
Man sagt, in jener Nacht, als der Dezember sein silbriges Tuch über die Wälder werfen wollte, sei etwas schiefgegangen. Die Wolken standen bereit, schwer vor Erwartung, der Wind summte ein frühes Schlaflied — doch kein einziger Flockenstern fiel zur Erde. Und so stapfte Krampus, missmutig wie ein alter Wolf, durchs Unterholz. Neben ihm schritt Nikolaus, geduldig wie immer, den Stab fest in der Hand, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
„Es fehlt etwas“, brummte Krampus. „Es riecht nach Winter, aber er ist nicht da.“ Nikolaus lächelte. „Dann suchen wir ihn. Alles, was verschwunden scheint, wartet nur darauf, gefunden zu werden.“ So zogen sie los. Über gefrorene Bäche, die im Mondlicht wie zerbrochene Spiegel glänzten. Durch dunkle Tannen, deren Schatten Geschichten flüsterten. Krampus schnüffelte, grummelte, schabte mit den Hörnern an Baumrinden, als wollten sie ihm ein Zeichen geben. Doch der Schnee blieb unauffindbar — wie ein Traum, der sich weigert, erinnert zu werden.
Erst als sie den höchsten Grat erreichten, wo die Welt für eine Sekunde still steht, blieb Nikolaus stehen. „Hör hin“, sagte er. Krampus spitzte die Ohren. Und dann hörte er es tatsächlich — ein leises Knacken, wie das erste Wort eines Gedichts, das noch niemand geschrieben hatte. Der Himmel über ihnen vibrierte, als würde er tief durchatmen. „Er hat sich verirrt“, murmelte Nikolaus. „Er weiß nicht, wo er landen soll.“ „Dann locken wir ihn!“, entschied Krampus, und seine Stimme bekam einen unerwartet warmen Klang.
Er schlug seine Kette aneinander, nicht laut, sondern in einem Rhythmus, der an ein uraltes Wiegenlied erinnerte. Nikolaus stellte seinen Stab in den Schnee — oder in das, was bald Schnee sein sollte — und ließ ein sanftes Leuchten daraus strömen, golden wie Hoffnung. Die Wolken zuckten. Ein Zittern ging durch die Nacht. Und dann — endlich — fiel die erste Flocke. Sie schmolz auf Krampus’ Nase. Er schnaubte überrascht, dann lachte er,
ein tiefes, freches, fast kindliches Lachen. „Da bist du ja“, sagte er zur Flocke, als wäre sie ein alter Freund, der viel zu lange ferngeblieben war. Bald tanzten tausend kleine Wintersterne um sie herum. Die Berge bekamen ihr weißes Kleid zurück, die Täler ihre Stille, die Welt ihr Funkeln. Nikolaus legte Krampus die Hand auf die Schulter. „Manchmal“, sagte er, „findet der Schnee erst zu uns, wenn wir ihn wirklich vermissen.“
Und so wanderten sie heim, Seite an Seite, zwei Gestalten zwischen fallenden Wundern — wissend, dass jede Jahreszeit ihren eigenen Schlüssel trägt, und dass selbst ein Krampus den Winter öffnen kann, wenn er nur tief genug lauscht.
