicht fühlte sich jeder der hier Anwesenden, als wäre er im falschen Film.

 

Das Mädchen, das ich anschließend betrachtete, tat es mit Sicherheit – sofort erhielt sie von mir den Spitznamen Barbie. Besser noch: Billig-Barbie. Ihre Haare waren ultrahellblond gefärbt, ihre Augenbrauen zwei dünne Striche in der Make-Up Landschaft namens Gesicht, ihre Lippen verdeckt von einer großen Ladung hell rosa Lipgloss – der weder schön, noch dezent und schon gar nicht natürlich aussah. Sie trug als einzige keine Arbeitsklamotten, sondern ein eng sitzendes T-Shirt mit irgendeinem Schriftzug, den ich weder lesen konnte noch kannte. Außerdem eine enge Hüftjeans und – als Sahnehäubchen – weiße Schuhe mit dünnem Absatz. Ja, diese Barbie war sicher im falschen Film. Was sie wohl getan hatte? Zigaretten geklaut? Schmuck? Vielleicht aber auch kein Diebstahl. Ich weiß es bis heute nicht.

 

Mein Blick fiel auf ein weiteres Mädchen. Das komplette Gegenteil von Barbie – die Anti-Barbie sozusagen.  Ihre Haare waren abrasiert, bis auf einzelne Stellen, von denen ausgebleichte orange-blonde Strähnen ihr auf die Schulter fielen. Sie hatte je einen Ring in Nase und Unterlippe. Sie wirkte unbeeindruckt, fast gelangweilt. Als würde sie auf einen Bus warten.

 

Die einzigen, die redeten, waren zwei rauchende Jungs neben ihr, die sich anscheinend kannten.  Sie sprachen kein Deutsch, es klang nach russisch, aber ich kenne mich da nicht sonderlich gut aus. Die beiden sahen protzig aus, weder böse, noch interessant. Also wand ich meinen Blick auch von ihnen ab. Und plötzlich merkte ich, dass ich beobachtet wurde.

 

Ein Junge, älter als ich, wie ich schätzte, stand etwas abseits von der Gruppe an einen Baum gelehnt, auch er rauchte – aber auf eine andere Art. Auf eine abwesende Art, als müsse er sich mit jedem Zug Nikotin beweisen, dass er wirklich hier stand. Er hatte etwas längere dunkle Haare und ein markantes Gesicht. Sein Blick war ebenso abwesend wie seine Haltung, mehr noch: sie war unbeteiligt. Er sah mich an, als würde er durch mich hindurchsehen. Es erschien mir wie eine Ewigkeit, die wir da standen und einander anstarrten, – okay, zugegeben, ich starrte, er nicht – aber in Wirklichkeit waren es wahrscheinlich nur zehn Sekunden, bis er seinen Blick senkte, die Zigarette fallen ließ und sie austrat.

 

Hinter mir hörte ich Schritte und dann eine Stimme. Ich löste den Blick von dem Jungen und drehte mich um.

 

„Hallo zusammen“, begrüßte er uns. Er war mittleren Alters, hatte aber zu meinem Erstaunen die jüngsten Augen, die ich je gesehen hatte. Sie sprühten geradezu vor Energie. Er kam mir wie einer der Menschen vor, die Arbeit wie diese gern taten – vor allem um Jugendlichen nah zu sein und ihnen zu helfen. Er stellte sich vor und erklärte allgemeine Regeln: wer pünktlich kam durfte auch pünktlich gehen, außerdem wurden Pausen gemacht. Anschließend holte er eine Liste heraus und überprüfte unsere Anwesenheit, wobei er uns sogleich sagte, in welchem Bereich des Parks wir arbeiten würden.

