Biografien & Erinnerungen
Schmerzliches Vergessen

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"Schmerzliches Vergessen"
Veröffentlicht am 01. Dezember 2009, 30 Seiten
Kategorie Biografien & Erinnerungen
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Über den Autor:

Freunde sagen, ich bin "erbrechend offen" und "gnadenlos ehrlich".. sei's drum ;-) Ich bin sehr zielstrebig und will oft mit dem Kopf durch die Wand..
Schmerzliches Vergessen

Schmerzliches Vergessen

Beschreibung

Foto mit freundlicher Genehmigung von Rainer Sturm/pixelio.de

NEIN. Sie wollte nicht ins Bett. Sie wollte keinen Mittagschlaf machen – war kein Baby mehr. Mit 8 Jahren war man über das Babyalter weit hinaus. 

Mittags hatte sie noch in der Scheune beim Nachbarn ihrer Großeltern mit den kleinen jungen Katzenkindern gespielt und sich mit dem Jungen des Hauses eine Stoppelschlacht auf dem Feld geliefert, weil er sie an den Zöpfen gezogen hatte. Ihre Großmutter war böse geworden, als sie den Riss in ihrem Sommerkleid entdeckte. Sie hatte sich anhören müssen, dass ihre Mutter nicht das Geld hätte, ihr ein Neues zu kaufen und sie froh sein dürfte, dass sie überhaupt so etwas wie Ferien hätte – auch wenn es nur bei den Großeltern wäre. Dabei hatte sie sich so auf die Ferien bei ihrem heißgeliebten Opa gefreut. Zur Strafe dürfte sie heute nicht mehr in den Stall zu den Kätzchen. Traurig saß sie nun vor ihrem Suppenteller mit dem strengen Gesicht der Oma gegenüber und dem beruhigenden Zwinkern des geliebten Opas an ihrer Seite.

Sie mochte das nicht tun. NEIN. Sie wollte das nicht tun sollen..

Es roch so komisch in dem dunklen Schlafzimmer mit den zugezogenen Gardinen und mit den alten Möbeln. Sie spürte die dreigeteilte Matratze unter sich und war eingehüllt in den Geruch alter Menschen. Ihres Großvaters..

Sie saß immer noch traurig am Tisch, als sich die Großmutter in ihr  gutes Kleid gehüllt auf den Weg in die Stadt zu ihrem Arzttermin machte. Großvater zog sie auf seinen Schoß und murmelte ihr ins Ohr: „Sei nicht traurig. Jetzt zeigst Du mir erst mal Deine gesammelten Postkarten und dann legst Du Dich eine Stunde hin. Und wenn Du brav bist, kannst Du dann noch zu den Kätzchen.“ Dabei legte er seine Hand in ihren Schritt und drückte kurz zu. Sie fühlte sich unbehaglich und rutschte von seinem Schoß. Die Postkarten auf dem Tisch ausgebreitet erklärte sie ihrem Opa jedes einzelne Bild. Die vielen Pferde und Kätzchen – ihre Lieblingskarten. Wie immer hatte Opa offene Augen und Ohren für ihre Erzählungen und wie sie sich vorstellte, mit den Ponys über die Felder um die Wette zu rennen. 

Wenn sie schon ein „Schläfchen“ halten musste, wollte sie das doch allein tun. Nie hatte sich ihr Opa mit ins Bett gelegt. Sie mochte es, wenn er sie in seinen Armen wiegte, aber heute war es anders - so ganz anders. Es machte ihr Angst. Warum durfte sie nicht in ihrem Bett schlafen?

Großvater griff ins Schoß der Kommode, die hinter seinem Stuhl stand. Er nahm etwas heraus und setzte sich wieder – reckte den Arm hoch in die Luft und hielt eine Postkarte in der Hand.

„Schau mal, was ich heute für Dich im Dorf gekauft habe. Kannst Du erkennen, was darauf ist?“ fragte er seine kleine Enkelin.