Der Wind hatte sich gelegt, als Krampus auf dem Grat stand. Der Schnee, kaum gefallen, schimmerte wie ein Wesen, das noch nicht sicher war, ob es bleiben durfte. Dann hob er die Stimme — nicht laut, sondern in jenem Flüstern, das selbst Felsen lauschen lässt. „Du bist spät“, brummte Krampus. „Und du wirst jedes Jahr später.“ Der Schnee senkte sich um ihn, ein feiner Schleier, ein leiser Seufzer. „Ich weiß“, sagte er. „Ich komme, so gut
ich kann. Doch die Welt ist wärmer geworden… nicht auf die gute Art.“ Krampus schnaubte, seine Atemwolke roch nach Ruß und alter Ungeduld. „Die Menschen? Schon wieder Mist gebaut?“ Der Schnee lächelte traurig — falls Schnee lächeln kann. „Sie haben das Feuer entfesselt, ohne die Kälte zu ehren. Sie jagen dem Immer-Mehr nach… und jedes Mehr frisst ein Stück von meinem Himmel.“ „Ich brauche dich“, grollte Krampus. „Ohne dich ist der Dezember nur ein langer, nasser Albtraum.“
„Ich weiß.“ Der Schnee sank dichter, legte sich wie Trost auf Krampus’ Schulter. „Aber ich komme nicht mehr, wann ich will. Ich komme nur noch, wenn die Welt es zulässt.“ Krampus’ Hörner warfen lange Schatten auf die weiße Fläche, die gerade entstand. „Sag mir, was ich tun soll“, murmelte er, und plötzlich klang er nicht mehr wie der Schreck der Nacht, sondern wie jemand, der zum ersten Mal Sorge spürt. Der Schnee zitterte in der Luft, sanft wie ein Herzschlag. „Erinnere sie. Du bist alt genug, um
ihnen Angst einzujagen — aber noch älter darin, sie zu mahnen. Sag ihnen, dass Wärme ein Geschenk ist, aber kein Ersatz für Winter. Sag ihnen, dass ein Jahr ohne mich ein Jahr ohne Stille ist… ohne Neubeginn.“ Krampus nickte, und etwas in ihm wurde ernst wie ein Schwur. „Wenn ich sprechen muss, spreche ich. Wenn ich schreien muss, schreie ich. Und wenn sie’s nicht begreifen…“ Er klirrte mit seinen Ketten, doch diesmal weniger drohend, mehr wie eine Glocke, die Wahrheit ruft. „…dann rüttel ich sie wach.“
Der Schnee lächelte erneut — diesmal gewiss.
„Tu das. Und ich werde kommen, wann immer ich kann. Nicht um sie zu bestrafen. Sondern um ihnen zu zeigen, wie schön die Welt sein kann, wenn sie sie nicht verbrennen.“
Krampus blickte hinauf in den schweigenden Himmel.
„Dann los“, sagte er. „Wir haben Arbeit.“
Und der Schnee fiel weiter — nicht aus Winter, sondern aus Hoffnung.
Nicht aus Kälte, sondern aus Erinnerung.
Bis die Welt wieder wusste, dass selbst das Leiseste Bedeutung hat.
Krampus stapfte durch das knirschende Weiß, das sich nur zögerlich auf den Boden gelegt hatte. „Schön, dass du da bist“, murmelte er. „Für einen Moment dachte ich, du würdest uns dieses Jahr ganz verlassen.“ Der Schnee schwebte um ihn herum, doch seine Flocken wirkten anders — kantiger, schneller, als hätte jemand ihre Geduld zu dünnem Glas geschliffen. „Verlassen?“, fauchte er, ein ungewohnt scharfes Wispern. „Ich kann nicht verlassen, was sich selbst verliert.“
Krampus blieb stehen, überrascht. „Du klingst, als hättest du Wut im Bauch.“ „Ich habe keine Bäuche“, zischte der Schnee. „Aber ich habe Grenzen. Und sie sind dünner geworden, Krampus. Dünn wie eine Eisdecke, unter der die Wahrheit brodelt.“ Krampus brummte unruhig, seine Hufe scharrten. „Sag’s offen. Ich halte es aus.“ Der Schnee fiel dichter, fast wie ein Vorhang aus zitternden Funken. „Sie haben mich vergessen“, begann er, und seine Stimme bebte wie ein
Stromstoß in der Stille. „Sie jagen Wärme, als wäre sie ein Recht. Sie reißen Wälder auf, als wären es Seiten aus einem Buch, das sie eh nicht lesen. Sie bauen Feuer auf Feuer, bis selbst der Himmel schwitzt.“ Krampus wollte etwas erwidern, doch der Schnee schnitt ihm das Wort ab: „Und dann rufen sie nach mir! ‚Wo bleibt der Winter?‘ fragen sie, als wäre ich ein Diener, der verschlafen hat. Aber ich komme nicht, Krampus — nicht, wenn der Boden zu warm ist, nicht, wenn das Meer steigt, nicht, wenn die Wolken selbst erschöpft sind.“
Die Flocken stachen wie kleine Nadeln auf seine Haut, und Krampus knurrte leise. „Ich verstehe deine Wut. Aber du machst mir Angst.“ „Gut“, sagte der Schnee. „Vielleicht brauchen sie deine Angst. Vielleicht brauchen sogar die Heiligen mal ein Beben unter den Füßen.“ Da trat Nikolaus aus dem Dunkel, sein Stab glimmte wie die Glut eines alten Sterns. „Genug“, sagte er sanft, doch seine Stimme schnitt durch die Nacht wie ein sanfter Dolch. „Wut ist ein Anfang, Schnee, aber kein Ziel.“
Der Schnee wandte sich ihm zu. „Und was ist das Ziel? Ein Lächeln auf einer schmelzenden Welt?“ Nikolaus trat zwischen die beiden, und für einen Moment war es, als atmete der Winter selbst durch ihn. „Das Ziel ist, dass du wiederkommen kannst“, sagte er. „Nicht als letzter Gast, sondern als vertrauter Freund. Und dafür müssen sie aufwachen — nicht mit Feuer. Sondern mit Verantwortung.“ Der Schnee hielt inne. Seine Flocken zitterten, aber der Schmerz darin wurde klarer, nicht härter.