 

Die Anti-Barbie, der Baby Muskelprotz und ein weiteres Mädchen, was unentwegt lächelte, waren für den See zuständig. Dort war es mit am dreckigsten, da sich Jugendliche gern am See betranken ( weshalb ich das Schwimmen in ihm niemandem empfehlen würde – außer vielleicht der Billig-Barbie ). Zu viert stampften wir also zum See, neben mir ging das lächelnde Mädchen. Alle paar Sekunden spürte ich ihren Blick auf mir, wandte mich zu ihr um und sah, dass sie mich freundlich anlächelte – was auch sonst.

 

„Was hast du böses getan?“, fragte sie schließlich, als hätte sie die ganze Zeit auf den richtigen Moment gewartet, ein Gespräch anzufangen.

„Maskierter Einbruch in der Schule. Sollte unser Abschlussstreich werden. Und du?“

„Ich war in einem Kiosk mit ein paar Freunden, wir waren auf dem Weg zu einer Party und wollten Alkohol kaufen. Aber keiner von uns war 18 und dann hab ich ‘ne Flasche Korn geklaut. Die andere wussten davon und haben mich ermutigt, aber als die Bullen kamen waren sie ziemlich schnell weg.“, erklärte sie ohne einmal Luft zu holen. „Hab dann auch bemerkt, dass es nicht so tolle Freunde waren, seitdem machen wir nichts mehr miteinander. Aber sie gehen auf meine Schule und sind da ziemlich beliebt, deswegen…“, sie verstummte. Mit Ãœberraschung sah ich, dass ihre Augen glänzten. Meine Güte, dieses Mädchen öffnete sich aber schnell fremden Leuten!

 

„Deswegen bist du nicht mehr allzu beliebt, hm?“,  vollendete ich ihren Redeschwall. Sie nickte. „Ich habe zwar immer noch ein paar Freundinnen, die ich schon lange kenne, aber es ist eben nicht so toll, wenn man ständig dumm angemacht wird, verstehst du? An manchen Tagen passiert nichts und ich denke, dass alles wieder gut ist. Und im nächsten Moment passiert irgendwas wirklich Blödes.“

 

Während sie all das sagte – und bei dem Tempo, in dem sie sprach, musste ich mich konzentrieren, um alles zu verstehen – lächelte sie wie zuvor unentwegt. Plötzlich fiel mir das Wort Maske ein. Dieses Mädchen lächelte ununterbrochen, um nicht bemitleidet zu werden, vielleicht auch, um sich selbst nicht zu bemitleiden. Sie lächelte und lächelte und tat es doch nicht – ich fragte mich, ob sie noch wirklich lächeln konnte, ohne dass es automatisch kam. Ob es noch Dinge gab, die sie wirklich fröhlich stimmten. Mein Magen zog sich zusammen. Sie tat mir leid.

 

Sie kamen am See an und besprachen kurz, wer welchen Teil übernahm. Ich wollte Laub harken, weil ich– solange es ging – verhindern wollte, dass ich in Mülleimern rumgraben musste. Anti-Barbie schloss sich mir an.

 

Die erste halbe Stunde arbeiteten wir schweigend nebeneinander. Irgendwann fragte sie mich, ob ich eine Pause machen will. Sie bot mir eine Zigarette an, ich lehnte ab und gemeinsam setzten wir uns auf eine der Bänke, die der Muskelprotz und das lächelnde Mädchen schon gesäubert hatten – die beiden befanden sich gerade auf der gegenüberliegenden Seite des Sees.

 

„Hast also nur ‘n Abschlussstreich machen wollen, hm?“

Ich sah zu dem Mädchen und nickte. Sie stellte sich mir als Lina vor und erzählte, dass sie bei einer Demonstration gegen rechte Gewalt verhaftet worden war. Sie redete nicht so schnell wie das lächelnde Mädchen, außerdem wählte sie ihre Worte mit bedacht. Nach einer viertel Stunde arbeiteten wir weiter und den Rest unserer Arbeitszeit unterhielten wir uns über Filme.