Sie drehte sich zu ihm herum - reckte sich, um die Karte erkennen zu können – und fand sich zwischen den Beinen des Großvaters gefangen. „Was bekomm ich denn zur Belohnung für die Karte?“ Das Spiel um ein paar kleine Küsschen war sie schon gewohnt, schlang die Arme um den Hals des Opas und küsste ihn herzlich auf die Wange. Er legte seine Hände auf ihren Popo und drückte sie an sich. Sie wand sich und befreite sich. Es war ihr plötzlich so unangenehm, wenn ihr Opa sie anfasste. Sie fühlte, wie sie rot wurde und ihr die Hitze ins Gesicht schoss.

 Nein.. Sie wollte nicht ihre Unterwäsche ausziehen. Sie schlief immer in Unterwäsche.

„Opa .Laß mich. Iich will nicht mit Dir kuscheln. Das ist so komisch. Ich mag das nicht.

Hab Angst.

„Was hast Du denn? Wirst Du krank? Du bist ja ganz heiß im Gesicht“ sagte der Opa nachdem er ihr eine Hand auf die Stirn gelegt hatte und zog sie wieder auf seinen Schoß. Er wiegte sie hin und her und legte ihr wieder die Hand in den Schritt. Jetzt fühlte sie sich so erstarrt, dass sie sich nicht mehr rühren konnte. Die Hand bewegte sich hin und her, drückte mal leicht und mal ganz doll an ihr Mäuschen. Leise begann sie zu weinen. „Oh, meine Kleine. Du musst wirklich ins Bett. Ich will nicht dass Du krank wirst, dann zieht mir die Oma das Fell über die Ohren.“ Mit diesen Worten wurde sie auf die Arme gehoben und ins Schlafzimmer der Großeltern getragen.

„Ich möchte gern in mein Bett gehen, Opa“ wagte sie leise zu sagen.

„Nein, der Opa ist auch ein bisschen müde. In mein Bett passen wir beide bequem rein.“ Ohne weiteren Kommentar wurde sie aufs Bett gesetzt und ausgezogen, was sie sonst auch allein tat. Bevor sie unter die Decke kriechen konnte, hielt der Opa sie auf....

 „Warte. Der Opa hat noch was für Dich. Schau mal hier“ Seine Hose hing ihm auf den Knien und ein Pipimann schaute unter seinem Hemd hervor. Aber so hatte sie einen Pipimann noch nie gesehen – auch nicht bei ihren Brüdern. Ohne Worte und total geschockt starrte sie darauf und begann, sich zurück zu ziehen.

„Warte. Bleib mal hier sitzen. Fass ihn mal an. Er ist ganz weich. Wirst sehen..“ murmelte der Opa und ihr kamen wieder die Tränen.  „Nein, Opa. Ich will das nicht anfassen“ bettelte sie und weinte in sich hinein. Die Schultern gesenkt saß sie vor den Rockschößen ihres Großvaters und sah geschockt, wie dieser Pipimann ihr immer näher kam - auf und ab wippte, direkt vor ihrer Nase. Sie fühlte die harte Hand an ihrem Hinterkopf, die sie unbarmherzig näher zog. Sah die andere, die den Pipimann in die Hand nahm und ihn ihr an die Lippen setzte. Angeekelt wollte sie das feuchte, was an ihrem Mund klebte wegwischen. Die Chance wurde von harter Hand gewittert, die ihr einen voll erigierten Penis in den Mund steckte. Sie zum würgen brachte und brutal den Widerstand brach. Sich vor und zurück zog und den Großvater laut stöhnen ließ. Plötzlich war sie frei..

Die Großmutter rief in der Diele nach ihrem Mann, der nun hektisch sein Gemächt verstaute, sich durch die Haare fuhr und sie anwies, leise zu sein und kein Wort zu sagen.

Sie verkroch sich zwischen den Decken und weinte still vor sich hin. Die Ferien hatten gerade erst begonnen. Die Mutter war daheim im Krankenhaus um wieder ein Geschwisterchen auf die Welt zu bringen und sich von ihren Verletzungen, die der alkoholkranke Stiefvater ihr beigebracht hatte zu erholen. Hilfe...

