Allgemein war es keine dieser Partys, auf die er normalerweise gegangen wäre. Er ging hin, um einen Grund zu haben, sich zu betrinken. Er kannte niemanden dort, das wusste er schon vorher, und damit war es eine günstige Gelegenheit, sich in irgendeiner Ecke irgendein Zeug hinter die Binde zu kippen, vielleicht Gin Tonic, mal sehen. Obwohl, bei diesen abgefahrenen Anderwelt-Partys wurde in der Regel genauso abgefahrenes Zeug getrunken, diese JdW-Kinder hatten einfach etwas gegen die guten alten Classics, für sie musste immer alles möglichst ausgefallen sein, wusste der Henker warum. So waren sie halt, das musste man akzeptieren, und sich mit dem zufriedengeben, was man bekam.
Betrunken in irgendeiner Ecke liegen – der Gedanke gefiel ihm zunehmend besser. Wenigstens einen Abend.
Er traf seine Vorbereitungen schon am Nachmittag, saß ab um vier im Bad auf dem herunter geklappten Klodeckel und rauchte eine selbstgedrehte Zigarette nach der anderen, bis ihm schlecht wurde. Jedesmal, wenn er mit Drehen beschäftigt war, ließ er die Badür auf, damit der Rauch abziehen konnte. Wahrscheinlich würde er im Anschluss alle seine Handtücher waschen müssen, aber was tats. Irgendwann hatte er keine Filter mehr und das Gefühl, er müsste mindestens grün im Gesicht sein. Er duschte, eine Ewigkeit, wie es ihm schien, und saß dann nackt und tropfnass auf der Badewannenkante, mit einem Salamibrot, das er sich in weiser Voraussicht vorher geschmiert hatte. Als er endlich angezogen war und seine Haare das waren, was er unter normalen Umständen als annehmbar bezeichnet hätte, war es draußen schon dunkel und seine Digitaluhr zeigte halb zehn. Genau richtig, wie er fand. Früher hätte er sich sowieso nicht dort blicken lassen wollen, wenn man zu früh war, konnte man es nicht bis zum nächsten Morgen bei sich behalten, und bei allem Misstrauen und aller Abneigung, die er den JdW-Kindern entgegenbrachte, wollte er doch niemandem die Wohnung vollkotzen. Höchstens das Klo.
Er ging zu Fuß, sein Fahrrad hatte man ihm vor anderthalb Monaten geklaut, und er ging zu selten aus dem Haus, als dass sich die Anschaffung eines neuen gelohnt hätte. Der Discounter um die Ecke stillte seinen ohnehin geringen Appetit auf Lebensmittel allemal. Die kulinarischen Leidenschaften, denen er früher einmal gefrönt hatte, französischer Käse und italienische Antipasti, waren irgendwann verschwunden, abgelöst zuerst von einem Heißhunger auf Fastfood und später von allgemeiner Appetitlosigkeit. Jeder, der ihn noch von früher als eher rundlich kannte, wäre erschrocken gewesen. Er selbst hatte seit einem halben Jahr nicht mehr als sein Gesicht im Spiegel gesehen, und dort war ihm keine Veränderung aufgefallen. Und die schlabberigen Jogging-Hosen, in denen er zuhause herumlief, waren ihm schon immer zu weit gewesen.
Die Straßen waren leer für einen Samstag, wie er fand, aber dann fiel ihm ein, dass jeder, der normalerweise jetzt auf der Straße war, ans andere Ende der Stadt gefahren war, wo das stattfand, was die JdW-Kinder höhnisch als Antiparty bezeichneten, er wusste nicht wieso oder weshalb sich diese Party von der ihren unterschied, wenn man davon absah, dass auf ihrer Party vornehmlich JdW-Kinder herumliefen, aber beileibe nicht nur. Im fahlen Licht der Straßenlaternen grübelte er darüber nach, aber er fand keine Antwort. Als er das betreffende Haus fast erreicht hatte, war er nahe daran zu glauben, es handele sich dabei nur die übliche Arroganz und den absoluten Wunsch, sich abzugrenzen und etwas besonderes zu sein. Beides Dinge, die er im nüchternen Zustand nur schwer ertrug, aber er hatte nicht vor, allzulange in diesem Zustand zu verweilen.