 

Als unsere Schicht zu Ende war, gingen wir wie verabredet zurück zum Rosenbogen. Einige standen schon dort und warteten auf unseren Leiter – unter anderem der Junge, den ich vorhin angestarrt hatte. Als wir zu der Gruppe stießen, wandte sich sein Blick wieder zu mir, doch dieses Mal hielt ich seinem Blick nicht stand. Jedoch spürte ich seinen Blick mehrere Minuten auf mir und meine Nackenhaare stellten sich auf.

 

Unser Arbeitsleiter kam, bedankte sich für die Arbeit – als würden wir das freiwillig machen – und verabschiedete uns. Meine Mutter war glücklicherweise pünktlich da, um mich abzuholen. Ich hatte meine ersten Sozialstunden absolviert. Hurra.

 

Es war erstaunlich, wie kaputt man nach eineinhalb Stunden Arbeit schon war – der Rücken schmerzte mir und ich vermutete üblen Muskelkater in meinen Armen. Dennoch gab es etwas, das mich mehr beschäftigte. Ihn, diesen Jungen mit dem abwesenden Blick. Er ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich weiß noch, dass ich anfangs fast dachte, ich hätte mich in einen wildfremden verknallt. Doch was es mit der Liebe wirklich auf sich hatte, würde mir eben dieser Junge viel später erklären. Nein, ich war nicht verknallt. Ich war fasziniert – und Dinge, die mich einmal faszinierten, ließen mich nur schwer wieder los.

 

Zwei Tage später, am Mittwoch, sollte die Arbeit weitergehen. Es goss es an diesem Tag in Strömen, was mich nicht allzu sehr störte, da es Sommer war. Und solange ich nicht friere mag ich Regen, vor allem den Geruch. Genau wie am Montag kontrollierte unser Leiter unsere Anwesenheit, teilte uns diesmal aber neu ein. An diesem Tag sollten wir wegen des Regens weder fegen noch harken sondern nur durch den Park gehen und Müll aufsammeln. Willkürlich stellte unser Leiter zweier Paare zusammen. Ich habe nie an Schicksal geglaubt und den Gedanken, dass Dinge oder Geschehnisse vorbestimmt sind, fand mich immer unrealistisch. Für einen Moment änderte sich meine Meinung an diesem Tag, als ich mit dem Jungen in ein Team kam. Während der Zusammenstellungen sah er mich unentwegt an, als hätte er etwas geahnt. Als unsere beiden Namen aufgerufen wurden, blickte ich schließlich auch zu ihm rüber. Dieses Mal war sein Gesicht nicht so ausdruckslos wie zwei Tage zuvor. Er schaute, als würde er abwägen, ob es gut oder schlecht war, dass er mit mir in einem Team war. Und ich tat das Gleiche.

 

Die ersten paar Minuten vergingen schweigend. Es war diese Art von Schweigen, die bedrückend in der Luft hing und in der man krampfhaft versuchte, nicht verkrampft zu sein. Für mich fühlte sich dieses Schweigen jedenfalls so an, für ihn schien es anders zu sein. Es war, als genoss er es. Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, ein Lächeln, von dem ich nicht wusste, was es bedeutete.

 

„Du gehörst doch eigentlich gar nicht hier her.“

Es war das erste Mal, dass ich seine Stimme hörte. Sie war tief und männlich aber auf eine sanfte Art geheimnisvoll. In seinen Worten klang so etwas wie Weisheit, fast Überlegenheit mit. Dennoch wirkte es nicht arrogant, sondern einfach nur wissend.

 

„Du bist nicht eines von den Mädchen, die im Regen einen Park säubern müssen“, sagte er, und er sagte es so leise, dass ich mich konzentrieren musste, um ihn zu verstehen. Der Regen wirkte neben seiner Stimme plötzlich unheimlich laut und aggressiv. „Das bist du doch nicht, hab ich recht?“

 

Meine Stimme war weg. Vielleicht auch meine Zunge. Oder Wörter, die ich zum Sprechen brauchte. Hatte ich überhaupt noch einen Mund?

