Das Leuchten

Es war ungewohnt, sie so zu sehen. Ich kannte sie anders.
Sie war immer ein fröhlicher, heiterer Mensch gewesen. Sie war eine Schönheit, das sagten ihr alle, und wenn man nicht von ihrem Aussehen überzeugt war, dann tat ihre Offenheit und ihr einnehmendes Wesen ihr übriges, um einen Menschen für sie zu begeistern.
Die Jungen standen bei ihr Schlange, sie wollte jedoch nur einen Einzigen. Und genau das war der Grund für ihre Veränderung. Er wollte sie nicht mehr und verließ sie für ein Mädchen, das nicht halb so schön and auch nicht halb so beliebt war wie sie. Doch letztendlich war das egal.
Das Leuchten in ihren Augen verschwand von einem Tag auf den anderen. Wenn wir zusammen zur Schule fuhren, wirkte sie abwesend. Sie redete mit niemandem mehr und beteiligte sich nicht am Unterricht. Die meiste Zeit schaute sie aus dem Fenster, eine gute Gelegenheit, meinen besorgten Blicken auszuweichen.
Ich machte mir Sorgen, doch meinen Vorschlag, am Wochenende auszugehen, lehnte sie ab.
Manchmal, wenn sie ihm in der Schule begegnete, nahm ich ein leichtes Glitzern in ihren Augen wahr. Doch sobald er weg war, war auch das Glitzern weg, nur die Teilnahmslosigkeit blieb.
Sie war sehr stark. Es gab keinen einzigen Moment, in dem ich sie weinen sah. Ab und zu zuckte sie mitten im Unterricht zusammen, das war alles. Und es war so leicht, dass es oft keiner bemerkte.
Ich war die Einzige, die in dem Moment wusste, woran sie dachte.
Ein halbes Jahr verging und es hatte sich nichts verändert. Ihre Augen waren morgens immer noch geschwollen, wenn wir zusammen zur Bushaltestelle gingen, ihre Simme war immer noch monoton und brüchig.
Ich redete betont munter auf sie ein, auch wenn sie mir nie zuhörte und ihre Gedanken ganz woanders waren. Ich wollte lediglich das Schweigen überbrücken, das Schweigen, das ein Teil von ihr geworden war.
Kein Junge interessierte sich mehr für sie, ihr blondes Haar hing schlaf und leblos an ihr herunter und sie trug jede Woche die gleichen Klamotten. Sie war keine Schönheit mehr, nur noch ein Mauerblümchen, genau wie das Mädchen, für das sie verlassen worden war.
Ende des Schuljahres blieb sie sitzen. Ich ging nun eine Stufe über ihr und sah sie nur noch, wenn wir morgens zusammen zur Schule fuhren. In den Pausen sah ich sie alleine herumlaufen, die Schüler in ihrer Klasse fanden sie komisch.

Der Kontakt zu ihr brach allmählich ab. Sie ließ sich ein paarmal von mir überreden, in die Stadt zu fahren, aber es waren keine schönen Erinnerungen, die ich mit diesen Nachmittagen verband. Ich kam mir vor, als würde ich Selbstgespräche führen. Sie tat noch nicht einmal so, als würde sie mir zuhören.
Nach einem Jahr wechselte sie auf die Realschule. Ich bekam sie immer seltener zu Sehen und wenn, dann hatte sie sich nicht sonderlich verändert. Die Leere in ihren Augen, die schlaffe Haltung, die abgetragenen Klamotten, das war für mich kein neuer Anblick.
Nach einiger Zeit schien sie mich nicht mehr wiederzuerkennen, wenn wir uns im Bus trafen.
Einmal setzte sie sich mir gegenüber, ohme mich zu bemerken und starrte aus dem Fenster. Erst als ich aussteigen musste, richtete sich ihr ausdrucksloser Blick auf mich. Ich wusste nicht, ob sie mich wiedererkannt hatte. Sie wandte sich genauso schnell von mir ab, wie sie sich mir zugewandt hatte.
Ich muss oft an sie denken. Daran, wie sie heute ist. An eine andere Zeit kann ich mich kaum noch erinnern, ich sehe nichts in ihr, was auf ihre einstige Schönheit und Fröhlichkeit schließen lässt.
Ich muss oft daran denken, wie sie früher neben mir in der Klasse saß und aus dem Fenster starrte. So, als ob sie auf etwas warten würde. So, als ob sie darauf warten würde, dass er wieder zurückkommt und ihr hilft, das Leuchten in ihren Augen wiederzufinden.
Das Leuchten, das ich nie wieder in ihren Augen gesehen habe.