Gedanken zur Semmeringbahn
Die Semmeringbahn ist nicht nur die erste, sondern auch die schönste Gebirgsbahn Europas!
Als gewagtes Bauprojekt des neunzehnten Jahrhunderts ist ihre Geschichte vielseitig und vielschichtig, ist vor allem untrennbar mit dem Pioniergeist des Carl Ritter von Ghega verbunden. Ihre Streckenführung gilt heute noch als bauliches Meisterwerk.
Doch ich bin überzeugt, darüber schreiben andere besser, ausführlicher und kompetenter als ich.
Ich möchte hier gerne meine eigenen Erinnerungen und Eindrücke von der Semmeringbahn schildern.
Ich liebe und bewundere sie. Niemals käme mir in den Sinn, bei der Fahrt über den Semmering ein Buch zu lesen oder ein Nickerchen zu machen. Ich klebe förmlich am Fenster und die Landschaft zieht an mir vorüber, als ob ich sie noch nie gesehen hätte. Dabei kenne ich jeden dieser malerischen Panoramablicke, weiß, was nach der nächsten Kurve, dem nächsten der 15 Tunnels und 16 Viadukte auftaucht.
Fahre ich doch schon seit über 50 Jahren über den Semmering!
Meine erste Fahrt – meine bewusst erlebte erste Fahrt – machte ich im Mai oder Juni 1953 zu einer Aufnahmeprüfung nach Wr. Neustadt. Mein Großvater begleitete mich.
Damals war Österreich noch von den Siegermächten des zweiten Weltkrieges besetzt und in vier Zonen aufgeteilt. Die Steiermark war „englisch“, Niederösterreich „russisch“.
Am Semmering war die Demarkationslinie und man brauchte einen Identitätsausweis, um von einer Zone in die andere zu reisen.
Ich hatte großen Respekt vor den Russen, und Angst, denn man erzählte sich von ihnen böse Dinge. Auch, dass sie am Semmering Menschen aus dem Zug holen und nach Sibirien verschleppen würden.
Bei der Fahrt nach Wr. Neustadt lag mir wahrscheinlich die bevorstehende Prüfung im Magen, sodass die Angst vor den Russen nebensächlich wurde.
Dann folgte ein harter Vormittag mit schriftlichen und mündlichen Prüfungen.
Und schon ging es wieder heimwärts.
Doch, oh Schreck! Mein Großvater hatte in der Zeit, da er auf mich wartete, einige Achterln Wein getrunken. Das machte mir Angst. Die Russen, dachte ich, die Russen werden das gleich bemerken.
Wir saßen im Zug nach Mürzzuschlag. Anfangs berichtete ich von den Prüfungsaufgaben. Dann aber, als der Zug schnaufend und pfeifend immer höher kletterte, wurde ich nervös. Bald würden wir im Bahnhof Semmering anhalten. Was dann?
Schon quietschten die Bremsen und der Zug fuhr ruckend in die Station ein.
In ihren verwaschenen, beige-braunen Uniformen, hässlichen, farblosen Uniformen, warteten einige Russen bereits auf dem Bahnsteig und betraten die Waggons.
Meine Angst erreichte ihr Höchstmaß.
Ein hochgewachsener russischer Besatzungssoldat kontrollierte unsere Ausweise, hielt inne, sah mich an, sah meinen Großvater an und wieder die Ausweise.
„Jetzt holt er meinen Großvater aus dem Zug! Jetzt verschleppen sie ihn nach Sibirien!“
Mein Herz krampfte sich zusammen und ich spürte ein würgendes Gefühl in der Kehle.
Doch der Russe lachte meinen Großvater an, klopfte ihm auf die Schulter und fragte:
„Du zuviel Wodka?“ - Dann ging er grinsend weiter.
Meine Erleichterung brauche ich wohl nicht beschreiben.
Kurze Zeit später flatterte ein Briefchen ins Haus. Bestanden! Ich hatte die Aufnahmeprüfung bestanden, war in der Schule und im angeschlossenen Internat aufgenommen worden.
So führte mich mein weiterer Lebensweg für zwei Jahre nach Wr. Neustadt.
Zu den Wochenenden aber durfte ich nach Hause fahren.
In dieser Zeit wurden mir die Semmeringbahn und –Strecke sehr vertraut.
Ich liebte das rhythmische Stampfen der Dampflokomotiven. Erst langsam, dann immer schneller werdend, sagte ich im Rhythmus der Lok mein Sprüchlein vor mich hin
„...es geht schon schneller, geht schon schneller, geht schon schneller...“, öffnete das Fenster und streckte meinen Kopf hinaus. Der starke Fahrtwind fuhr mir über das Gesicht, kühlte meine Wangen und zerzauste meine Haare. Um die Augen vor den Russflankerln der spuckenden Lokomotive zu schützen, hatte ich eine billige Sonnenbrille gekauft.
In den Tunnels aber musste man des Russes wegen die Fenster schließen und es war finster im Waggon. So stockfinster, dass man nicht einmal die Hand vor Augen sah. Es gab ja noch keine Beleuchtung, die kam erst, als die gesamte Semmeringstrecke im Jahre 1959 elektrifiziert wurde.
Am Bahnhof Semmering hatten wir meistens langen Aufenthalt, denn die russischen Besatzungssoldaten kamen in die Waggons und kontrollierten die Identitätsausweise der Reisenden. Da hieß es, sich in Geduld zu üben. Manchmal ging es schnell, manchmal dauerte es halbe Ewigkeiten. Uns Schüler beachteten die Männer kaum und meine Angst vor ihnen war längst geschwunden. Trotzdem, ein unangenehmes Gefühl blieb immer.