„Wenn ich noch einmal fall…“, begann er. „Dann“, unterbrach Nikolaus, „fällst du, weil sie gelernt haben. Und wenn sie nicht lernen… dann wird Krampus ihnen das Flüstern in den Schlaf tragen, das sie nicht hören wollen.“ Krampus hob langsam das Kinn, seine Augen glommen wie Kohlen im Wind. „Ich bin bereit“, sagte er. „Nicht nur zum Erschrecken. Auch zum Erinnern.“ Der Schnee sank weicher. „Dann bleibe ich“, flüsterte er, „solange die Welt zuhört.“
Und so standen sie dort — drei alte Wesen im Herzen einer Nacht, die wusste, dass sie selten geworden war — und schmiedeten ein Versprechen aus Kälte, Geduld und dem wilden Mut, die Welt noch nicht aufzugeben.
Der Wind ruhte, als hätte er selbst den Atem angehalten. Krampus und Nikolaus standen nebeneinander, schweigend wie zwei Wächter, die nicht wissen, was sie bewachen. Zwischen ihnen tanzte der Schnee — langsam, vorsichtig, als würde jede Flocke prüfen, ob der Boden sie noch tragen konnte. „Ihr habt meine Wut gehört“, begann er, so leise, dass selbst die Tannen lauschen mussten. „Doch Wut ist nur die Rinde. Darunter liegt etwas anderes… etwas, das schwerer ist.“
Krampus senkte die Hörner ein Stück. „Sag es“, brummte er. „Wir sind bei dir.“ Der Schnee schwebte näher, als suche er Halt in ihrer Nähe. „Ich habe Angst“, flüsterte er. „Nicht vor dem Verschwinden selbst — ich war nie ewig. Aber davor, ein Fremder zu werden. Zu einem Gast, den die Welt kaum mehr kennt… und kaum mehr braucht.“ Seine Flocken zerfielen in der Luft, bevor sie den Boden berührten. „Ich sehe Städte wachsen, Lichter brennen, Meere steigen… und jedes Jahr muss ich weiter ziehen, weiter in die
Höhe, weiter in die Kälte, die es kaum noch gibt. Manchmal frage ich mich: Wenn ich eines Tages nicht komme… wird jemand mich vermissen? Oder nur den ‚romantischen Anblick‘, den ich ihnen schenke?“ Krampus’ Stimme wurde ungewohnt weich. „Ich würde dich vermissen. Nicht wegen der Romantik. Sondern weil du die Welt in ein Lied verwandelst.“ Der Schnee zitterte, ein ganz feiner Herzschlag. „Manchmal träume ich davon, wieder frei zu fallen — ohne Furcht, ohne Hast. Ich möchte die Dächer bedecken, die Wälder beruhigen,
die Kinder aufschauen lassen. Ich möchte die Stille schenken, die heilt. Aber ich weiß nicht, ob ich dazu noch stark genug bin.“ Nikolaus ging einen Schritt näher, sein Stab glimmte warm. „Du bist stark genug. Weil du nicht allein bist.“ Krampus nickte. „Wenn die Welt dich nicht hört, schreie ich für dich. Und wenn sie dich vergisst, trage ich deinen Namen durch jede Nacht.“ Der Schnee schien zu lächeln — ein Lächeln, das in der Luft zu schimmern begann.
