Jaaaa, was einem die postpubertäre Phase eben so antut, nicht wahr.
Irgendwo auf dem Dachboden stauben meine Flügel vor sich hin. Ich hole sie raus eines Tages und zeige sie ihm, aber er lacht nur und sieht ungläubig aus. Er hat mich nie fliegen sehen, er hat mich niemals irgendetwas tun sehen.
Das braucht mich nicht zu kümmern. Ich ziehe sie an, vor seinen Augen verwachsen sie mit meinen Schulterblättern.
Da bekommt er langsam Angst. Tu's nicht, sagt er, du wirst fallen. Du kannst doch gar nicht fliegen.
Dann falle ich eben, erwidere ich, aber ich lächele nicht dabei.
Ich schlage ihm nicht vor, hinaus zu laufen und auf dem Plattenweg unter dem Fenster zu warten, mit einem großen Kissen.
Du kannst nicht fliegen, sagt er. Ich weiß, sage ich.
Ich schiebe einen Stuhl unter das Dachfenster und klettere hinauf. Meine Federn bleiben überall hängen. Es ist zu eng hier drin.
Ich lehne mich hinaus, und er steht nicht dort.
Der Himmel ist wolkenfrei endlos blau.
Ich ziehe mich zum Fenster hoch, schwinge ein Bein aufs Dach.
Tu's nicht, sagt er. Und glaubt mir immer noch nicht.
Ich drehe mich nicht um, ich sitze auf dem Dach.
Ich gebe dir noch eine Chance, sage ich leise. Geh hinaus, mit dem Kissen.
Ich weiß, er kann mich nicht hören.
Was weiß er vom Fallen? Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nie gefragt.
Das Dach ist steil, ich laufe auf allen Vieren hoch zum Dachfirst. Die Ziegel knirschen unter meinen Hausschuhen, zwischen den Federn singt der Wind. Dann sitze ich mit gespreizten Beinen oben. Den Plattenweg kann ich nicht mehr sehen.
Als ich hinunterschaue, hat er den Kopf aus dem Fenster gestreckt und sieht mich an und sagt irgendetwas, aber ich kann ihn nicht verstehen. Dafür rascheln die Federn zu laut. Ich mache mir nicht die Mühe, von seinen Lippen zu lesen. Sein Gesicht verrät mir, dass er mir immer noch nicht glaubt.
Ich glaube mir ja selbst nicht.
Langsam stehe ich auf und balanciere.
Ich denke an den Plattenweg und an das Kissen, das nicht dort liegen wird, wenn ich falle, aber das muss mir egal sein. Jeder bekommt seine Chance. Jetzt habe ich meine.
Noch mehr Wind kommt auf. Ein Sausen in meinen Flügeln, als ich sie ausbreite. Sie sind grau und fast drei Meter breit. Jahrelang habe ich die Federn gesammelt, seit ich sechs Jahre alt war. Ein mühsames Geschäft. Dann waren sie fertig, aber geflogen bin ich damit noch nie. Bis jetzt.
Unnötig, zu sagen, dass ich Angst habe.
Ich schließe die Augen. Immer noch kein Kissen, denke ich bedauernd, kein Kissen und ein unnötig harter Plattenweg.
Aber wir haben es wohl so gewollt.
Im Krankenhaus sitzt er auf einem Hocker an meinem Bett. Ich sitze neben ihm und sehe mir selbst zu. Ich habe noch ein bisschen Zeit.
Du konntest nie fliegen, nicht wahr?, fragt er mich, die ich da liege und ruhig atme, traurig. Ja, sage ich lautlos zu ihm, aber ich habe lange darauf gewartet, es herauszufinden.
Er streichelt mein zerschundenes blasses Gesicht in den Kissen. Ich hab es dir doch gesagt, sagt er hilflos.
Ja ja, antworte ich ungeduldig. Na und? Ich wusste es selbst. Ich wollte wenigstens fallen. Verstehst du das nicht?
Er kann mich nicht hören.
Schade, sage ich zu ihm. Sie hätten mir wenigstens die Hausschuhe ausziehen können. Aber er lacht nicht, sondern greift nach der Hand, die ruhig auf der Bettdecke liegt. Sein Blick wandert zum Fensterbrett, wo jemand die Flügel hingelegt hat.
Na schön, sage ich so laut wie ich kann, aber ich bin doch geflogen! Nicht lange zwar, aber geflogen bin ich. Und es war ein schöner Flug, wirklich.
Er neben mir sagt nichts mehr.
Ich werde langsam ungeduldig, darum stehe ich auf und lege ihm die Hand auf die Schulter. Er reagiert nicht. Bis später, sage ich. Bis irgendwann.
Die Flügel nehme ich mit. Er bemerkt es nicht, weil er wieder mich ansieht, wie ich im Bett liege.
Ich winke ihm nicht. Ich habe noch einen langen Flug vor mir.