Alltag oder ..?
"Traumgeschichte"
Es war wieder soweit. Frau Keller stellte den Wecker ab, blieb aber noch ein wenig schlummernd liegen, bevor sie sich überwand aufzustehen und ins Bad zu gehen. Jeden Morgen um die selbe Zeit, es war sehr früh, die gleiche Prozedur. Aufstehen, ein Blick aus dem Fenster, Wasser für den Kaffee aufsetzen und dann ins Bad.
Es schien heute gar nicht hell zu werden. Es war schon Herbst und die Tage wurden schnell kürzer. Gott sei Dank regnete es nicht schon wieder.
Sie blickte sich in ihrer kleinen Küche um und dachte so bei sich, wie ruhig es heute war. Aber es war jeden Tag immer gleich still. Nachdem sie die Zeitung geholt hatte, brühte sie sich ihren Kaffee, sie hielt nichts von den neumodischen Kaffeemaschinen, und setzte sich dann anschließend zum Lesen auf die kleine Eckbank. Wie immer las sie zuerst die Todesanzeigen, immer in der Hoffnung, dass keine bekannten Namen zu lesen waren. Die Seite mit der Todesanzeige ihres Mannes hatte sie sorgfältig in ihrem Fotoalbum aufbewahrt.
Den Wirtschaftsteil der Zeitung überging sie. Sie interessierte sich mehr für das lokale Geschehen. Wieder eine kleine Rauferei in der Bar, an der sie bei ihrem Weg zur Arbeit vorbei kam. Ein Ladendiebstahl, den zwei Jugendliche begangen haben, zu schnelles Fahren in einer verkehrsberuhigten Zone und der Anbau der Schule sollte nächste Woche eingeweiht werden. Sie las wie jeden Morgen. Und wie an jedem Morgen wurde sie durch das Geräusch eines vorbeifahrenden Lastwagens daran erinnert, dass es Zeit wurde, sich auf den Weg zu machen.
Sie versorgte das Frühstücksgeschirr in der Spüle, schloss alle Fenster und zog sich ohne Hast an. Das Anziehen der Schuhe fiel ihr immer schwerer. Die letzte Hüftoperation hatte ihr zwar Erleichterung verschafft, doch das zunehmende Alter machte sich nun doch bei ihr bemerkbar.
Auf der Straße war wenig Verkehr. Nur ab und zu fuhr ein Auto an ihr vorbei. Die Kinder, die zur Schule mussten, schliefen um diese Uhrzeit noch und die Menschen die jetzt unterwegs waren, mussten schon, wie sie, sehr früh zur Arbeit. Das hektische Treiben würde erst in ein oder zwei Stunden beginnen.
Sie lief an der Bar vorbei, in der letzte Nacht noch gerauft wurde und bog links in die lange Allee ab und genoss die frische Luft, die heute so ganz anders zu schmecken schien. Zaghaft sorgten die ersten Sonnenstrahlen dafür, dass es heller wurde.
Als sie so ging, dachte sie immer gern an vergangene Zeiten. Wie schön es war, als sie noch mit ihrem Mann Gerhard die gleiche Strecke zu ihrem Kiosk spazierten. Es war ihr gemeinsamer Weg, und dass über viele gemeinsame Jahre.
Es waren noch wenige Minuten bis zu ihrer zweiten Heimat, ihrem Kiosk. Dabei fiel ihr auf, dass ihr heute Frau Schmidt mit ihrem Hund noch nicht begegnete. Frau Schmidt war zu dieser Zeit immer mit Ihrem kleinen Dackel unterwegs und der erste Mensch, mit dem sie die ersten Worte am Tag wechselte. Es war schon verwunderlich, wie man sich an Dinge gewöhnen konnte. Sie machte sich jedoch nicht zu viele Gedanken darüber und kam nach ein paar Schritten, nachdem sie die Kreuzung hinter sich ließ, bei ihrem Kiosk an.
Der Zeitungslieferant wartete bereits. War sie heute zu spät? Herr Kohler, der die Zeitungen lieferte, begrüßte sie herzlich und konnte sich einen kleinen Scherz nicht verkneifen. Sie schaute auf die Uhr und bemerkte, dass sie sich tatsächlich um zwanzig Minuten vertan hatte.
Sie schloss den Kiosk auf und Herr Kohler stellte die Stapel mit den Tageszeitungen und Zeitschriften sorgfältig ab. Nach einem kurzem Gespräch lud er die Zeitungen von gestern in sein Fahrzeug, verabschiedete sich und fuhr zur nächsten Kundschaft.
Sie machte sich an die Arbeit. Routiniert sortierte sie die neue Tagespresse in das Rondell. Danach betrat sie durch die Hintertür ihren Kiosk. Sie nahm die vertrauten Gerüche wahr und schaltete die Innenbeleuchtung ein. Sie sah den Stuhl in der Ecke, der immer an der gleichen Stelle stand. Sie sah auch die Strickjacke von Gerhard, die noch über der Lehne hing. Auf dem kleinen runden Tisch stand wie gewohnt der viereckige Glasaschenbecher mit Gerhard´s Pfeife. In Gedanken brannte dies Pfeife noch, obwohl sie schon seit einem Jahr nicht mehr benutzt wurde. Sie roch den Tabak, der in der Luft hing.
Immer schon wollte sie den fehlenden Knopf an der Strickjacke ersetzen. Gerhard hatte sich immer darüber geärgert, dass ein Knopf fehlte. Jetzt, wo Gerhard nicht mehr war, hatte sie es sich schon ein paar Mal vorgenommen, den Knopf anzunähen und es dann doch nicht über das Herz gebracht. Würde sie diesen Knopf annähen, würde ja nichts mehr fehlen. Würde ihr dann Gerhard auch nicht mehr fehlen? So hatte sie alles gelassen, wie es war. Sie erinnerte sich daran, wie er die Jacke anzog und sich jedes Mal über den fehlenden Knopf ausließ. Würden diese Worte aus ihrem Kopf verschwinden? Würde Gerhard aus ihrem Kopf verschwinden, wenn sie den Knopf nun annähen würde? Sie nahm sich vor, dies nicht zuzulassen.