„Vielleicht…“, hauchte er, „ist genau das meine Hoffnung. Nicht, dass die Welt perfekt wird. Sondern dass sie wieder zuhören lernt. Und dass ihr zwei mich sucht, selbst wenn ich schwer zu finden bin.“ Er fiel ein wenig dichter, ein wenig mutiger. Die Flocken berührten den Boden — und diesmal blieben sie liegen. „Ich bleibe heute Nacht bei euch“, sagte er. „Nicht, weil die Welt kalt genug wäre. Sondern weil ihr warm genug seid.“ Krampus und Nikolaus tauschten einen
Blick, der tiefer war als jedes Wort, und der Schnee legte sich um sie wie ein Versprechen — zart, zerbrechlich, aber wahr. Und so entstand in dieser Nacht ein neuer Anfang: ein Schnee, der nicht wegen des Winters fiel, sondern wegen der Herzen, die ihn riefen.
Die Nacht lag still über dem Gebirge, doch in dieser Stille regte sich etwas — ein Zittern, als lausche die Dunkelheit selbst auf eine Wahrheit, die niemand gern ausspricht. Der Schnee sank weiterhin, behutsam, fast schamhaft, als wage er kaum, den Boden zu berühren. Krampus und Nikolaus gingen schweigend neben ihm, bis der Schnee selbst die Pause brach. „Darf ich euch etwas gestehen?“ Seine Stimme klang dünn wie ein Hauch an Fensterglas.
„Natürlich“, sagte Nikolaus. Krampus nickte, ernst wie ein Stein. „Ich sehne mich nach dem Frühling“, flüsterte der Schnee. Krampus brummte überrascht. „Nach dem Frühling? Dem warmen Hund? Der dir jedes Jahr das Fell vom Rücken schmilzt?“ Der Schnee wirbelte sacht um Krampus’ Hörner, als hätte er kurz lächeln wollen. „Ja… nach ihm. Nach dem Aufblühen, nach dem Grün, das meinen weißen Mantel ersetzt. Ich liebe seinen Duft. Sein Erwachen. Seine Sorglosigkeit.“ Die Flocken wurden langsamer. „Aber
ich fürchte ihn. Denn mit jedem Jahr kommt er früher… und ich bleibe kürzer.“ Er ließ sich auf einen Ast nieder, der kaum kalt genug war, ihn zu tragen. „Ich bin geschaffen, um zu vergehen — und dennoch erschreckt mich das Vergehen. Früher war es ein Tanz: ich komme, ich bedecke, ich ruhe… und wenn meine Zeit erfüllt war, trat der Frühling hervor. Doch jetzt… jetzt spüre ich ihn, ehe ich selbst angekommen bin.“ Nikolaus senkte den Blick. „Die Jahreszeiten sind aus dem Takt geraten.“
„Ja“, hauchte der Schnee. „Und ich weiß nicht mehr, ob ich noch dazugehöre. Ob der Frühling mich noch erkennt. Oder ob ich für ihn nur noch ein Schatten bin, den er mit einem warmen Atemzug vertreibt.“ Krampus knirschte mit den Zähnen. „Er mag früh kommen. Aber er kommt nicht besser als du. Und nicht heilender.“ Dann beugte er sich vor, seine Stimme halb Grollen, halb Trost. „Wenn du weniger Zeit hast… mach sie lauter. Tiefer. Unvergesslicher.“ Der Schnee zitterte — nicht aus Kälte, sondern aus etwas, das Menschen
„Hoffnung“ nennen würden. „Vielleicht… vielleicht kann ich das. Nicht länger bleiben, aber intensiver. Nicht laut im Sturm, sondern laut im Herzen.“ Nikolaus hob seinen Stab, und das goldene Licht darin berührte die Flocken wie eine zärtliche Frage. „Wenn du kommst, egal wie kurz, dann kommst du vollkommen. Und das genügt.“ Für einen Augenblick schien die gesamte Bergwelt stillzustehen. Der Schnee senkte sich wieder, dichter, tiefer, beinahe mutig.
„Dann verspreche ich euch etwas“, sagte er, und seine Stimme wurde zu einem stillen Gedicht:
Ich komme, solange ich kann.