Es war genau, wie er gedacht hatte, er kannte niemanden und anscheinend kannte niemand ihn, er tanzte in einer dunklen Ecke eine Weile zu dieser furchtbaren Musik, die sie alle immer zu mögen schienen, es gab angeblich dutzende Bands, die sie spielten, aber für ihn hörten sie sich alle gleich an, monoton und vor allem fremdartig. Manchmal stolperten Betrunkene in seine Ecke, verzogen sich aber meist wieder bis auf ein blondes Mädchen, das aussah, als wäre sie gerade zehn (sie sahen alle so jung aus, und man konnte sich nie darauf verlassen, dass sie einem das richtige Alter sagten), dabei aber an einer Flasche ohne Etikett nuckelte und ihn mit Raubtieraugen beobachtete, die kein Mädchen hatte, jedenfalls hoffte er das, denn er fand die Vorstellung, von einer Zehnjährigen so angesehen zu werden, beklemmend. Als sie nicht aufhörte, ihn anzustarren wie eine Schlange ein Kaninchen, verzog er sich und suchte in dem Durcheinander aus Flaschen auf den Tischen nach etwas, das ihm zusagte.
Es gab Gin, und Tonic fand er nach einer Weile in der Küche, wo sich eine Gruppe von älteren JdW-Kindern unter schluckaufartigem Lachen einen Heidenspaß daraus machte, die Limonade-Flaschen auf ex zu trinken, bis es ihnen aus der Nase kam. Er zweigte vorsorglich zwei Flaschen aus ihren Kästen ab und verzog sich zurück in seine Ecke, das Mädchen war verschwunden, er sah sie am anderen Ende des Raums, wo sie mit einem Paar tanzte, den harten Raubtierblick auf das Gesicht des jungen Mannes fixiert, der die ganze Zeit lächelte, als sei er schwachsinnig. Er fragte sich, was wohl das Mädchen zwischen den beiden von der ganzen Sache hielt, aber vielleicht hatte sie etwas geraucht, denn sie wirkte teilnahmslos und hatte meist die Augen geschlossen.
Während er das Auf und Ab der Party beobachtete, trank er systematisch, langsam, aber gleichmäßig. Irgendwann hatte er die zweite Tonicflasche zur Häfte geleert und war zweimal durch das Haus gewankt auf der Suche nach einer Toilette, nur um dann doch im Flur in immer denselben Blumentopf zu pinkeln, ohne auf das Lachen der vorbeikommenden JdW-Kinder zu achten, aus Erfahrung wusste er, dass die über grundsätzlich alles lachten, wenn sie erstmal genug getrunken hatten, und dass sie verständnisvoll genug waren, wegen so einer Lappalie nicht gleich ein Fass aufzumachen.
Nach dem zweiten Ausflug war er froh, wieder in seiner Ecke zu sein, langsam verschmolzen alle Eindrücke zu einem grauen Brei. Die Zeit verging irgendwie, irgendwann blickte er vernebelt auf seine Uhr und sah, dass es schon vier war, die Chancen standen ausgesprochen gut, bis irgendwann mittags durchzuschlafen. Der Lärm hatte nachgelassen, das merkte er im Halbdämmer, jetzt waren nur noch die absoluten Cracks da, Cracks wie er, bei dem Gedanken musste er lächeln, aber er sah keinen Grund, die Augen zu öffnen. Irgendwann schälten sich aus dem Geräuschgewirr um ihn herum einzelne Stimmen heraus.
“Noch so eine Schnapsleiche, ich fass es einfach nicht. Warum hast du mich auf diese beschissene Party geschleppt? Wenn die um vier schon am Ende sind, wo soll ich dann was für um sechs auftreiben?” “Das ist doch nur ein Jenseitiger, seit wann sind die representativ? Du kannst dir vielleicht denken, wo die Unsrigen hin sind..” Die Unsrigen. Er verzog unwillkürlich den Mund.
“Ach nee, der Gedanke gefällt ihm wohl nicht. Das ist übrigens der Trottel, der in Lalles Fikus gepinkelt hat.”
