Ich wurde geboren, mit allen nur erdenklichen Nachteilen und einem nicht zu unterschätzende Zeichen, einem Daumen zuviel. Doch die Nachteile wogen schwer. Meine Ohren waren unverhältnismäßig groß, die Augen waren schlecht, meine Beine leider zu kurz und die Lungen schwach. Die früh verordnete Brille verstärkte noch die abstehende Tendenz der großen Löffel, doch der Nachteil hatte auch eine gute Seite, mein Hörvermögen war besser als normal. Die kurzen Beine und die schlappe Lunge bedingten eine schlechte Laufleistung und bei besten Willen war ich immer der Letzte beim Rennen. Mein gehasster Sportlehrer brüllte oft das aufbauende Wort „Flasche“. Weil später noch eine Pollenallergie den Reigen der schlechten Vorraussetzungen abrundete nahm ich mein Los sehr schwer. Gutgläubig war ich überdies und ich nahm deshalb vieles tierisch ernst. Die Erinnerungsanfänge liegen im Dunkel, wie die erste elterliche Wohnung, Dunkel war der Tenor meiner frühen Jugend. Musik gefiel mir immer gut, meine Mutter, die ich immer Mutti nannte hörte öfter Schlager. Das Radio stand auf dem Küchenschrank und noch heute erinnere ich mich an die Hits der Fünftiger, wie „Weia Condios“ oder „Ich weiß was dir fehlt!“. Musische Bildung war ein Teil der Kultur des Haushaltes meiner Großeltern. Sie hatten einen großen Bekanntenkreis, waren gute Gastgeber, auch wenn wenig zum Geben da war, und in meiner Erinnerung spielt der festlich gedeckte Sonntagstisch mit Estradenklängen eine wesentliche Rolle. Omi schlug die Seiten einer Zitter, wo sie Blätter mit Noten unterschob und sang mit lieblicher Stimme. Opa begleitete sie an manchen Tagen auf der Geige, die er sich autodidaktisch beigebracht hatte. Er war eines der letzen Universaltalente, die ich lebendig kennen lernte. Maler und Fleischer hatte er gelernt, Postbote war er, seine Hobbys waren elektrische Anlagen und Motorräder. Er reparierte Fahrräder für Jeden, der kam und ihn ansprach. Ob er Geld genommen hat, weiß ich nicht. Reich war er aber nicht geworden und immer hat’ es Omi gestört, wenn wer mit den schmutzigen Händen in die Küche kam. Sofort war die Schüssel da und heißes Wasser, welches im immer beheizten Küchenherd, in einem seitlich eingelassenen Kessel bereitstand. Da stand auch immer eine Kanne mit Malzkaffee, denn damals galt der Haushalt, der Flaschengetränke, wie Brause oder Bier hatte, als reich oder und verschwenderisch. In der Speisekammer hingen stets kleine Knackwürste, die gab uns Omi öfter, denn wir zwei, mein Bruder und ich, waren zu dünn geraten, was sich später noch verwachsen sollte. Die ersten Jahre waren ruhig und ohne wissenswerte Höhepunkte. Da waren uralte Leute, wie Urgroßvater Friedrich, der mir meinen zweiten Namen gab. Friedrich war ein mürrischer Mann, jedoch die Ankunft der zwei Urenkel soll ihm manchmal ein nichtgekanntes Lächeln abgerungen haben. Er schlug im nahen Wald dürre Bäume, trug sie auf der Schulter zum „Gottessegen“ und machte vor Ort Feuerholz darauf, das er gegen Bier und Klare eintauschte. Man erzählte, dass er einstmals beinahe auf dem schrägen Heimweg in die Ilm gefallen wäre. Außerdem kaute er Kautabak und Kalmuswurzeln, ich kann mich dunkel erinnern, wie ich auf seinen Knien saß und den gezwirbelten Schnauzer bewunderte. Omi nahm uns auf, war immer da und ging mit uns überall hin. Sie war eine fromme Frau von überdurchschnittlich musischer Bildung und das machte sicher ihren angenehmen Umgang aus. Sie war unermüdlich und klagte nie, das Wort Stress kannte die damalige Zeit sowieso noch nicht. Sie stand früh auf, wusch sich in der kalten Küche und machte als erstes Feuer. Alle nach ihr kamen ins Warme. Wir bekamen warmes Wasser ins Töpfchen, saßen mitten in der Küche und sollten unser „Geschäft“ verrichten. So wurden wir größer mit unklaren Ideen über Sexualität und mit