
Der Jugendrichter musterte das Häufchen Elend, das ein paar Meter vor ihm auf einem Stuhl saß. Bodo Krampe war fünfzehn Jahre alt, stämmig bis wabbelig, mit rundlichem Gesicht und kurzen, roten Haaren. „Wie die kleine Ausgabe eines Metzgers“, dachte der Beamte so für sich. Nicht, dass seine Meinung seine Urteilsfähigkeit beein-flusst hätte, aber für ihn stand fest: Er mochte diesen Jungen nicht.
Und das war genau der Punkt.
Niemand mochte den Teenager; nicht einmal seine eigene Mutter. Aber die war gewissermaßen entschuldigt – ihr Leben war "Ihm" gewidmet. Dem Erlöser. Dem Herrgott.
Von Gestalt hager und…ja, irgendwie ausgemergelt, huschte sie, die stets in Schwarz gekleidet war, morgens früh und abends spät und von den meisten Dorf-bewohnern unbeobachtet, zur Kirche, um Ihm nahe zu sein. Dass sie sich kaum um Bodo kümmerte, war diesem ganz recht, solange er sein Taschengeld bekam und im Kleiderschrank stets gebügelte Wäsche vorfand. Sie erledigte die Tagesroutine „ordentlich“, verbrachte aber ansonsten ihre Zeit in dem kleinen
Gebetszimmer hinter der Küche.
Einmal, als Bodo sich zum Geburtstag ein Mobiltelefon gewünscht hatte, hatte sie nur trocken erwidert: „Wen willst du denn anrufen? Du hast doch überhaupt keine Freunde“. Damit war das Thema erledigt. Immerhin: Das Internet hatte in Bodos großzügig gehaltenem Kinderzim-mer Einzug gehalten. Allerdings erst, nachdem der Klassenlehrer sich einge-mischt hatte, weil es für die Schule von Bedeutung war.
Maria-Theresia Krampe nannte das Internet: „Teufelswerk“, womit sie nicht ganz Unrecht hatte; nur, dass das Übel nicht von gefallenen Engeln, sondern von ganz irdischen Kriminellen drohte.
In der Schule wurde Bodo nur solange ausgegrenzt und gehänselt, bis er größer und stärker war als die anderen. Nach ein paar Ring- und Boxkämpfen traute sich niemand mehr, über Bodo zu lachen. Jedenfalls nicht in seiner Anwesenheit. Dass die Mädchen die Köpfe zusammen-steckten und kicherten, wenn er vorbei-kam, dagegen konnte er nichts machen. Er lernte, es zu ertragen.
Trost fand er bei seiner Tante Bea, die ebenfalls im Dorf wohnte und die in der Stadt als Lehrerin arbeitete. Sie war nicht nur nett und dankbar, wenn er ihr im Garten oder sonst wie zur Hand ging, sondern sah auch umwerfend aus.
Besonders im Sommer, wenn sie sich, nur mit einem Bikini bekleidet, sonnte und dabei kühle Drinks zu sich nahm. Gott! Wie Bodo das Glas beneidete, das sich an ihre Lippen drücken durfte!
Das Dorf, das nichts weiter zu bieten hatte als eine Kirchturmglocke, die es mit den halben und vollen Stunden nicht so genau nahm, war der ödeste Ort, den man sich vorstellen konnte! Es gab seit ein paar Jahren keine Gaststätte mehr, keinen Bahnhof und nicht einmal eine alte Eiche, an der sich abends die Alten hätten treffen können, um ein Schwätz-chen zu halten. Es existierte nur eine kleine, verschlafene Bushaltestelle, die
ein paar Mal am Tag erwachte. Aber auch nur so halb. Den paar Leuten beim Ein- und Aussteigen zuzusehen, war nur in den ersten Jahren interessant gewesen. Spät abends trafen sich hier manchmal Jugendliche, weil sie sonst nicht wuss-ten, wohin sie hätten gehen sollen. Zum Glück „benahmen“ sie sich ordentlich und warfen ihren Müll in den dafür bereitgestellten Behälter.
Also meistens jedenfalls.
Oder manchmal.
Aber eigentlich nie.
Eine gewisse Bedeutung kam einem Feldweg zu, der von der Hauptstraße schnurgerade zu einem kleinen See führte. Er war voller Schlaglöcher und nur von einigen, vereinzelt stehenden Bäumen gesäumt. Wer den langen Weg nicht scheute und den Löchern geschickt auswich, fand in der Hitze des Sommers kühles Wasser und rund um den See Gesellschaft vor.
Der Herbst klopfte in der Ferne schon an, als Bodo eines Nachmittags mit seinem Fahrrad unterwegs zum See war, weil er ihn um diese Zeit meistens für sich alleine hatte. Schon von weitem erkannte er Tante Beas roten Flitzer. Offenbar war
sie frontal gegen einen der wenigen Bäume gefahren. Bodo beeilte sich, öffnete die Fahrertür und erschrak. Seine Tante hing bewusstlos im Sicherheitsgurt und reagierte auf gar nichts. Er überlegte kurz, was zu tun sei. Dann öffnete er den Gurt und führte ihn vorsichtig zurück. Dabei berührte er versehentlich die Brust seiner Tante und zog irritiert seine Hand zurück. Genau davon hatte er immer geträumt: ihre Brust zu berühren. Zu streicheln.
Und er, der noch nie ein Mädchen geküsst, geschweige denn angefasst hatte, blickte sich um und als er feststellte, dass er mit seiner Tante völlig allein und sie noch bewusstlos
war, beugte er sich erneut hinunter und umfasste mit beiden Händen ihre Brüste. Erst über der Kleidung und dann fuhr seine Hand wie von allein unter ihren Bikini. Und von da an übernahmen die Hormone sein Handeln und schalteten als erstes sein Gehirn aus. Vorsichtig zog er seine Tante aus dem Wagen und legte sie ins Gras.
Dann verging er sich an der hilflosen Frau.
Es dauerte nur wenige Minuten und langsam wurde ihm klar, was er da angestellt hatte. Panisch eilte er zu seinem Fahrrad und fuhr so schnell er konnte zurück ins Dorf, wo er beim
Einbiegen auf die Hauptstraße dem pensionierten Dorfpolizisten Hannes Wiegand die Vorfahrt nahm. Beide bremsten rechtzeitig und der Pensionär blickte dem Teenager, der immer noch völlig außer sich war und auch nicht auf seine Rufe reagierte, verdutzt hinterher.
Die Sicherheit, die das Kinderzimmer dem Pubertierenden bot, währte nicht lange. Noch am selben Abend klingelte die Polizei und nahm den Jungen mit. Der Richter hatte dem Angeklagten, seinem Anwalt und einem Psychologen zugehört und wandte sich nun an Bodos
Mutter. „Frau Krampe, Sie haben uns nicht alles erzählt, nicht wahr? Möchten Sie es Bodo sagen, oder soll ich es tun?“
Die ältere Dame erhob sich umständlich, wandte sich an den Jungen und mit gebrochener Stimme erklärte sie: „Bodo….Tante Bea ist nicht deine Tante. Sie ist deine Mutter“. Ein Raunen ging durch den Saal. Bodo zeigte überhaupt keine Reaktion. Stumm und leichenblass, hockte er auf seinem Stuhl und starrte die Frau, die er bisher für seine Mutter gehalten hatte, an.
Dann sprang er plötzlich auf, stieß den Gerichtsdiener zur Seite und stürmte aus dem Saal. Seinem ersten Nervenzusam-menbruch entgegen.