“Da ist er wohl nicht der einzige. Lalle sagt, er bringt die Idioten um, die sich im Bad eingeschlossen haben.”
“Lass uns weitersuchen.”
“Hast du gesehen, was er für Haare hatte?”
Langsam entfernten sich die Stimmen, und er war dankbar, dass ihn das eingebildete Genäsel nicht mehr vom Schlafen abhielt, da mischte sich eine neue Stimme unter die bereits bekannten.
“Wer ist das da in der Ecke?”
“Ein Jenseitiger, der in Blumentöpfe pinkelt, lass uns gehen...”
“Eine Schnapsleiche, willst du dir mit so was den Morgen verderben?”
Die Stimmen kamen wieder näher.
“Wenn das mal nicht eine Schnapsleiche ist, die ich schon lange nicht gesehen habe”, murmelte die neue Stimme. Vage kam sie ihm bekannt vor. Zwei kühle Hände legten sich um sein Gesicht, er wollte etwas sagen, aber es kam nur unverständliches Zeug.
“Mein Gott, kümmer dich doch nicht um den. Wenn er eine Alkoholvergiftung hat, ruf meinetwegen den Notarzt, aber dann ist es gut.”
“Halt die Schnauze”, sagte die Stimme scharf, und da erkannte er sie. Langsam wich das durcheinander in seinem Kopf einer Art Erkenntnis. “Das bist ...du?”
“Ja, das bin ich. Mach die Augen auf und sieh mich an.” Gehorsam öffnete er blinzelnd die Augen und sah wie durch Nebel ein Gesicht über sich, ein Gesicht, das er so gut gekannt hatte, aber das war so lang her. “Was machst du hier?”, versuchte er zu fragen, aber es klappte nicht annähernd so gut.
Plötzlich waren die kühle Hände an seinen Wangen verschwunden. “Ich muss gehen.”
Er versuchte sich aufzurichten, festhalten, nicht loslassen, aber er griff daneben. Dann war er wieder allein. Das wars. Damit war die Nacht gelaufen. Statt selig einem satten Kater entgegen zu schlummern, saß er in der Ecke, wurde zusehends nüchterner und versuchte, seinen revoltierenden Magen unter Kontrolle zu halten.
Auf dem Sofa gegenüber lag das Mädchen von vorhin, die Raubtieraugen jetzt geschlossen, eine neue Flasche an die Brust gedrückt wiegte sie sich langsam im Takt der Musik. Neben ihr saß das Paar, mit dem sie getanzt hatte, und teilte sich einen Joint. Ihm war klar, dass er sich bald würde übergeben müssen, aber wo war das verdammte Klo? Langsam kam er auf die Beine, tastete sich langsam und bedächtig zum Flur, fand den Ficus, aber inzwischen hatte jemand einen Eimer daneben gestellt, einen leeren Eimer, über den er sich beugte mit aller Dankbarkeit, die er jemals zu empfinden im Stande war, und erbrach sich gründlich.
Danach hockte er noch eine ganze Weile neben dem Ficus, roch den Geruch nach Blumenerde und Urin, übergab sich gelegentlich noch einmal, beobachtete, wie das Dämmerlicht des Novembermorgens in den Flur kroch, dachte, dass es draußen wohl neblig war, neblig und kalt, keine Vögel mehr, die sangen, wenn man früh nach Hause kam, nur Stille, dachte an die kühlen Hände, die seinen Kopf umfasst hatten, übergab sich wieder und stand schließlich auf, um nach etwas zu essen zu suchen und nach einem Wasserhahn, denn er hatte Durst.
Als er aus dem Haus trat, war es fast elf, von irgendwoher hörte er Kirchenglocken, der Gottesdienst war zu Ende, Rauhreif lag auf den Autos und den verwelkten Blättern, die in den Löchern der Gullys klebten, der Himmel war blau mit kleinen weißen Wolken, die Sonne schien, er lief langsam, atmete so tief durch, wie er konnte, hob ab und zu die Hände ans Gesicht, um zu fühlen, wie warm seine Finger und wie kalt seine Wangen waren, die Straßen kamen ihm mit jedem Schritt immer länger vor, er würde sich Donnerstag ein Fahrrad kaufen.