Romane & Erzählungen
Traum

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"Traum"
Veröffentlicht am 15. Oktober 2009, 8 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Traum

Traum

Der Träumer

Der Träumer

„Was ist ein Traum?“, fragst du mich und setzt dich zu mir.
„Wie, was ist ein Traum?“, frage ich zurück und mustere dein trauriges Gesicht. Etwas in deinem Leben war geschehen, etwas, das wohl zuviel war für dich, was du nicht verarbeiten kannst. Ich wage nicht danach zu fragen, sehe dich bloß an.
„Träumen...,“ flüsterst du und schaust auf den Boden.
„Woran merke ich, dass ich träume?“
Ich versuche zu verstehen was mit dir los ist. Will dir eine Antwort geben, eine von den vielen seltsamen Antworten die in meinem Kopf umherschwirren. Aber ich weiß nicht wer du bist. Welche Phrase dich zerstören würde, was du hören willst und schon gar nicht warum du fragst.
„Ein Traum...,“ beginne ich und versuche in deinem Gesicht zu erkennen was für ein Mensch du bist und warst. Aber es ist ausdruckslos, fast völlig bleich. Nur die Trauer ist klar zu erkennen, die Trauer und die Sonne in deinen glasklaren Augen, wie sie sich spiegelt in den trocknenden Tränen.
  Du wirkst ungeduldig, wie du deine Füße immer wieder zusammen und auseinander schiebst und mich abwechselnd ansiehst und dann schnell wieder wegschaust, wenn ich deine Blicke erwidere.
  Komisch hat es sich angefühlt als du dich zu mir gesetzt hast. Seltsam fremd und gleichzeitig so vertraut.
  Ich lächele und hoffe du tust es mir nach. Aber du hast es wohl verlernt. Nimmst bloß die kleine, grüne Spange aus deinen strähnigen, braunen Haaren und drehst sie zwischen deinen Fingern.
  „Ein Traum...,“ versuche ich mich erneut und starre auf die Bahnschienen vor unseren Nasen. Sie glänzen an den Stellen an denen sie besonders abgenutzt sind und werfen seltsame Schatten an die mit Graffiti besprühten Wände des Bahnhofs. Parolen und Sprüche, seltsame Zeichen und sicherlich viele besondere und sehr intelligente Personen, die dahinter stecken. Sind sie Träumer? Träumt der Mensch, wenn er die Bilder in seinem Kopf hat, die er später an Wände oder auch nur auf einen alten Collegeblock malt? Und wovon träumt so eine junge Seele, die Nacht für Nacht die Gefahr auf sich nimmt, gefasst und verknackt zu werden? Und das für ein paar Bilder?
  Eine junge Frau geht an uns vorbei. Sie trägt hohe Lederstiefel, einen roten Minirock und ein seltsam, durchsichtiges Oberteil unter der großen, lila-farbenen Federboa. Ihre Schminke ist verwischt und sie hat dunkle Ränder unten den müden Augen. Der Gürtel um ihren Oberarm schlackert an ihrem Körper herab. Sie muss vergessen haben ihn abzunehmen. Ich betrachte sie und du tust es auch, denkst vielleicht das gleiche wie ich.
  Wovon träumt so eine heroin-abhängige Hure? Hat sie überhaupt noch Träume, Wünsche oder Ziele, wenn sie Mann für Mann in sich kommen spürt? Männer, von denen sie nichts weiß und die nichts über sie wissen, mit denen sie dennoch das Intimste teilt?
  In meinem Augenwinkel sehe ich, dass du deine Aufmerksamkeit bereits auf eine andere Person gelenkt hast.
  Ein alter Mann sitzt auf der Bank neben uns. Er hat nur noch wenige Haare auf dem Kopf und seine Kleidung besteht bloß aus einer Cordhose, einem alten Hemd und einer Strickjacke. Seinen Hut hält er in der Hand und dreht in verträumt immer wieder herum, so wie du es noch vor einigen Sekunden mit deiner grünen Spange getan hast.
  „Der Mann träumt.“, flüsterst du so leise, dass ich es fast überhört hätte. Ich sehe dich an.
  „Ja, sieht ganz so aus!“ Meine Antwort hallt in meinem Kopf wider. Ich versuche nachzuempfinden wie sie auf dich gewirkt haben könnte.
  „Was denkst du ist es, was ihn vor der Realität fliehen lässt?“
