Kurzgeschichte
Liebste

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"Liebste"
Veröffentlicht am 25. September 2009, 24 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Sapere aude!
Liebste

Liebste

Einleitung

Ein junger Mann verliert seine große Liebe und sucht nach einem Sinn im Leben

Erster Brief

Sicherlich fragst du dich, warum ich dir schreibe. In all den Jahren, seit wir uns die Liebe schworen, habe ich dir kein Sterbenswörtchen geschrieben. Nun, da du jetzt weit weg von mir bist und es mich unentwegt nach deiner Liebe sehnt, habe ich beschlossen, meine Gefühle nieder zuschreiben. Zum Schweigen bin ich nicht mehr fähig, zum Sprechen fehlst mir du! Die ersten Tage meiner Einsamkeit war ich gewillt stark zu sein. Schließlich entstamm ich, wie du weißt, einer stolzen, geschichtlichen Familie. Viele große Männer brachte unser Ban-ner empor. Wenn nicht öffentlich, dann gewiss in den nötigen Kreisen bekannt

und geschätzt. Ich war mir sicher, es läge mir im Blut, stark zu sein, Herr jeder Lage zu sein. So war und ist es aber nicht. Ich bin ein schimmelnder Holzbalken, von Würmern durchfressen und doch in der Pflicht, ein Haus zu tragen. Dem Alltag zu entfliehen, entschied ich mich. Die folgenden Tage ist reichlich Wein geflossen. Einige Wochen, gar Monate existierte ich auf diese Weise. Der sündige Trank, so lieblich er schmeckt, ließ mich vergessen. Bis zum nächsten Erwachen, am folgenden Tag. Statt wie erhofft den Schmerz zu ertränken, ertrank ich im Selbstmitleid und im Verlust jeglichen Willens,

weiterzuleben. Immer weiter zog mich der Sog, der Schlund jenes Leidens zum Grund der Sinnlosigkeit. Aber bitte Liebste, sorge dich nicht, denn vor einigen Tagen änderte sich alles schlagartig. Am Abend des Vortages versuchte ich wieder, das schmerzende Feuer meiner Seele mit Alkohol zu löschen. Wohl der Gewohnheit war es zu verdanken, dass eine sehr geringe Menge mich schon betäubte. Der Verstand verschwand. Einzig an den nächsten Morgen erinnerte ich mich. Wie ich dahin kam, das blieb ein Rätsel, aber am Ufer eines kleinen Baches, klar und rein sein schnelles Wasser, erwachte ich, doch ohne Kraft, mich auch nur ein Stück zu

rühren. Meine Kleidung, wenn ich sie noch so nenne durfte, war voll der letzten Speise. So lag ich da und lauschte dem fließenden Nass. Ich beschloss, einen Neuanfang zu wagen. Ohne Zweifel hättest du es so von mir gewollt. Erinnerst du dich an das kleine Häuschen mit dem hölzernen Vorbau? Stets, wenn wir daran vorbeigingen, sagtest du, es tue deinem Herzen leid, zu sehen, dass es gleich einem alten Weibe immer weiter in sich zusammen sackte. Damals nahm auch ich deiner Worte Traurigkeit nicht so wahr, wie du sie fühl-test. Unverständlich erschien sie mir, wo wir doch unsere Zukunft in Freude vor uns hatten.

„Wenn du willst, kaufe ich dir das Haus“, versprach ich dir mit heiterer Laune. Erst als ich ohne dich im Arm daran vorbeiging, überkam mich die Erinnerung. Ich blieb stehen und starrte das verödete Bauwerk an. Mit meinen Ohren hatte ich dir zugehört, nicht mit meinem Herzen. Plötzlich verstand ich dich. Tränen strömten meine Wangen herunter. Mir tat der Anblick leid. Niemand sonst schenkte dem alten Bau Beachtung, obwohl es keine hundert Schritt von der mit Menschen gefüllten Hauptstraße entfernt in der schmalen Gasse nahe der alten Schmiede lag. Wenn jemand es doch eines Blickes würdigte,

dann den der Missbilligung. Kürzlich hörte ich vornehmer Leute Äußerungen: „Unverständlich, dass keiner sich dieser Ruine inmitten unserer schönen Stadt annimmt und es ersetzt. Wie wäre mir eine Parfümerie hier nützlich.“ Wie konnten sie nur solch unnützes Zeug einem geschichtlichen Wert vorziehen? Muss sich alles dem gierig nach sich greifenden Konsum beugen? Wen kümmerte es, dass diese Ruine unserer Stadt ältestes Gebäude war, welches uns war noch unverändert erhalten geblieben? Dich! Dich kümmerte es! Der Neugier wegen, ließ ich beim Amt prüfen, zu wessen Besitz es zählte. Seit Jahren schon stand es leer. Zuletzt