Dann aber schrieben wir das Jahr 1955. Ein besonderes Jahr für unser Land, für unsere Heimat!
Jedem der älteren Generation ist der Satz des damaligen Außenministers Dr. Leopold Figl noch im Ohr: „Österreich ist frei!“
Er hatte mit den österreichischen Regierungsmitgliedern und den Alliierten den Staatsvertrag ausgehandelt und unterzeichnet.
Die Besatzungsmächte zogen ab und Österreich war ein freies und neutrales Land geworden!
....Und am Semmering kontrollierte niemand mehr unsere Identität. Nur der Schaffner die Fahrkarten.
Jahre zogen ins Land. Ich arbeitete in Wien als Diplomkrankenschwester und pendelte immer noch zwischen Wien und Mürzzuschlag hin und her. Dann heiratete ich, bekam ein Kind und unsere Familie schlug ihre Zelte in Spital am Semmering auf.
Ein zweites Baby war unterwegs.
So fuhr ich nach Wien zur Kontrolle – es wurde die aufregendste Fahrt meines Lebens.
Wie immer freute ich mich auf die Eisenbahnfahrt, machte es mir in einem Coupé gemütlich und ließ die winterliche Märchenlandschaft an mir vorüberziehen.
Ein älterer Herr saß mir gegenüber, ebenfalls am Fensterplatz.
Plötzlich bekam ich heftige Bauchschmerzen. Sie kamen, setzten aus, kamen ...
Das konnten doch keine Wehen sein – es war noch zu früh dazu. Aber es waren Wehen. Sie kamen in immer kürzeren Intervallen.
Meinem Gegenüber war mein Zustand nicht verborgen geblieben. Nun bemerkte er, wie blass ich geworden war und wie ich meine Hände schützend über meinen Bauch hielt.
„Legen Sie sich hin.“, sagte er und half mir, mich auf die Bank zu legen.
Leise und gleichmäßig rollten die Räder unter mir. In den Kurven wiegte es mich auf der mit grünem Plastik bezogenen Sitzbank sanft hin und her und im Fenster wechselten Sonne und Schatten. Bald zogen verschneite, mächtige Bäume daran vorbei, bald leuchtete ein winterblauer Himmel herein.
„Lieber Gott, hilf!“, schickte ich mein Stoßgebet in diesen blauen Himmel. „Lass mich bis ins Krankenhaus kommen!“
In Gedanken beschwor ich mein Baby, sich Zeit zu lassen und strich beruhigend über meinen Bauch. Ich wusste, ich könnte einen Arzt brauchen, denn mit der Blutgruppe Null negativ war ich eine Risikopatientin.
Aber das Baby nahm nicht Rücksicht darauf.
„Nein! Nein!“, schien es zu widersprechen und boxte mit seinen kleinen Füßen heftig gegen meine Bauchdecke. „Ich will jetzt kommen!“ – und schon nahm mir die nächste Wehe die Luft.
„Tief atmen. Ruhig bleiben.“, hörte ich den fremden Mann sagen.
„Ruhig bleiben“, suggerierte ich meinem Baby, „ganz ruhig bleiben.“
Ich versuchte mich zu entspannen und tief zu atmen ...
Und tatsächlich – ich gewann den Wettlauf mit der Zeit und schaffte es bis ins Krankenhaus nach Wien.
Nur kurze Zeit später hielt ich meinen kleinen Sohn im Arm.
Er war nahe daran gewesen, in einem Zug der Semmeringbahn geboren zu werden.
Nun stellt sich die Frage: Wurde er deshalb ein so begeisterter Eisenbahnfan oder war er es schon im Mutterleib? Wollte er mit seinem ersten Atemzug nicht nur das Licht der Welt sondern auch seine geliebte Semmeringbahn erblicken? Warum wohl sonst ist er sechs Wochen zu früh gekommen?
Heute jedenfalls ist die Eisenbahn seine große Leidenschaft.
Eine Leidenschaft und eine Begeisterung, die er wohl mit unzähligen Eisenbahnliebhabern, mit abertausend Menschen teilt, besonders für die Semmeringbahn. Nicht umsonst wurde sie
1998 von der UNESCO in die Liste der Weltkulturerbestätte aufgenommen wurde.
Mit Recht! Wurde hier doch eine gelungene Verbindung einer Eisenbahnstrecke mit einer wildromantischen Gebirgswelt geschaffen. Eine Bahnstrecke gebaut, die sich harmonisch in die Landschaft einfügt, ja, die sogar das Einzigartige dieser Kulturlandschaft betont und jedem Semmering-Reisenden faszinierende und einmalige Panoramablicke bietet.
Ich hoffe, auch in Zukunft werden die Menschen das Großartige und die Schönheit der Semmeringbahn schätzen und lieben, werden mit Freude und offenen Augen im Zug über den Semmering fahren, denn die Schönheit dieser Bahnstrecke ist von der Straße aus nicht sichtbar, sie offenbart sich nur vom Zug aus.
Copyright Ingrid Höttinger
mukk Re: Eine wunderschöne Homage - Zitat: (Original von Shari am 17.06.2009 - 23:07 Uhr) auf die Semmeringbahn und den Semmering und deren Geschichte aus Deiner Sicht ... und ein ebenso schöner Blick zurück in Deine früheren Jahre... GLG. Heidi Danke dir, liebe Heidi, herzl. Grüße Ingrid |