 

„Ich weiß nicht“, antwortete ich, als ich Stimme, Zunge, Wörter und Mund wiedergefunden hatte, „ob du das beurteilen kannst.“

„Es ist bloß eine Einschätzung. Ein Gedanke. Ich denke, du gehörst hier nicht her.“

„Wer gehört hier schon her?“

 

Er lachte. Es war kein echtes Lachen, als hätte ich etwas Lustiges gesagt, sondern eher ein Lachen, dass seine Gedanken verbergen sollte, vielleicht seine Gefühle überspielte. Ein sarkastisches Lachen.

 

„Die beiden Tschechen gehören zum Beispiel hier her“, murmelte er mehr zu sich selbst als zu mir. „Wer in einer Disko jemanden krankenhausreif prügelt gehört definitiv hier hin. Meinst du nicht?“

 

„Schon. Aber du weißt nicht, wieso ich hier bin, wie kommst du darauf, dass ich hier nicht hergehöre?“

 

„Du wirkst nicht so, als wärst du am richtigen Platz. Was also hast du getan, um hierher zu kommen?“

 

Ich zuckte bloß die Schultern. Ich wusste in dem Moment nicht, wieso ich ihm nicht einfach – wie zwei Tage zuvor dem lächelnden Mädchen – erzählte, weshalb ich hier war. Im Nachhinein glaube ich, ich wollte mir etwas geheimes wahren.

 

„Und wieso bist du hier?“, fragte ich und biss mir sogleich auf die Zunge. Dummes neugieriges Kind! Es wirkte doch viel besser, wenn man abwesend und geheimnisvoll war.

 

Abermals lächelte er und ich wusste nicht, ob mir seine Art von lächeln gefiel.

 

„Ich biete dir einen Tausch an – deine Geschichte gegen meine Geschichte. Was sagst du?“

 

Der Boden unter uns war matschig und bald wären wir in dem Teil vom Park angekommen, in dem wir sauber machen sollten. Ich überlegte nicht lang, was hatte ich schon zu verlieren? Außerdem interessierte es mich wirklich sehr, weshalb er hier war und was er sonst noch zu verbergen hatte. Also erzählte ich ihm in Kurzform von dem Abschlussstreich und seinen Folgen.

 

„Und jetzt deine Geschichte“, forderte ich, nachdem ich fertig war.

„Also, das war so“, sagte er mit verschwörerischer, mystischer Stimme, blieb stehen und sah mir direkt in die Augen. Ich sah in dem Moment wahrscheinlich so schön aus wie ein begossener Pudel. Meine sämtlichen Klamotten waren durchgeweicht, auch meine Kapuze hatte nicht lange gehalten, weshalb meine Haare sich leicht unter ihr wellten. Gespannt sah ich in seine Augen und erkannte die Farbe: grau. Das Grau hatte ein bisschen hellen Blaustich und es waren die sonderbarsten Augen, die ich je gesehen hatte.

 

„Ich war abends auf einer Party und hab ein wenig getrunken. Als ich nach Hause ging, war es stockduster. Plötzlich sah ich helle Lichter – ich dachte noch, ich träume – und ein Raumschiff landete direkt vor meinen Füßen.“

 

Verständnislos sah ich ihn an, doch er ließ mich nicht zu Wort kommen. Er sprach mit solchen Elan, als hätte er nur darauf gewartet, diese Worte zu sagen.

 

„Aus dem Raumschiff stiegen zwei grüne Gestalten, die so ähnlich wie Tintenfische aussahen. Sie fragten mich nach dem Weg zu McDonald‘s. Im Suff konnte ich den Weg natürlich nicht allzu gut beschreiben und als ich ihnen dann auch noch prophezeite, dass sie mit ihrem Raumschiff wohl kaum durch den McDrive passen würden, flippten sie völlig aus.“

 

Er machte eine Pause und sein Gesicht verzog sich schmerzvoll, als erinnere er sich noch genau daran, wie schlimm diese Nacht für ihn gewesen war.