bewohnt von einer alten Dame, die es der Stadt überließ, da ihr selbst kein Erbe gegeben war. Hätten Kriege die Stadtkasse nicht erschöpft, wäre es längst abgerissen und durch ein Handelshaus ersetzt worden. Pläne dafür waren bereits vorhanden. Gewiss sitzt du nun voll trauriger Erinnerungen des alten Hauses wegen und fragst dich, warum ich dich damit kränke. Doch sage ich dir: „Trauere nicht Liebste, denn ich habe es gekauft. Ja, du liest recht. Mein Versprechen habe ich gehalten und es deinetwegen gekauft. Mein ganzes Hab und Gut habe ich gesammelt und in das verödete Bauwerk investiert. Dank des guten Rufs meines

verstorbenen Vaters, erhielt ich ohne große Schwierigkeiten einen Kredit von der Bank seiner Majestät. Ein Kredit war unumgänglich, da mir meine ach so stolze Familie mit Unverständnis und Abneigung begegnete und meine Pläne für die Fehltat eines frustrierten Alkoholikers hielt, welcher ich in ihren Augen schon seit langen war. Deswegen brachten sie mir keine Hilfe entgegen. Sie boten mir diese nicht einmal an. Scheinbar fiel es ihnen leichter, mich als ein hoffnungsloses Familienmitglied abzustempeln, denn mir beizustehen. Lange dauerte die Restaurierung. Wenn du es nur sehen könntest! Alles was

erhalten werden konnte, wurde erhalten. Nur was ersetzt werden musste, wurde dem wahren Baujahr entsprechend ersetzt. Es ist prächtig! Das alte Holz des Vorbaus wurde komplett erneuert und der Vorbau sogar erweitert. Die Fenster des Erdgeschosses, die zur Gasse zeigen, wurden durch das legendäre Glas der schönen Lagunenstadt Venedig erneuert. Aber das Wichtigste ist: Die Trauer beim Anblick des einsamen alten Hauses ist der Freude eines neuen helfenden Hauses gewichen. So wie du es gewollt hättest, habe ich daraus eine Station für verwaiste Kinder gemacht. In den oberen Stockwerken wohnen die Kinder und ich. Hier werden sie von mir auch im

Schreiben und Rechnen unterrichtet. Das Erdgeschoss nimmt zum Teil eine Bäckerei ein und im Keller befindet sich eine Schneiderei. Beides betreibt jeweils ein Meister seines Handwerks mit der Hilfe von je vier der älteren Kinder. Insgesamt leben hier achtzehn Kinder. Ganz oben sind acht Mädchen untergebracht, ein Stockwerk tiefer zehn Buben und ich. Unser Jüngstes ist ein Mädchen von etwa einem Jahr. Ich fand sie in dem Armenviertel schreiend auf der toten Mutter liegen. Unser ältestes Fräulein nahm sich ihrer an. Unterstützung fand und finde ich selbst beim Amt keine. Wir müssen uns selber über Wasser halten. Doch mit diesen

artigen und fleißigen Mädchen und Buben ist es ein Leichtes, eine solche Last zu tragen. All diese lieben Kinder, sie sind für mich die Kinder, die wir zwei immer wollten, aber niemals haben konnten. Meine alten Geschäftsbeziehungen erwiesen sich als hilfreich. Von uns ge-schneiderte Hemden werden auf dem großen Markt mit Erfolg verkauft. Ein dort tätiger Händler war mir einen Gefallen schuldig. Dank des großen Vorbaus ist es uns gelungen, die Bäckerei mit einem Kaffeehaus zu kombinieren. Auf diese Weise können wir das frisch Gebackene direkt zum Kaffee an-bieten. Derzeit betreiben wir das

einzige Kaffeehaus der Stadt, weshalb zu unserer Kundschaft sogar das fein betuchte Bürgertum gehört. Nicht, dass ich sie haben will, aber dies sichert uns das für den Kreditzins notwendige Ein-kommen. Für den Straßenverkauf steht ein Seitenfenster zur Verfügung. Hier kaufen überwiegend die einfachen Leute ihr tägliches Brot. Wer im Kaffeehaus sitzt, wird nicht vom direkten Verkauf gestört und kann seinen Kaffee in Ruhe genießen. Den Röster und die stets frischen Kaffeebohnen erwerbe ich eben-falls von einem alten Bekannten, dem ich einst geholfen hatte. Alles läuft fantastisch. Die

Kreditzahlungen neigen sich bereits dem Ende entgegen. Das habe ich dir zu verdanken, mein liebster Engel. Du hast mir wieder Kraft gegeben. Deine Idee, dein Traum sind jetzt mein Leben. Wenn doch du noch bei mir wärst. Es wäre für mich das Paradies auf Erden. Aber dieses kennst du besser als ich. Ich liebe dich unendlich!