„Nein. Oma kommt gleich um mir die Haare zu waschen. Ich bin noch nicht fertig. Ich kann noch nicht aufstehen.“ Instinktiv den Schaum auf dem Badewasser nutzend, senkte sie sich so tief wie es ging ins Wasser. „Morgen fährst Du wieder nach Hause. Der Opa wollte Dir doch noch gern was zeigen.“  

Irgendwie hatte sie die Ferien hinter sich gebracht. Das Radfahren mit dem Großvater, daß ihr früher soviel Freude bereitet hatte, war ihr zur Qual geworden. Immer befürchtete sie, er könne sich ihr noch einmal so nähern. Cousinen und Cousins kamen noch zu Besuch zu den Großeltern und sie nutzte jede Gelegenheit, um im Spiel mit ihnen dem Opa aus dem Weg zu gehen. Sie fuhr allein mit ihrem kleinen Fahrrad zu ihrem Onkel, der im gleichen Dorf wohnte. Völlig erstaunt, dass sie allein die ganze Strecke bewältigt hatte, rief ihre Tante sofort bei den Großeltern an. Sie wusste, dass Oma ganz schlimm böse sein würde, weil sie einfach weggefahren war, aber wie sollte sie der Oma erklären, warum sie das getan hatte.

„NEIN, Bitte. Ich will das nicht sehe.“ rief sie laut und ängstlich, um die Oma aufmerksam zu machen, die im Flur telefonierte. Der Großvater setzte sich auf den Schemel neben der Badewanne, krempelte sich den Hemdsärmel hoch und streckte seine Hand ins Wasser, strich über ihre Beine und immer höher. Ängstlich und erstarrt verharrte sie bis zu dem Moment, als er ihr seinen Finger in ihr Mäuschen stecken wollte. 

An jedem weiteren Nachmittag in diesen Ferien, musste die Großmutter nun bis zur letzten Minute warten, bevor ihre Enkeltochter zum Abendbrot nach Hause kam. Das Kind versteckte sich stundenlang an einem kleinen Teich und schaute einer Entenfamilie zu. Bei den Katzen des Nachbarn hätte der Großvater sie aufgestöbert. Und an jedem weiteren Abend, an dem ihr Enkelchen sonst an den Opa gekuschelt das Sandmännchen im Fernsehen schaute, wunderte sich die Großmutter nun, dass die Kleine zusammen gekauert in der äußersten Ecke der Couch saß – meistens neben ihr. Allerdings sagte sie aber nichts weiter dazu, sondern meinte zu einer ihrer Töchter, dass das wohl nur eine Phase sei. Sie fand auch nichts dabei, dass ihre  Enkeltochter plötzlich nicht mehr allein mit ihrem Opa an den Badesee fahren wollte. Nur ihr Onkel durfte sie noch auf die Schultern nehmen und mit ihr ins tiefe Wasser gehen um ihr unter seiner Aufsicht das Schwimmen beizubringen.  

„Ich hab da was gefunde.“ brummte der Opa und sein Finger wurde drängender. Sie begann zappeln und zu schreien, tauchte unter Wasser und ließ Wellen über den Badewannenrand schwappen.

Sie fieberte dem Ende der Ferien entgegen und hatte sich fest vorgenommen, nie mehr zu den Großeltern fahren zu müssen. Lieber würde sie fortlaufen. Sicher. Sie hatte viele Geschwister und konnte wohl wirklich froh sein, dass sie die Ferien bei den Großeltern verbringen durfte. Aber alles war so anders geworden. Früher war sie mit ihrer jüngeren Schwester hier, aber die war jetzt im Krankenhaus, um sich während der Schulferien die Augen operieren zu lassen. Sie hatte so lange geschielt und nun war der Zeitpunkt gekommen, an dem die Ärzte sie operieren konnten. Anfangs hatte sie sich sogar gefreut, allein zu Opa und Oma zu dürfen. Hätte sie doch die ganze liebevolle Aufmerksamkeit für sich allein gehabt.

