Titel spricht für sich???
Ich erwache, weil ein grüngelber Wellensittich namens Sokrates um halb acht in der Früh anfängt, wie am Spieß zu schreien. Als er dann noch im Tiefflug über meinen Kopf rauscht, richte ich mich auf und schäle mich halb aus der Decke. „Das Vieh ist eine Fehlleistung der Evolution“, murre ich.
„Guten Morgen“, sagt er vom Bett aus. Für einen winzig kleinen Moment bin ich verlegen, weil ich grundlegende Höflichkeitsformen vernachlässigt habe. Dann besinne ich mich darauf, dass ich eigentlich noch nie welche hatte. Sokrates sitzt vor seinem Käfig, der aus unerfindlichen Gründen immer offen ist, und jubiliert. Ich finde nicht, dass er einen Grund dazu hat. Weder scheint draußen die Sonne, noch ist es sonst irgendwie ein gemütlicher Morgen. Im Gegenteil. Es ist eisig kalt in der Einraumwohnung. Energiesparmaßnahmen, hatte man mir am Abend zuvor erklärt. Und: Wenn einem kalt ist, muss man nur was essen, dann wird einem nach zehn Minuten warm. Gute Idee. Ich schwinge die Beine vom Sofa und strecke mich. Er auf seinem Bett tut dasselbe. Dann verschwindet er aus dem Zimmer, in Boxershorts und Pullover. Für einen kurzen Moment sehe ich seine nackten Beine, als ich schnell die Brille aufsetze. Manches wird sich wohl nie ändern…
Die Jeans ist klamm und kalt, aber ICH werde nicht mit nackten Beinen herumlaufen, ganz gewiss nicht.
Im Bad stehe ich vor dem Spiegel und begutachte mich. Aber ich sehe, wie meistens nach dem Aufwachen, hübscher aus als sonst zu irgendeiner Tageszeit. Mit Bedacht wähle ich aus dem Becher mit den acht oder neun Zahnbürste dieselbe, die ich auch am Abend zuvor benutzt habe.
Warum bin ich am Abend zuvor geblieben, statt mit den anderen nach Hause zu fahren? War ich wirklich so müde, wie ich behauptet hatte, als ich zusammengerollt im Sessel lag? Ja und nein. Müde zwar, aber nicht so müde, dass ich mich nicht doch hätte aufraffen können. Aber das spielt ja keine Rolle. Jedenfalls blieb ich. Hatte ich mir dabei etwas gedacht?
Ich denke mir immer etwas.
Diesmal freilich umsonst, aber das Bedauern meinerseits hält sich dennoch in Grenzen. Wie er darüber denkt, weiß ich freilich nicht.
Er ruft aus der Küche, ob ich Kaffee möchte. Ich lehne bedauernd ab. Kein Kaffee. Schließlich lege ich mir die Wolldecke um die Schultern und gehe in die Küche. Er lacht, als er mich so sieht. Immer noch nur Boxershorts und Pullover. Ich setze mich und sehe ihm zu, wie er Kaffee kocht, und bewundere dabei seine sehnigen, durchtrainierten Beine. Neid, Neid, Neid.
Dann teilt er mir mit, dass es nichts zu essen gibt. Das letzte Brot haben wir abends vor dem Fernseher gegessen, als ich überraschenderweise doch noch einmal munter wurde, nachdem die anderen weg waren. Olympia sehen und Akte X, und dazu selbstgebackenes Brot mit merkwürdigen Körnern drin essen und kalten Tee trinken.
Jetzt allerdings müssen wir hungern. Cornflakes mag ich nicht, die 1-Kilo-Joghurtbecher entpuppen sich als Aufbewahrungsort für gruselige Substanzen ungeklärter Herkunft. Er steht ratlos vor dem Kühlschrank und entschuldigt sich. Wir landen bei einer Kiwi pro Person und einer angematschten Apfelsine, an die ich mich wage. Leider schmeckt sie teilweise etwas seltsam, darum sehe ich bald davon ab. Zusammen bedauern wir die armen Kinder in Afrika, die damit sicher noch einen weiteren Tag überlebt hätten. Tausend Tränen verschmierte Kinderaugen sollen dich angucken, sagte mein Ex einmal, wir lachen.
Es ist merkwürdig, sich mit ihm zu unterhalten. Unser Gespräch geht leicht, von einem Thema zum nächsten, Musik, Zukunftspläne, das Leben, das Universum, der ganze Rest. Es wäre äußerst praktisch, in seinen Kopf hinein sehen zu können. Bedauert er es ebenso wie ich, die Nacht allein in einem kalten Zimmer verbracht zu haben, statt Arm in Arm in dem großen Bett, dass eigentlich nicht einmal seines ist, aber wie er mir am Abend zuvor versicherte, sei es unterschiedlich, wer darin schlafe. Nun, ich für meinen Teil bedauere es mittlerweile zutiefst. Ich habe die ganze Nacht unter meiner Decke vor mich hin gebibbert, war aber zu faul, mir noch die Wolldecke zu angeln. Eine unverschämtere Person, als ich es bin, wäre wohl mitten in der Nacht aufgestanden, hätte ihn geweckt und ihn gebeten, ein wenig zur Seite zu rücken. Aber eine derartige Amazone bin ich leider ganz und gar nicht. Nie gewesen.
Er kocht mir heißen Tee, inzwischen allerdings in Trainingshose (schade), in den ich den letzten Rest Zucker aus der Zuckerdose kippe. Wir sitzen mindestens zwei Stunden und unterhalten uns. Es könnte ein gemütlicher, verschlafener Morgen sein, wenn es nur nicht so kalt wäre. Dann wäscht er ab und teilt mir mit, dass er demnächst los müsse, weil er vor der Arbeit (die um eins beginnt) noch bei Real etwas essen möchte. Armer, verhungerter Junge, denke ich und grinse in mich hinein. Wie ich so auf meinem Stuhl sitze und ihm zusehe, weiß ich noch nicht, dass wir wenig später mit unseren rostigen Fahrrädern aufbrechen werden, dass er sich über meine „niedlichen Fäustlinge“ äußern wird, dass er mir zeigt, wie ich nach Hause komme, dass er sich von seinem Fahrrad zu meinem hinüberbeugen wird, um mich zum Abschied zu umarmen, eine Spur länger, als ich es ohne Hintergedanken tun würde, seine von der frischen Luft kalte Wange an meiner, mein Impuls, ihn festzuhalten, ihn nicht los zu lassen an diesem kalten Tag. Dass ich mich nicht umdrehen werde, nachdem ich losgefahren bin, nicht umdrehen, nicht umdrehen.
Aber wie ich so auf meinem Stuhl in der Küche sitze, eingewickelt in meine Wolldecke und mit meiner mittlerweile dritten Tasse Tee, diesmal ohne Zucker, ihn beim Abwaschen beobachtend, weiß ich das noch nicht, was vielleicht auch besser so ist, denn sonst würde ich vielleicht tatsächlich aufstehen, zu ihm gehen und die Arme um ihn legen, um mich an ihm zu wärmen.
Ich frage ihn, ob ich abtrocknen soll, er lehnt ab, das Geschirr trockne an der Luft. Zufrieden lehne ich mich in mein Wolldeckennest zurück und trinke meinen Tee. Im Wohnzimmer trällert Sokrates vor sich hin.