Zweiter

Brief Mein Liebster Engel, wie gerne würde ich dir nur mit dem Wissen von vor einem Jahr über die Schönheit des Lebens erzählen. Davon, dass wir sogar überlegen, unser Wohnheim zu erweitern, weil das Geschäft so märchenhaft läuft. Dass die Kinder nun Lesen und Schreiben können. Aber ich kann nicht. Jetzt nicht mehr! Verzeihe mir, dass ich dich kränke, dich zum Weinen bringe. Doch ich muss es dir erzählen, obwohl ich mir sicher bin, dass du es bereits weißt. Alles haben sie mir nun genommen. Das Letzte von dir haben sie mir genommen. Deine Idee. Deinen

Traum. Mein Leben. Eines Tages stand die Gendarmerie vor unserer Tür. Mir wurde vorgeworfen, den Kaffee auf dem illegalen Wege zu erwerben. Selbstverständlich konnte ich dem Richter das Gegenteil beweisen, da ich schon fast nach preußischer Manier jede nötige Quittung und Urkunde aufbewahrt hatte. Die Anklage wurde fallen gelassen. In der Zeit, wo ich im Gefängnis auf mein Verfahren vor dem Gericht wartete, kamen öfters Geschäftsleute bei den beiden Meistern vorbei und schlugen ihnen einen Kauf unserer Geschäfte vor. Weil beide gute, loyale Männer sind, lehnten sie jedes Kaufangebot ab, mit der Begründung, sie

seien nicht die Besitzer. Ihnen aber wurde versichert, dass wenn sie verkaufen wollen, es schon rechtens sein wird. Auch mir persönlich wurde später ein Angebot unterbreitet und nahe gelegt, dieses ja anzunehmen. Weitere würden nicht folgen. Ein Angebot, welches in keiner Weise der Realität entsprach. Ich hielt das für die typischen Einschüchterungsversuche der Konkurrenz. War mir doch nicht bewusst, welche Person die nötigen Fäden zog. Selbst wenn ich wollte, ich konnte nicht. Wo sollte ich mit den Kindern hin? Sie wieder auf die Straße setzen? Doch vielleicht wäre es das kleinere Übel gewesen. Von diesem Tag an wurde

unsere Kundschaft immer kleiner. Zuerst und beinahe zeitgleich besuchte uns keine Person der oberen Schicht mehr. Gerüchte machten die Runde, wir würden unseren Kaffee mit den Ausscheidungen des menschlichen Körpers verdünnen, der Kaffee sei in Wirklichkeit aus Rossäpfeln nicht aus Kaffeebohnen, und so weiter und so fort. Kannst du dir, Liebes, vorstellen, wie es mich schmerzte, solch Unfug über unser Lebenswerk zu vernehmen? Zur Freude für den nun Kaffee losen Aristokraten eröffnete nur eine Straße weiter ein Cafe nach französischer Art. Der Besitzer war kein geringerer als der Cousin seiner Majestät persönlich. Müsste ich nur das

Kaffeehaus schließen, hätten wir uns mit der Bäckerei und der Schneiderei noch halten können. Rufmord zerstörte uns. Keiner wollte mehr unsere Waren sehen, geschweige denn kaufen. Wie konnten sie uns das nur antun? Was hatten wir Verbotenes getan? Nach nur einem Monat fehlten mir die nötigen Finanzen, um den Kredit zu bezahlen. Die Bank ließ nicht lange auf sich warten. Sie gab uns zwei Tage Zeit das Haus zu räumen. Gegen den Vertragsinhalt wurden wir enteignet. Missmut und Wut, Schmerz und Leere übermannten mich. Welche Möglichkeiten der Verteidigung hatte ich schon? Mich gegen den Adel aufbäumen? David gegen Goliath, nur dass mir sogar

meine Schleuder genommen wurde. Einzig das Inventar konnte ich noch verkaufen und das Geld unter den Kindern und den Meistern verteilen. „Machen sie sich um uns keine Sorgen, Herr! Wir sind nicht verloren, wir wissen uns zu helfen. Sie haben uns Schreiben und Lesen gelehrt, uns ein Handwerk beigebracht. Sie sind ein guter Mensch, Herr. Gott wird ihnen beistehen.“ Die Kinder waren stark, stärker als ich. Sie hatten schon so viel Leid in ihrem jungen Leben gesehen und doch strahlten ihre Augen stets Hoffnung aus, während sich meine erneut der Trauer widmeten. So fiel ich wieder in ein tiefes, schwarzes

Loch ohne den Glauben auf Rettung. Hier zu sein, macht keinen Sinn mehr. Also habe ich vereinbart, für immer zu gehen. Fort von allem Bürgerlichen und Weltlichen. Zu einem Ort, wo nur Glück und Frieden herrscht. Als solchen Ort gibt es nur einen: Bei dir, in deinem Gefilde. Dritter Brief Mein Liebling, gleich ist es so weit. Ich bin nun hier, wo ich dich zum letzten Mal sehen durfte, bevor man dich mir

nahm. Wo dein Name steht, gemeißelt in Granit. Endlich, nach all der langen Zeit, werde ich dich in meine Arme schlißen, den Duft deiner Haare riechen, in dem bezaubernden Grün deiner Augen versinken und die Wärme deiner weichen Lippen genießen, wenn ich dich sehnlichst küsse. Alles Leiden, Kummer und Not haben gleich ein Ende. Es bedarf nur noch der kurzen Bewegung eines einzelnen Fingers. Bis gleich, Liebste!

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Nurbat
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Gast Ehrlich und offen. Eine schöne Geschichte
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