 „Oh weh,  jetzt hast Du alles nass gemacht. Da wird die Oma aber schimpfen“ sagte der Opa jetzt und schon zog er sie in der Wanne auf die Beine. „Sei schön leise, dann merkt sie nichts“ flüsterte er, drehte sie mit dem Rücken zu sich und ließ seine Hände an ihrem Körper herabfahren - immer tiefer..

 Was sollte sie nur machen? Oft hatte sie die Streitereien ihrer Eltern mitbekommen. Oft war der Stiefvater zu betrunken, um sie und ihre Geschwister auch nur wahr zu nehmen und noch öfter schlug er dann die Mutter. Wenn sie ihr doch nur helfen könnte, dachte sie damals mit ihrem kindlichen Gemüt. Sie wollte nur, dass das aufhörte. Sie war auch schon mit den Geschwistern in Kinderheimen untergebracht worden, wenn die Mutter wieder ein Geschwisterchen zur Welt brachte. Heute zählten sie acht Geschwister. Es ist schön, eine große Familie zu haben. Wie oft hatte sie Heimweh und weinte sich in den Schlaf, aber wenn sie dann wieder zu Hause war, wollte sie sich einfach nur verkriechen. Und jetzt steckte sie hier fest und wusste vor Scham nicht, wie sie sich verhalten sollte. Musste sie dankbar sein und die Ferien genießen? War es deshalb vielleicht doch richtig, was der Opa da mit ihr tat?

Ein Arm zog sie unerbittlich an einen harten Körper, die Hand des anderen Arms fingerte jetzt immer wilder an ihrem Mäuschen und als sie spürte, dass sich wieder der Finger da rein drücken wollte, fing sie an zu weinen und zu schreien. Wieder war es die Oma, die sie befreite.  „Kind, was zappelst Du so herum? Hier ist alles nass. Was hast Du Dir dabei gedacht? Das geht doch nicht.“ Ungeachtet ihrer Tränen bekam sie jetzt den Po versohlt und wünschte sich nur noch weit, weit weg..

„Ja.. der.. der Opa.. ähm.. der Opa hat.. ähm..“

„Nun sprich schon du blödes Ding. Dein Onkel hat Dich was gefragt“ lallte der betrunkene Stiefvater mit einem Grinsen im Gesicht, das ihr zeigte, wie sehr er die Situation insgeheim genoss. Die Mutter saß mit gerunzelter Stirn neben ihrem Schwager und rümpfte nervös die Nase.

Vier Wochen waren vergangen und die Erinnerung an die letzten Ferien verfolgten sie Tag und Nacht. Sie konnte den Jungs in der Klasse nicht gerade in die Augen sehen, obwohl sie sonst doch so gern mit ihnen Ball spielte. Sie mochte sich beim Sportunterricht nicht mehr ausziehen und täuschte Bauchweh vor. Sie fühlte sich bedrängt, wenn ein Schulkamerad das Wort an sie richtete und sie knuffte, wenn sie vor lauter neu erlangter Scheu nicht sofort antwortete. Kurz, es machte keinen Spaß mehr zur Schule zu gehen. Der Nachbarsjunge fand sie an einem Tag an ihrem Lieblingsplatz - von Sträuchern geschützt. Er wollte, dass sie ihm ihr Mäuschen zeigte – er wolle ihr auch sein Dingelchen zeigen. Heute denkt sie lächelnd, dass das ja wohl ein ganz normales Verhalten für Kinder sei – damals rannte sie schreiend davon und ließ einen total verstörten Jungen zurück.

„Sag doch Kind“ drängte der Onkel sie behutsam. „Hat der Opa dich angefasst? An deinem Mäuschen? Du musst keine Angst haben. Ich bin extra gekommen, um mit Dir zu reden. Weißt Du, die Marion ist zu mir gekommen und hat mir erzählt, dass der Opa sie immer zwischen die Beine fassen würde. Hat er das bei Dir auch getan?“

Monate hatte es gedauert, bis sie nicht mehr von quälenden Träumen verfolgt wurde und verstört davon lief, wenn nur die Rede von Opa war. In der ersten Zeit schrieb ihr die Mutter Entschuldigungen für den Sportunterricht, später versuchte sie selbst mit ihrem plötzlich übertriebenen Schamgefühl umzugehen und stellte sich der Situation. Nach und nach kam sie zu ihrer alten Sicherheit im Umgang mit ihren Freunden, scheute sich aber immer noch zu viel aus ihrem Leben durchsickern zu lassen. Das war schließlich was ganz schlimmes, worüber man nicht reden darf. In diesem Alter würden Jungen über so etwas nur hämische Bemerkungen machen und Mädchen garstige Äußerungen – zu jung, um mit dem Geschehen wirklich umgehen zu können.

