Der Schock
Die Menschenmenge eines großen Neubaugebietes drängelte sich, vor Kälte Schutz suchend, an der Straßenbahnhaltestelle. Es war wie immer, wenn man es eilig oder einen wichtigen Termin hatte. Es kam einfach keine Bahn. „Laß uns lieber mit dem Auto fahren“, überredete ich Mutti. Sie hatte erst vor kurzem die Führerscheinprüfung bestanden und war schon unter normalen Umständen unsicher. Ich merkte, wie sie vor Angst schlotterte. „Mutti, ich werde dir helfen!“ Ich selbst hatte noch keinen Führerschein. Zumindest kannte ich aber die Straßenverkehrsordnung ganz gut und natürlich auch den Weg zum Krankenhaus. Noch heute glaube ich, daß Mutti die Strecke bis dorthin nur in Trance gefahren ist. Ich sagte ihr, welchen Gang sie einlegen sollte, wann sie bremsen mußte und wann blinken. Irgendwie kamen wir auch unbeschadet an.
Im Halbdämmer und bei diesem kalten, nebeligen Wetter wirkte das Altstadtkrankenhaus noch trister. Am Pförtner wurden wir an die Chirurgie verwiesen. Wir gingen die alte Treppe nach oben zur Intensivstation. Es roch nach Schweiß, Blut und Desinfektionsmittel. Mutti konnte nicht mehr. Bald wäre sie die Treppe rückwärts hinuntergestürzt.
Eine freundliche Morgenschwester öffnete uns. „Ich rufe gleich Frau Doktor Fröhlich! Sie hat bis eben operiert und sich gerade hingelegt.“ Wieder vergingen die Sekunden. Tak, tak, tak, hörte ich den Sekundenzeiger der Stationsuhr. „Bis eben operiert ? Dann muß der Eingriff ja fast sieben Stunden gedauert haben“, sinnierte Mutti. „Vielleicht konnten sie ihm die Hand ja wieder annähen? Man hört ja des öfteren von solchen Wundern“, versuchte ich ein wenig aufmunternd zu wirken.
Schlaf in den Augen öffnete eine etwa vierzigjährige Frau die Tür der Intensivstation. Grau sah sie aus, als hätte sie die ganze Nacht in einem Bergwerk gearbeitet. Fast wie ein Gespenst wirkte sie auf mich und noch gespenstischer war, was sie uns offenbarte. In der Hand hielt sie Vatis Portemonnaie. Als Mutti es öffnete, sahen wir Vaters zerquetschten Ehering. Ich werde Muttis aschfahles Gesicht dieses Augenblicks nie vergessen. Die erste Schockwelle durchfuhr uns:„Also doch die rechte Hand!“ Stockend, ja schleppend, als ob sie sich dafür schämen müßte, oder vielleicht auch, weil sie es selbst so für unfaßbar hielt, kamen die nächsten Worte. „Ja, die rechte Hand konnte nicht gerettet werden. Auch die linke Hand war unterhalb des Handgelenkes total zertrümmert. Im übrigen mußte ein Stück des linken Fußes amputiert werden.“ Jedes Wort traf mich wie ein Messerstich und Mutti wie ein Axthieb. Sie sackte mit jedem Wort mehr und mehr zusammen. „Wird er überleben?“, Mutti kamen diese Worte nur flüsternd aus dem Munde. Die Ärztin zuckte mit den Schultern, auch ihr standen die Tränen in den Augen. „Wir taten, was wir konnten. Weiter kann ich Ihnen nichts versprechen. In den nächsten Stunden und Tagen wissen wir mehr. Sie können nur hoffen, Frau Pöllnitz.“
Oh Gott, wie soll es nur weiter gehen? Schon bei dem Verlust einer Hand sinnierten wir darüber, wozu wir diese wichtigen Werkzeuge brauchten. Nun war jeder Handgriff des heutigen Tages mit dem Gedanken verbunden: „Das kann Vati nicht mehr alleine tun.“ Beim Essen, beim Rasieren, beim Anziehen, beim Schnüren der Schuhe. Fortwährend mußten wir daran denken.
„Sie können nur hoffen.“ Unaufhörlich klangen die Worte der Ärztin im Ohr. Das heißt doch, es besteht absolute Lebensgefahr. Was sollten wir ohne Vati bloß tun, wenn er es nicht schaffen sollte, wenn er dieses Ereignis nicht überleben sollte? Selbst, wenn er überlebt, wie soll das Leben für ihn und für uns weitergehen? Ich weiß nicht, wie viele Liter Tränen an diesem Tag noch vergossen wurden. Für uns war es das tragischste Ereignis unseres Lebens. Ich glaube, etwas Schlimmeres konnten wir uns nicht vorstellen.
Und doch muß es noch traurigere Geschehnisse geben. Ich erinnerte mich an das große Zugunglück in Langenweddingen. Dort war Vati als Helfer vor Ort. Ganze Familien wurden damals ausgelöscht. Als Vati nach seinem Einsatz nach Hause kam, nahm er uns alle nur in den Arm und sagte: „Gut, daß wir uns haben und gesund sind.“ Auch dachte ich an meine Urgroßmutter, die während des letzten Krieges vier Söhne verlor Ich denke, einen solchen Verlust kann nur jemand nachfühlen, der ihn persönlich erlebt hat. Den Rest dieses Tages hat mein Großhirn einfach gelöscht.