dem „Pfui und Ihh“ für alles was wir von uns gaben. Der Hof war unser Spielplatz. Hier amten wir bald die Beschäftigung der Erwachsenen nach, denn es musste ja schön, wenn man es immer wieder macht. Wir hatten einen eigenen Werkzeugkasten und ‘ne tolle Maschinenfabrik. Opa war der tollste Schuttsucher, den ich kannte. Er fand immer wieder alte Sachen, aus denen er neue machte. Zum Leidwesen von Omi war er, wenn er nicht in seiner Schuppenwerkstatt war, auf dem Schutt, den es nicht mehr gibt. Im selbstgebauten Handwagen schleppte er Alles nach Haus und Omi hatte ihre Sorgen, wenn überall altes Gerümpel rumlag. Da war ein Karussell aus ‘ner alten Kaffeemühle und ‘ne Schaukel entstand aus dem Sägebock und einem Brett. Seifenkisten hatten wir, wie sie schöner nicht sein konnten und beim Rennen die „Neue Straße“ abwärts ging manches zu Bruch. Das Resultat waren blaue Knie, mancher Schmarren und großer Ärger, wenn wieder mal ‘ne Brille hin war. Frei und ungezogen waren wir immer auf der Suche nach dem Kik, dem Abenteuer und legendär sind unsere tollen Streiche. Eine Bande ist im Bild festgehalten. Hendrik, mein Bruder und ich, Heidi Schmidt, Christine Stegner und der Dackel, Martin und Gudrun - immer war Irgendwer zum spielen da. Spazieren gehen war nicht so unser Ding, da mußten wir an die Hand, wie unser Hund Mäxi an die Leine, außerdem wurde das Haar gescheitelt und die Klemme, die wir verachteten, wie die Leibchen, an denen raue lange Strümpfe mit Strumpfhaltern festgemacht wurden. Wir wanderten mit Onkel Walter und den Bothes, Opa hatte immer einen Stock dabei. Man unterhielt sich und sang, Wandern war ein Ritual. Ob nach Oehrenstock oder in die Krannichsruh’, wir waren unterwegs und es kam selten Langeweile auf. Brettspiele, das Ratekreiselspiel und andere Kurzweil erfanden wir, wenn draußen das Wetter ein Spielen unmöglich machte. Wenn mein PC wieder mal gnädig ist, wie jetzt, kann ich ein paar neue Gedanken schreiben. Der Sonntag erweist sich als der günstigste Tag, da hab’ ich Muse dazu. Stichpunkte helfen, ich notiere sie auf kleine Zettel. Wie problematisch der Umgang mit der eigenen Vergangenheit ist stellt sich heraus, wenn ich And’re frage oder meine ersten Ideen vorlese. Ist es so schwer, sind die Emotionen eine Hemmschwelle? Das Leben hat seine Abschnitte. Zimmern gleich öffnet man neue Türen, unhörbar und unbemerkt. Wichtig ist, dass man die Tür des vergangenen Abschnittes sinngemäß schließt, um unbelastet im Raum Zukunft agieren zu können. Öffnet man die geschlossene Tür rückblickend, erscheint das Stehen auf einem relativ unparteiischen Posten wichtig, denn Reflexion braucht Übersicht. Zurück zur „Gang der Neuen Straße“, aus der später dem King seine Bande wurde. Hendrik und ich hatten immer was vor, selbst Blödsinn war wichtig. Spionieren und Wühlen hießen unsere Abenteuer. So entstand auch folgendes Erlebnis, das als - Das Besäufnis im Knieberg - in die Analen eingehen sollte. Toni hatte gebacken. Auf dem Küchentisch stand ‘ne Pulle, mit einer Neege (Rest) Rum oder so. Heimlich, still und leise wurde der beiseite gebracht. Beim Bäcker Geiss, dem Geesbeck, holten wir zwei Semmeln für zwanzig Pfennig. Dazu kam der Luxus von Aufschnitt. Mit den „Schätzen“ wanderten wir hinter den Knieberg. Weil wir eigentlich keine Brötchen mochten, legten wir die Semmeln unter einen Stein und es schauderte uns schon leicht, denn so was war Sünde, bei Strafe verboten. Den Aufschnitt futterten wir aus dem Einwickelpapier und dann gab’s für Jeden ein Hieb aus den Buddel. Als Abrundung hatten wir noch ‘ne „Jubilar“ pro Kerl und in der Überzeugung etwas sehr Verbotenes getan zu haben, schwankten wir durch den Wald. Noch hatte das kein Nachspiel, denn das Tönchen suchte sicher die Flasche, aber vielleicht hatte sie auch selbst genuckelt oder verräumt.