Also. Ähm.. ich weiß nicht.. ja, er hat.. ähm..“

„Mein Gott, du blöde Gans. Sprich doch mal in ganzen Sätzen“ schimpfte der Stiefvater, was ihr die Schamesröte noch tiefer ins Gesicht stiegen ließ. „Laß sie, Horst. Sie wird es schon erzählen. Du darfst sie nicht noch beschimpfen“ sagte der Onkel, aber das kam im benebelten Hirn des Stiefvaters nicht an. „DER OPA HAT MIR IMMER ANS MÄUSCHEN GEFASST UND MIR SEINEN PIPIMANN IN DEN MUND GESTECKT UND HAT GESAGT DASS ICH DAS NICHT SAGEN DARF“ weinte sie jetzt los und konnte sich kaum mehr beherrschen. Einerseits froh, dass sie es rausgebracht hatte, andererseits zutiefst beschämt.

Sie erinnerte sich an eine Schulaufführung zur Weihnachtszeit. Es wurde ein Krippenspiel aufgeführt und sie sollte die Maria darstellen. Während des Spiels sollte Heiner der den Josef spielte, ihre Hand halten - aber am Tag der Generalprobe machte sich dieser Klassenclown einen Scherz daraus, seine Maria fest in seine schlacksigen Arme zu schließen. In Panik zerrte sie an seinen Armen und befreite sich schimpfend und weinend. Die Lehrerin verstand natürlich überhaupt nicht, worum es hier wirklich ging – wie auch.. Als sie sich beruhigt hatte erklärte sie, dass sie an der Hand gehalten werden wolle, wie es eingeübt wurde. Sie wolle sich nicht umarmen lassen. Diese Geschichte brachte ihr von den Klassenkameraden natürlich wieder Gelächter und gehässiges Getuschel ein.

„Beruhige Dich, Kleine. Ich bin nur gekommen um das von Dir zu hören. Weißt Du, der Opa hat die Marion auch angefasst. Aber das andere.. Nein, das hat er wohl nicht. Oder Marion mochte es mir nicht sagen.“ Jetzt meldete sich doch noch ihre Mutter zu Wort und irgendwie durchströmte sie dann doch so etwas wie Erleichterung – ein trügerisches Gefühl.

 „Du musst nicht soviel darum geben, was das Kind sagt“ wandte sie sich an ihren Schwager. „Sie erzählt gern mal Geschichten. Gib nicht so viel darum.“

 Sie wusste nicht, wie sie aus dem Zimmer gekommen war, erinnerte sich nur an das gröllende, feuchte Lachen ihres Stiefvaters, das ihr die Schamesröte ins Gesicht trieb. Und plötzlich stand ihr wieder überdeutlich die Szene im Schrebergarten vor Augen, die sie damals nicht verstand – heute umso besser. Ihr Bruder wollte mit ihr in die Laube um Spielzeug heraus zu holen. Die Mutter saß außen vor der verschlossenen Tür, eine Schüssel mit Kartoffeln auf dem Schoß und ein Schälmesser in der Hand. „Ihr könnt da jetzt nicht rein. Papa und Ellen sind da drin,“ sagte die Mutter und verscheuchte die beiden. Die Lammellen-Holzläden waren vor dem Laubenfenster geschlossen und die Kinder – neugierig wie sie nun mal waren, linsten durch die Sprossen. So sahen sie ihre ältere Schwester, die weinend und mit entblößtem Oberkörper auf der Bank saß. Der Stiefvater saß vor ihr, starrte auf ihre Brustwarzen die sich erst vor kurzem begonnen hatten zu bilden und strich mit den Fingerspitzen darüber.