Zwanzig Minuten! Es war ihr ein Rätsel. Sie hatte sich noch nie verspätet. Gleich müsste Herr Steir kommen und seine Frankfurter Rundschau holen und sie hatte noch nicht einmal die Rollläden hoch gezogen. Sie beeilte sich, den Kiosk für Ihre Stammkunden zu öffnen. Doch Herr Steir kam nicht. Sie hielt auf der Strasse Ausschau. Herr Steir war ein netter alter Herr, der schon seit Jahren bei ihr seine Zeitschrift kauft. Na ja, dachte sie bei sich, vielleicht hat er heute verschlafen.
Es war noch so viel zu tun. Sie wollte die Süßigkeiten überprüfen und neue Ware bestellen. Und da war noch diese neue Maschine, die Gerhard im letzten Frühjahr gekauft hatte. Junge Leute lieben Hot Dog´s, hatte er immer gesagt. Und er war nicht davon abzubringen. Manchmal hatte er schon verrückte Ideen. Wer in aller Welt sollte in dieser Straße Hot Dog´s kaufen? Aber er setzte, wie so oft, seinen Kopf durch und kaufte ohne weiter über diese Einwände nachzudenken, diese vermaledeite Maschine. Jetzt stand sie in der Ecke und verstaubte langsam vor sich hin.
Die Sonne setzte sich immer mehr gegen die Nacht durch und es wurde deutlich lauter auf der Straße. Die ersten Passanten standen an der Bushaltestelle und warteten auf den nächsten Linienbus.
Die kleine Bea aus dem gegenüberliegenden Haus müsste eigentlich gleich kommen, um ihre täglichen Süßigkeiten zu kaufen. Sie liebte die langen sauren Gummischlangen. Mindestens drei mussten es immer sein. Heute ließ sich die kleine Bea vielleicht etwas mehr Zeit. Vielleicht hatte sie auch später Schule. Sie verlor keine weiteren Gedanken darüber und schrieb auf, was sie noch bestellen musste.
Heute war es einfach anders wie sonst. Keine Frau Schmidt, kein Herr Steir und die kleine Bea von nebenan ließ sich auch nicht blicken. Eigentlich kam heute gar keine Kundschaft.
So langsam beschlich sie ein beklemmendes Gefühl. Sie betrachtete die vorbeilaufenden Leute. Sie schienen sie und ihren Kiosk gar nicht wahrzunehmen. Niemand grüßte und niemand schien in ihre Richtung zu sehen. Sie zog in sich in den hinteren Raum zurück. Alles war unverändert. Die Jacke, der Aschenbecher und die Pfeife, alles war an seinem Platz, wo es immer war. Plötzlich wurde ihr schwindlig und sie musste sich gegen die Wand lehnen. Der Kopf schien ihr zu explodieren. Es drehte sich alles. Sie merkte, wie sie die Kraft verließ und zu Boden stürzte.
Als sie erwachte, war alles ruhig um sie herum. Sie stand auf und fühlte sich unheimlich leicht. Sie war gut gelaunt und ging zum Verkaufsraum.
Dort stand Herr Steir. Frau Schmidt hatte ihren Dackel auf dem Arm und lächelte ihr zu. Die kleine Bea streckte ihr Kleingeld hin, mit dem sie Süßigkeiten kaufen wollte. Doch wer war der Mann auf der anderen Straßenseite? Er kam ihr sehr bekannt vor. Sie erkannte die Strickjacke und die Art wie der Mann die Pfeife hielt. Sie traute ihren Augen nicht, als sie Gerhard dort stehen sah. Mit langsamen Schritten kam er auf sie zu. Ihr Herz schlug wie verrückt. Gerhard lachte sie an. Er trug die Strickjacke, die immer über der Stuhllehne hing. Sie konnte es nicht fassen. Der fehlende Knopf war angenäht. Gerhard bat sie, ihn zu begleiten. Sie fragte ihn wohin. Da lachte er und legte den Arm um sie. "Weißt du", erklärte er, "ich habe da so eine Idee. Was hälst du davon, wenn wir uns vergrößern? Ich meine, so richtig vergrößern. Nicht nur einen kleinen Kiosk, sondern ein richtig nettes kleines Cafe, wo sich alle, die wir kennen, treffen können. Für die jungen Leute könnten wir Hot Dog´s machen und so."
Sie erwiderte, dass sie erst noch die Bestellung fertig machen müsste und nicht sofort alles übers Knie brechen könne. Heute wäre sie schon spät dran und überhaupt... Da lachte Gerhard und sagte, was denn schon zwanzig Minuten seien, wenn ihr die ganze Ewigkeit zur Verfügung stehen würde.
Am nächsten Tag stand im Lokalteil der ansässigen Zeitung, dass trotz 20-minütigen Wiederbelebungsversuchen des Notarztes am frühen Morgen die Kioskbesitzerin Frau Erika Keller nicht mehr zu retten gewesen sei und an Herzversagen verstarb.
Die kleine Bea kam durch einen rücksichtslosen Raser, in einer 30-er Zone ums Leben.
In den Todesanzeigen befanden sich auch die Namen von Herrn Steir und Frau Schmidt.
Na ja, vielleicht treffen sich alle in einem kleinem Cafe, in dem man sich kennt und Hot Dog´s bestellen kann.