Ich falle, solange mich jemand ruft.
Ich schmelze, aber ich verschwinde nicht — denn wer mich erinnert, bewahrt mich.
Krampus atmete hörbar aus. „Und wir erinnern dich.“
Der Schnee legte sich über ihre Spuren — weich wie ein letzter Atemzug, gleichzeitig ein Anfang.
Und die Nacht hörte zu, als würde sie dieses Versprechen retten wollen.
Sie wanderten weiter, zu dritt in einer Nacht, die wie ein stiller Dom aus Frost und Dunkelheit über ihnen stand. Der Schnee fiel nur noch sporadisch, als müsse jede Flocke erst überlegen, ob sie sich der Welt überhaupt anvertrauen dürfe. Seine Stimme war nur ein Hauch, doch sie trug das Gewicht von Jahrhunderten. „Es gibt einen Faden“, begann er, kaum hörbar. „Einen uralten, fast unsichtbaren. Er hält die Natur zusammen wie eine Geschichte, die sich selbst erzählt.“
Krampus hob die Ohren. Nikolaus blieb stehen. „Ich kenne diesen Faden“, sagte der Heilige leise. „Die Alten nannten ihn Harmonia Mundi.“ Der Schnee nickte — ein Nicken, das wie ein kurzes Aufleuchten in der Luft wirkte. „Ja. Ein Gleichgewicht aus Hitze und Kälte, Wachstum und Ruhe, Licht und Schatten. Ein Tanz, der älter ist als wir alle.“ Er senkte sich, tastend, über einen Stein, der noch warm war vom vorangegangenen Herbst. „Doch der Faden… er franst aus. Wird
dünner, schwächer. Als würde ein unsichtbarer Atem daran zupfen, unbedacht, gleichgültig. Und wenn er reißt… dann reißt nicht nur meine Zeit. Dann reißt der Rhythmus selbst.“ Krampus schnaubte unruhig. „Was meinst du damit?“ Der Schnee schwebte einen Moment schweigend, ehe seine Stimme dunkler wurde. „Die Welt ist ein Kreis. Kein Anfang, kein Ende — nur Wiederkehr. Doch wenn eines zu stark wird… bricht der Kreis aus der Form. Der Sommer presst sich auf meine Monate, der Herbst verliert
seine Tiefe, der Winter seine Würde. Alles gerät ins Schleudern.“ Er atmete, falls Schnee überhaupt atmen kann. „Und wenn der Kreis bricht, wird jede Jahreszeit zum Fremden — und keine weiß mehr, wo sie hingehört.“ Nikolaus hob langsam seinen Stab. Das goldene Leuchten darin flackerte, als würde eine alte Wahrheit darin zittern. „Kann man den Faden flicken?“ „Nur gemeinsam“, antwortete der Schnee. „Nicht durch Furcht, nicht durch Zwang… sondern durch ein neues
Hinhören. Ein neues Bewahren. Die Menschen müssen begreifen, dass jede Wärme, die sie schaffen, eine Kälte verdrängt, die sie brauchen. Ohne mich ruht die Erde nicht. Ohne Ruhe gibt es kein Leben.“ Krampus blickte ernst in die Dunkelheit, als könnte er dort den Sommer lauern sehen. „Und was tust du… wenn der Sommer zu früh kommt? Wenn er den Kreis sprengt?“ Der Schnee wurde still — beängstigend still. Dann flüsterte er: „Dann werde ich gehen, bis man mich vermisst. Und
vielleicht… kehre ich erst zurück, wenn sie gelernt haben, dass Balance kein Recht ist, sondern ein Geschenk.“ Krampus schnaubte aufgebracht. „Du kannst dich doch nicht ganz zurückziehen!“ „Ich kann“, hauchte der Schnee. „Aber ich will es nicht. Deshalb spreche ich zu euch — weil ihr zuhört. Und wer zuhört, kann erinnern. Und wer erinnert, kann schützen.“ Nikolaus legte eine Hand auf Krampus’ Arm. „Wir warten nicht, bis du gehst. Wir handeln, bevor du musst.“
Der Schnee schimmerte schwach, ein Licht im Lichtlosen.