Heute ist ihr schmerzlich bewusst, was sich da abgespielt hat und wie nachhaltig diese Erlebnisse ihr Leben beeinflussen würden.

Diese Bilder und Erlebnisse verfolgten sie noch Jahrzehnte später..

Gegen Ende ihrer Pubertät, die im Umgang mit Jungen nicht immer reibungslos verlief, lernte sie ihren ersten Mann kennen und heiratete ihn mit 17 - jungfräulich. Damals kannte sie ihn anderthalb Jahre und fand in ihren Schwiegereltern die Eltern, die ihr Zeit ihres Lebens gefehlt hatten. Ihr wurde Liebe und Freundschaft entgegengebracht und ihr Mann war sehr lieb und fürsorglich. Ihrem Mann brachte sie bedingungsloses Vertrauen entgegen und erzählte ihm von den Kindheitserlebnissen. Behutsam geführt lernte sie ihre eigene Sexualität kennen und auch das Sexualleben mit einem Mann – allerdings ohne sexuelle Höhepunkte.

Schöne Jahre folgten und nach 7 Jahren Ehe kam der gemeinsame Sohn zur Welt. Nach weiteren 3 Jahren ging eine Wandlung in ihr vor. Ihr Eheleben füllte sie nicht mehr aus und immer öfter trafen Komplimente von anderen Männern auf ihre offenen Ohren. „Da muss doch noch mehr sein“ dachte sie immer öfter bei sich und trennte sich von ihrem Mann. Er versuchte sie ein Jahr lang zu überzeugen, dass sie sich nicht scheiden lassen solle. In all den folgenden Jahren ist er ihr ein guter Freund geblieben und ist es heute noch. Es folgten Beziehungen, die immer ein Reinfall waren – die Männer waren arbeitslos, Alkoholiker oder gewalttätig – im Extremfall alles auf einmal. In dem Versuch, ihrem Sohn ein Familienleben zu bieten, machte sie alles falsch. Sie setzte ihn genau solchen verkrachten Existenzen aus, die ihr in der Kindheit über den Weg gelaufen waren. Allerdings achtete sie stets darauf, dass ihrem Sohn kein Leid geschah. Niemand durfte ihn anfassen oder falsch behandeln. Bis heute nagt an ihr die Ungewissheit, ob ihr das auch wirklich gelungen war. 

Vor 15 Jahren lernte sie ihren jetzigen Mann kennen. Sie hatte sich gerade von einem gewalttätigen Alkoholiker getrennt, was nicht ohne Polizei und Gerichtsbeschlüsse vonstatten ging. Er hatte sie drei Wochen vor der Hochzeit zusammengeschlagen und das war dann wohl der Punkt, an dem sie wach wurde. Sie ging am nächsten Tag nicht zur Arbeit und nutzte seine Abwesenheit dazu, in fliegender Eile ihre Sachen zu packen und – notgedrungen – bei ihrer Mutter unterzuschlüpfen. Drei Monate mit Magenschmerzen und Auseinandersetzungen mit der Mutter folgten. Ihr neuer Freund brachte ihr viel Verständnis entgegen und bemühte sich um ihren Sohn. Es gab viele Brüche – mal ging es darum, dass ihr Sohn sich gegen ihn stellte, mal darum, dass er ihm nicht genug Verständnis entgegenbrachte – und oft auch lag es an ihr. Seine Kindheit war auch nicht reibungslos verlaufen – allerdings hatte er sich zeitig von zu Hause gelöst, um keinen tieferen Schaden zu nehmen. 