 

„Sie schlugen auf mich ein und saugten mir mehrere Organe aus dem Körper. Ich aber wehrte mich. Vor Gericht drehten die beiden die Geschichte dann um – ich hätte ihnen aufgelauert und sie dann zusammengeschlagen, weil ich rassistisch wäre. Das Gericht hat den beiden geglaubt und mir die Sozialstunden aufgebrummt.“

 

Ich war mal wieder sprachlos. Und fassungslos. Dieses Mal aber, weil dieser Junge meine Geschichte gehört hatte und mir dann so einen Schwachsinn auftischte.

 

„Du bist ein Idiot.“

„Aber ein ziemlich fantasievoller.“

 

Ich schwieg und er tat es mir, mit einem Grinsen auf dem Gesicht, gleich. So verbrachten wir den Rest der Stunde wortlos nebeneinander mit Müllaufsammeln. Pünktlich zum Schichtende hörte es langsam auf zu regnen und nieselte nur noch etwas. Bei mir war der Punkt erreicht, an dem mir kalt war und ich einfach nur noch nach Hause in mein Bett wollte. Vor allem auch, über den Jungen – sein Spitzname war Psycho, wie er mir beim Abschied noch kurz gesagt hatte – nachzudenken.

 

Mein Vorhaben konnte ich jedoch nicht in die Tat umsetzen, da Ken schon in meinem Zimmer auf mich wartete. Er lag auf meinem Bett, hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und  schaute Fernsehen.  Als ich herein kam, setzte er sich auf und sah mich neugierig an.

 

„Du siehst noch gar nicht böse aus.“

„Wieso sollte ich böse aussehen?“

„Böse Menschen verändern einen. Irgendwann wirst du auch noch böse, wenn du weiterhin mit den Bösen zu tun hast.“

 

Ich rollte die Augen und zog meine Jacke an.

 

„Genau genommen“, sagte ich bestimmt und schmiss mich neben ihn auf mein Bett. „gehöre ich selbst zu den Bösen. Und wir sind gar nicht so böse.“

 

Ken grinste und schenkte seine Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher. Ich überlegte geschlagene fünf Minuten, ob ich ihm von der Begegnung mit Psycho erzählen soll oder nicht. Ob ich diese Sache teilen wollte – oder erstmal darüber nachdenken musste, als was ich das ganze empfand. Ich entschied mich, wie in den meisten Fällen, dafür, ihn einzuweihen.

 

„Ich hab heute wen kennengelernt.“

„Wen?“ Er machte den Ton vom Fernseher etwas leiser – wie aufmerksam.

„Er heißt Psycho und … er hat irgendwas faszinierendes an sich.“

„Hm“, murmelte er und dachte nach. „Ich weiß nicht genau, ob du dich mit Leuten einlassen solltest, die Psycho heißen.“

„Ach verdammt, das ist doch bloß sein Spitzname. Nein, er scheint nett zu sein. Geheimnisvoll irgendwie, na ja, faszinierend halt.“

 

Ich erzählte ihm genauer von unserer Unterhaltung und versuchte dabei nichts auszulassen. Ich beschrieb Ken, wie er aussah und wie er wirkte, einfach alles, was ich bis jetzt über ihn wusste oder dachte.

 

„Weshalb muss er den Park säubern?“, fragte Ken zwischendurch.

 

„Ich… bin mir nicht sicher. Er hat gesagt es war wegen Außerirdischen, komische Geschichte. Anscheinend wollte er mir nicht verraten, wieso er wirklich da ist.“

 

Bei meinen Worten zog Ken die Augenbrauen hoch und seine Augen bekamen den mir bekannten Beschützerblick. So war es immer gewesen: Ken sorgte sich um mich. Vielleicht weil er seine Familie so früh verloren hatte. Vielleicht weil ich eben die einzige in seinem Leben war, die einzige, die so etwas Wichtiges wie eine Familie annähernd ersetzen konnte. Ich liebte diesen Blick.