„Dann seid ihr Teil des Kreises. Und vielleicht… wird der Faden noch nicht reißen.“
Und so standen sie im Herzen der Nacht — der Schnee, der um sein Dasein fürchtete; Krampus, der die Welt aufrütteln wollte; Nikolaus, der den Faden kannte —
und die Balance atmete leise um sie herum, fragil wie Glas, doch noch nicht zerbrochen.
Man sagt, in jener Nacht, als der Dezember sein silbriges Tuch über die Wälder werfen wollte, sei etwas schiefgegangen. Die Wolken standen schwer vor Erwartung, der Wind summte ein frühes Schlaflied — doch kein einziger Flockenstern fiel zur Erde. Und so stapfte Krampus, missmutig wie ein alter Wolf, durchs Unterholz. Neben ihm schritt Nikolaus, geduldig wie immer, den Stab fest in der Hand, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
„Es fehlt etwas“, brummte Krampus. „Dann suchen wir ihn“, lächelte Nikolaus. „Alles, was verschwunden scheint, wartet nur darauf, gefunden zu werden.“ Sie zogen los, über gefrorene Bäche, durch dunkle Tannen, bis zum höchsten Grat, wo die Welt für eine Sekunde stillsteht. Da hörten sie es: ein leises Knacken, wie das erste Wort eines ungeschriebenen Gedichts. „Er hat sich verirrt“, murmelte Nikolaus. „Er weiß nicht, wo er landen soll.“ „Dann locken wir ihn!“, entschied Krampus. Seine Ketten klirrten im alten
Rhythmus eines Wiegenlieds. Nikolaus ließ ein sanftes Leuchten aus seinem Stab strömen. Die Wolken zitterten. Und dann — fiel die erste Flocke. Sie schmolz auf Krampus’ Nase, und er lachte, ein tiefes, freches Lachen. Bald tanzten tausend kleine Wintersterne um sie herum, die Berge bekamen ihr weißes Kleid zurück, die Täler ihre Stille, die Welt ihr Funkeln. Doch der Schnee wollte mehr als nur fallen. Er sprach. „Ich bin der Erste und der Letzte, der leise fällt. Ich bin Erinnerung, das weiße
Flüstern, das alles zudeckt, damit es neu beginnen kann.“ Er erzählte Krampus und Nikolaus von seiner Sorge um die Welt, vom warmen Atem der Menschen, der ihn immer später kommen lässt. „Ich komme nicht mehr, wann ich will. Ich komme nur, wenn die Welt es zulässt.“ Krampus versprach, die Menschen zu rütteln, wenn sie nicht hören wollten. Nikolaus ergänzte, dass die Erinnerung die stärkste Macht sei, um den Schnee zurückzuführen. Und so fielen die Flocken weiter, leise aus Hoffnung, nicht aus Kälte.
Der Schnee sprach von seiner Angst vor dem Frühling, den er zugleich ersehnt und fürchtet. „Ich liebe sein Grün, doch ich habe Angst vor seinem Atem. Ich bleibe kürzer, als es einmal war.“ Nikolaus und Krampus versprachen, dass die Zeit, die er noch hat, intensiv und unvergesslich sein soll. Doch seine Stimme wurde noch tiefer, älter, als er über die uralte Balance der Natur sprach: „Es gibt einen Faden, der alles zusammenhält — Hitze und Kälte, Wachstum und Ruhe, Licht und Schatten. Doch er franst aus. Wenn der Kreis bricht, wird jede Jahreszeit zum Fremden.“
Krampus schnaubte, Nikolaus hob seinen Stab, und der Schnee sprach weiter: „Ich kann mich zurückziehen, wenn die Welt zu unachtsam wird. Aber ich will es nicht. Deshalb spreche ich zu euch — ihr könnt erinnern, und wer erinnert, kann schützen.“ So standen sie dort, der Schnee, der um sein Dasein fürchtete; Krampus, der die Welt aufrütteln wollte; Nikolaus, der den Faden der Natur kannte — und die Balance atmete leise um sie herum, fragil wie Glas, doch noch nicht zerbrochen. Und der Schnee fiel weiter — nicht nur aus Winter, sondern aus Erinnerung.
Nicht aus Kälte, sondern aus Hoffnung. Denn wer ihn ruft, wer zuhört und handelt, bewahrt ihn und die Welt, die noch immer in Atem steht.