Dies war der Zeitpunkt, an dem sie sich professionelle Hilfe suchte – mit der Begründung, dass sie meinte, nicht beziehungsfähig zu sein. Sie traf auf eine sehr gute, junge Therapeutin, die das Pferd von hinten aufzäumte. In der  Form, dass sie beim Begrüßungsgespräch zuerst nach der Kindheit fragte um sich ein Bild von ihrer Patientin zu machen. Bei den Erzählungen aus der Kindheit rollten ihr zu ihrem eigenen Entsetzen nun die Tränen aus den Augen. Sehr schnell kam die Therapeutin zu der Erkenntnis, dass sie nicht beziehungsgestört sei, sondern ein Opfer von sexuellem Missbrauch in der Familie. Während der Therapie wurde die Rolle der Mutter dann durchleuchtet und sie wurde gefragt, welchen Kontakt und welche Gefühle sie für ihre Mutter habe. „Wenn ich sie sehe, habe ich keine besonderen Gefühle. Ich mag sie nicht umarmen und auch nicht in den Arm genommen werden. Die Kontakte begrenze ich auf das nötigste“ erzählte sie. Ob sie sich bei wenig Kontakt zu ihrer Mutter wohl fühlen würde. Als sie das bejahte, riet ihr die Therapeutin, dann auch nichts daran zu ändern. Sehr schnell kam die Therapeutin zu dem Schluss, dass ihre Kindheit sie dahingehend geprägt habe, dass sie mit normalen, netten Männern nichts anfangen konnte. Alkoholiker, oder andere verkrachte Existenzen forderten sie dazu heraus zu beweisen, dass sie genug Liebe für diese Männer aufbringen würde, um sie zu heilen. Nach anderthalb Jahren nahm die Therapie ein Ende und sie nahm den Kampf mit ihrem weiteren Leben auf.  Es kam zu Familientreffen, bei denen sie ihrer Mutter nicht aus dem Weg gehen konnte. Die Mutter brüstete sich bei jeder Gelegenheit damit, dass sie ihre Kinder allein groß gezogen habe und immer alles für sie getan hätte. Nie hätte es ihnen an etwas gefehlt, auch wenn das Geld immer knapp war. Und stets verspürte sie bei diesen und ähnlichen Worten tief empfundenes Unbehagen. Ihre ältere Stiefschwester Ellen hatte sie erst im Jahr 2000 nach 20jähriger Abwesenheit von der Familie wiedergefunden und als der Termin für einen ersten Besuch anstand, wurde sie von der Mutter mit Anrufen bombardiert, dass sie mitfahren wolle. Nachdem sie das abgelehnt hatte, kam dann  später von der Mutter die Frage, ob die Schwester nach ihr gefragt habe – das war der Ausschlag gebende Punkt, an dem sie endgültig mit ihrer Mutter brach.

 „Hat Deine Schwester nach mir gefragt?“

„Sie hat nach allen gefragt!“

„Ich meine, ob sie speziell nach mir gefragt hat?“

„Warum sollte sie das wohl tun?“ kam es von ihr jetzt deutlich gereizt.

„Ich hab doch soviel für sie getan in der Vergangenheit und dachte, dass sie mich vielleicht sehr vermisst hat“  kam es von der Mutter.

„Ja, Du hast tatsächlich viel für sie getan. Hast dafür gesorgt, dass sie von einem alkoholisierten Vater betatscht wurde und wer weiß was sonst noch, während Du vor der Laube gesessen und den Zugang versperrt hast. Meinst Du nicht, das war genug des Guten?“

Am anderen Ende der Leitung wurde es still - Totenstill.

„Wie meinst Du das denn? Wovon redest Du?“ kam es dann deutlich stockend.

„Weißt Du, ich bin nicht so gut im verdängen wie Du – obwohl es Jahre gedauert hat. Willst Du vielleicht auch wissen, was Du mir Gutes getan hast und wie sehr Du immer um mich besorgt warst?“ fragte sie jetzt mühsam beherrscht.

„Kind. Ich weiß nicht, wovon Du sprichst“ kam es zögernd.