  Ich muss inne halten. Für einen kurzen Moment fühle ich mich ertappt, ausgetrickst von dir und gleichzeitig freut es mich auch, dich diese Frage stellen zu hören.
  Ich zucke mit den Schultern obwohl ich bereits nachdem du die Frage gestellt hattest, meine Antwort parat hatte.
  Wir beide sehen uns den Mann erneut an. Sein Blick ist geradeaus gerichtet und doch scheint es, als nehme er nichts von dem wahr, was sich dort vor seinen Augen abspielt. Er schaut einfach hindurch, durch Mauern, durch Menschen, die still und leise durch den Bahnhof schlendern, oder rennen, oder sich aber auch lautstark unterhalten und durch alles andere was da ist. Ich wende meinen Blick von ihm ab und schaue zurück auf die Prostituierte. Auch sie starrt bloß in die Richtung aus der der Zug kommen wird. Ihr Blick ist ebenfalls leer, verschlossen für das, was sie umgibt, für das, was ihr Tag für Tag begegnet. Und doch wirkt sie nicht kalt und erfroren, allein oder mittellos. Nein, sie wirkt beschützt, zufrieden und glücklich, so als lebe sie in einer bunten eigenen Welt hinter ihrer grauen, trüben Fassade. Sie wirkt so, als habe sie ganz viele dieser bunten Graffitis in sich.
  Sie wirkt wie ein Träumer, verträumt, in einem Traum versunken.
  In einer kleinen, privaten Welt, die nur für sie allein bestimmt ist, in der niemand ist, den sie dort nicht haben möchte, kein Zuhälter, keine Freier und keine Polizisten. So wird es wohl auch in dem alten Mann aussehen. Vielleicht ist seine verstorbene Frau in seinem Traum, oder seine Enkel, vielleicht ein anderes schönes Erlebnis aus alten Tagen. Ich muss lächeln und sehe dich an.
  Du erwiderst meinen Blick plötzlich und auch die vorherige Trauer und Blässe sind verschwunden. Es scheint fast so, als hast du genau das Selbe gedacht wie ich. Deine Lippen beben. Ich warte ab, mein Blick bleibt auf dich gerichtet.
  Plötzlich entsteht ein Lächeln in deinem Gesicht und es sind nicht mehr die Tränen welche die Sonne reflektieren, nein, es ist etwas Anderes, das deine Augen zum glänzen bringt.
  Dann atmest du tief ein, schlägst dir sanft auf die Oberschenkel und stehst auf. Ich bin verwundert. Verstehe dich nicht, habe aber auch nicht das Bedürfnis dich aufzuhalten, obwohl ich mir wünschte du würdest noch bleiben.
  „Was ist denn nun ein Traum?“, fragst du, fast frech und relativ laut.
  Ich lehne mich zurück und schlage die Beine übereinander.
  „Wenn der Schmerz der Realität verschwimmt und die Welt der Illusionen dich in sich aufsaugt - dann träumst du!“, sage ich und du nickst, und lächelst und bindest deine Haare zu einem Zopf zusammen.
  „Dann ist ja gut.“ Und dann gehst du, steigst ein in den Zug der gerade angekommen ist. Steigst ein in den Zug auf den du gewartet hast, steigst ein mit der Hure und dem alten Mann. Ich sehe noch wie du dir einen Platz suchst und dich niederlässt. Dann fährt er schon wieder ab, der Zug, vorbei am Graffiti, vorbei an unzähligen anderen Träumern im Bahnhof, vorbei auch an mir und raus in die Welt.
  Jetzt erst wird mir klar, dass ich dich niemals wieder sehen werde. Ich atme tief ein und muss seufzen. Dann stehe auch ich auf, ziehe meine zerrissene Jeans hoch, kratze mich an meinem grauen Bart und gehe dann Schritt für Schritt, langsam in Richtung Innenstadt, um mir ein Plätzchen für die Nacht zu suchen.
  Seit fünfundzwanzig Jahre lebe ich nun auf der Straße und nicht ein einziges Mal, in dieser Zeit, habe ich mich gefragt, wie man das nennt, wenn ich mich in meine eigene, kleine, heile Welt zurückziehe. Noch nie hatte ich einen Namen dafür, und dann kommst du daher und fragst mich, was ein Traum ist. Und plötzlich weiß ich, dass ich der wohl größte Träumer bin, dem ich je begegnet war.

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Slamboreeno

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