Es war einmal...
...vor langer, langer Zeit ein kleines Dorf mitten in Deutschland. Dort lebten nur zehn Familien und eine von ihnen, ihr Name war Reinhard, verfügte über eine Besonderheit: Eine riesige Standuhr beherrschte den kleinen Innenraum des kuscheligen Häuschens, in dem ein Großvater, sein Sohn dessen Sohn, die dazugehörigen Frauen und etliche Kinder wohnten. Die Uhr hatte einst der Urgroß-vater gebaut, und weil er selbst nie Spuren hinterlassen hatte, war sie etwas
größer ausgefallen als zunächst geplant. Die imposante Größe der Uhr war aber nicht das einzige Problem, denn: Sie tickte furchtbar laut und nervig! Und zwar so sehr, dass alle Familienmit-glieder sie hassten und immer wieder beschimpften. Ja, ab und an wurde das hölzerne Monstrum sogar getreten! Aber, und das muss man der Ehrlichkeit halber erwähnen: Sie wurde nie bespuckt. Das war damals einfach noch nicht üblich und kam erst viel später auf, als irgend-ein Idiot einen Politiker erfand.
Abschaffen konnte man die Uhr übrigens auch nicht, weil Uhren damals noch sehr selten und kostbar waren. Außerdem war ihr morgendlicher Glockenschlag so laut,
dass die Gemeinde keine teure Kirche benötigte. Darüber waren alle recht froh, denn seit jeher freut sich der Mensch, wenn er sonntags um 6 Uhr von Glocken-schlägen geweckt wird.
Die Uhr selbst litt gar nicht so sehr unter den Misshandlungen, wie man vielleicht vermuten würde. Sie war es seit langem gewohnt, dass alle sie wegen ihrer Tickerei nicht leiden konnten. Und es würde sich auch nie etwas ändern, weil die Kinder sich das Verhalten der Erwachsenen abguckten und ebenfalls abfällig über das Holzmonster sprachen. Manchmal seufzte die Uhr leise, hielt
aber dennoch immer ein Auge auf ihre Familie und tat das, was sie am besten konnte: die Zeit anzeigen und herum-stehen.
Eines Tages nun kam ein böses Hoch-wasser und bedrohte das idyllische Leben im Dorf. Das Wasser stieg so schnell, dass viele der Bewohner noch am selben Tag ihrem Schöpfer begegneten. Familie Reinhard hingegen hatte Glück. Alle konnten sich an der großen Holzuhr festhalten und trieben sicher auf den tosenden, schlammigen Fluten.
Präzise wie ein Uhrwerk steuerte das hölzerne Familienmitglied einige
Kilometer weiter das rettende Ufer an und entließ seine Kinder auf das trockene Festland. Und die Menschen, die erst langsam begriffen, welch furchtbarem Schicksal sie gerade noch entkommen waren, lachten und tanzten voller Freude um die Uhr herum.
Der Großvater tätschelte dem Koloss vertraulich das nasse Holz und rief: „Du hast uns allen das Leben gerettet! Nun mögest du ewig weiterticken – niemand aus unserer Familie wird je wieder etwas dagegen sagen!“
Aber die Uhr tickte nicht mehr.
© Ulrich Seegschütz