„Ich bin kein Kind mehr, Mutter. Ich bin 41 Jahre alt und habe Jahre und eine gute Therapeutin gebraucht um zu verarbeiten, was Du so gut verdrängt hast und was mein bisheriges Leben nachhaltig geprägt hat. Du hast mich als Märchenerzählerin abgestempelt, als Opa mich vor Jahren missbraucht hat!“

Es herrschte tiefe Stille am anderen Ende, dann kam es stockend und weinerlich:

„Ich wusste nicht, dass Du Dich daran erinnern kannst. Du warst doch noch so klein.“

„Bist Du Dir eigentlich nicht darüber im Klaren, ab welchem Alter Kinder ein Gedächtnis haben? Und dass sich tiefgehende Ereignisse sehr früh im Kopf eines Kindes festsetzen? Weißt Du eigentlich, was Du uns allen angetan hast? Vor allem uns älteren, MUTTER?“

Jetzt war es mit der Beherrschung am anderen Ende der Leitung vorbei und sie sagte: „Ich lege jetzt auf, Muter. Und wenn Du Dich beruhigt hast, darfst Du mich noch einmal anrufen.“

 Der Anruf kam dann nach einer halben Stunde und die Mutter entschuldigte sich mit der Angst vor ihrem damaligen Mann.

„Er hätte mich totgeschlagen, wenn ich nicht gehorcht hätte. Versteh doch.“

„Nein, Mutter. Ich verstehe nicht. Absolut nicht. Du hast vier Mal die Scheidung eingereicht und vier Mal zurückgezogen. Selbst beim 5. Mal, als ihr schon vor dem Scheidungsrichter standet, hast Du ihm noch eine Chance gegeben, als der Richter ihm sagte, wenn er einen Entzug machen würde, würdest Du die Ehe aufrecht erhalten. Unser Glück, dass er lieber weiter saufen wollte und sich endlich scheiden ließ. Als kinderreiche Problemfamilie hattest Du wöchentlich Kontakt zum Jugendamt. Jeder hätte Dir geholfen, wenn Du nur gewollt hättest. Es gibt wirklich keine Entschuldigung von Dir, die ich gelten lasse.“

Es kam keine Frage danach, ob sie ihr je verzeihen würde – im Gegenteil. Bei jeder der seltenen Gelegenheiten, kehrte die Mutter die reine Fürsorge heraus und tat so, als sei nie irgendein Missverständnis zwischen ihr und ihrer ältesten leiblichen Tochter gewesen - die Stiefschwester wurde damals von ihrem Vater mit in die Ehe gebracht und auch was ihr geschehen war, schien der Mutter scheinbar nicht von Bedeutung.

Irgendwann sagte sie ihrer Mutter dann, dass sie keinen Kontakt mehr zu ihr wünsche und sie ihr aus dem Weg gehen solle. Ihr Mann erteilte ihr Hausverbot und würde sie nur über seine Leiche in seine Wohnung lassen. Nun endlich hatte der Heilungsprozess eingesetzt. In unendlichen Gesprächen verarbeitete sie mit ihm ihre Kindheit und oft war auch ein Bruder oder eine Schwester dabei.

In all den letzten Jahren ist er ihr Fels in der Brandung, bringt ihr bedingungslose Liebe  entgegen und fängt sie auf, wenn sie fällt…

 

©Christina Maverik

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Christina_Maverik
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AmelieRenee Danke, für deine Erinnerung. Ich konnte nicht alles lesen. Weiß wo von du spricht und habe selber ein Trauma davon weg.

LG Amelie
Vor langer Zeit - Antworten
NorbertvanTiggelen Hai..... - habe den Text mal ganz kurz überflogen und ein paar sehr interessante Passagen entdeckt, die mich direkt dazu zwangen, das Werk zu meinen Favos zu holen.
Im Moment nicht viel Zeit zum lesen, aber zum W-Fest bestimmt. Freue mich schon drauf.
LGNorbert
Vor langer Zeit - Antworten
ulla Eine sehr traurige Geschichte, die mich tief betroffen gemacht hat,
leider werden solche Verbrechen und dazu zähle ich auch das Wegschauen viel zu milde bestraft,
ich wünsche dieser Frau viel Kraft für die Zukunft,
man kann nichts ungeschehen machen, doch man kann Stütze und Hoffnung sein
liebe Adventgrüße
ulla
Vor langer Zeit - Antworten
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