 

„Du bist ja richtig vernarrt in den Kerl“ war Kens nüchternes Fazit nach meiner Erzählung. Ich versuchte ihn mit einem Kissen zu ersticken.

 

„Schon gut“, prustete er nach Atem ringend. „Ist ja gut, okay, okay. Vielleicht solltest du den Kerl besser kennen lernen, vielleicht ist er ja wirklich nett. Aber eins musst du dabei immer bedenken: nicht jeder der Leute, die Sozialstunden abarbeiten, haben nur eine Kleinigkeit wie du gemacht.“

 

Und diese Worte gingen mir für den Rest der Woche nicht mehr aus dem Kopf. Ich war voll von Neugier, was Psycho zu den Sozialarbeiten gebracht hatte. Ich wollte mehr über ihn herausfinden, es war wie ein Spiel. Und ich konnte meinen nächsten Arbeitstag nicht mehr abwarten.

 

Zu meiner Freude regnete es am Montag nicht. Zwar waren dicke Wolken am Himmel zu sehen und die Luft war etwas frischer als es für den Sommer üblich war, doch diese Umstände waren mir nur recht. Wer wollte schon bei Spitzenwetter den Park säubern?

 

Der Bus hielt an der Haltestelle gegenüber des Parks und ich stieg aus. Die Gruppe meiner Kollegen war fast vollständig – fast. Denn einer fehlte, und für mich war es natürlich am bedeutendsten, dass dieser jemand da war. Der Rest von ihnen war mir so gut wie egal.

 

Ich ging zu den anderen, begrüßte sie und sah nervös auf die Uhr. Es war zwei Minuten vor Arbeitsbeginn. Und er war nicht da. In mir verkrampfte sich etwas und entkrampfte sich wieder, als ich mir einredete, dass er schon noch kommt. Immerhin musste er kommen. Das hier war kein Kindergeburtstag, das war Pflicht.

 

Zehn Minuten später fühlte ich mich, als sei die Welt untergegangen. Unser Arbeitsleiter war gekommen, hatte uns eingeteilt – dabei kein Wort zu Psychos Fehlen gesagt – und war wieder gegangen. ‚Er kommt nicht mehr‘, rief eine Stimme in meinem Kopf immer und immer wieder. Ich wusste selbst nicht, was mit mir los war. Ich kannte diesen Jungen nicht, er konnte mir nichts bedeuten – und doch fühlte es sich an, als hätte ich Steine verschluckt, die mir nun schwer im Margen lagen. Schweigend verrichtete ich meine Arbeit, machte kaum eine Pause und hoffte, dass dieser Tag bald ein Ende fand. Bei jedem Geräusch hinter mir drehte ich mich rasch um, weil ich immer noch die Hoffnung hatte, er würde plötzlich hinter mir stehen. Doch wieso sollte er? Ich bedeutete ihm nichts, er kannte mich ja nicht einmal. Und ich hatte keine Ahnung, was mit mir los war. Denn eins war sicher: irgendwas war er für mich.

 

Auch am Mittwoch blieb Psycho den Sozialstunden fern. Wieder sagte unser Betreuer nichts zu seinem Fehlen und wieder wünschte ich mir nichts sehnlicher, als ihn zu sehen. Mit ihm zu reden und sein sarkastisches Lächeln zu bewundern. Doch wie so viele Träume blieb es bloß ein Traum.

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livelytune

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Ryu1 sorry - nur 4 Sterne - aber das nur, weil du einige Zeichensetzungenen nach schauen solltest :-)

Ansonsten ist dein Schreibstil sehr gut, das Thema interessant und es macht Spass, zu lesen.

Freue mich schon auf das nächste Kapitel!

Liebe Grüße
Ryu
Vor langer Zeit - Antworten
adventor89 ... - ... es beginnt sehr interessant, Du hast einen sehr guten Schreibstil.
Ich bin gespannt, wie es weiter geht.

Viele Grüße
Michael

Ach ja: Herzlich willkommen hier !
Vor langer Zeit - Antworten
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