Es waren die Tage zwischen dem ersten und zweiten Advent. Schlecht gelaunt verfolgte ich mit den Augen die Farbrolle, die auf der leicht gelblichen Tapete ihre weißen Bahnen zog. Ich war nicht ganz bei der Sache, weil ich eigent-lich vor Weihnachten mit der Renovier-ung hatte fertig sein wollen.
Im Hintergrund plärrte der Fernseher, der gerade während einer Nachrichtensend-ung die Verrücktheiten dieser Welt ausspuckte, als mich eine Information ansprang, die mich aufhorchen ließ. Es ging um die durchschnittlichen Ausgaben der Bundesbürger für Weihnachten. Und
durchschnittlich zu sein, war mir wichtig! Das ging auf Erfahrungen in meiner Kindheit zurück, die ich in der Penne gemacht hatte. Lag man nämlich mit seinen schulischen Leistungen unter dem Durchschnitt, gab es Ärger mit den Eltern, war man überdurchschnittlich gut, bekam man Prügel von anderen Jungen, die allesamt unterdurchschnitt-lich und schlicht neidisch waren.
Laut Fernseher lag ich in diesem Jahr weit unter dem statistischen Mittelwert! Ich nahm diesen Umstand zum Anlass, die Renovierung für beendet zu erklären und in die Stadt zu fahren.
Ohnehin hatte ich mir selbst etwas
Schönes zu Weihnachten schenken wollen; vielleicht einen neuen DVD-Player. Den hätte ich auch online bestellen können, aber der Zeitpunkt war ungünstig. So kurz vor dem Fest würde der Briefträger mich wieder mit diesem vorwurfsvollen Blick anstarren, bei dem man förmlich sehen konnte, wie sich in seinem Gehirn die Wörter: „Kein Trink-geld?“ formten.
Im Treppenhaus begegnete mir meine Nachbarin. Sie schien mir etwas aus der Zeit gefallen zu sein. Obwohl sie gerade noch als jung durchging, trug sie stets graue Kleider und ihre Haare streng nach hinten gekämmt und meistens zu einem
Dutt geformt, was sie deutlich älter wirken ließ.
Sie war….früher hätte man gesagt: ver-huscht. Und ihr Name passte zu dem Gesamtbild: Maria Theresia Rosenkranz! Ich war zwar streng katholisch erzogen worden – mehr streng als katholisch – und so war mir nichts Christliches fremd, aber dieser Name war mir dann doch etwas zu fromm!
Sie hatte ein Auge auf mich geworfen und ich grinste innerlich bei der Vor-stellung, wie sie nun überall anstieß, weil ihr räumliches Sehen mit dem einen verbliebenen Auge eingeschränkt war! Immerhin: Sie backte wunderbare Plätz-chen, von denen sie zu Weihnachten auch
gerne mal einige vor meine Wohnungstür legte.
Wir grüßten uns knapp und ich eilte weiter, um einem möglichen Gespräch aus dem Weg zu gehen.
Die Straßenbahn füllte sich langsam, aber stetig. Bis wir die Innenstadt erreichten, war kaum noch ein Stellplatz frei. Ich freute mich über meinen bequemen Sitz und ignorierte die bösen Blicke einiger älterer Herrschaften. Die hatten den Zweiten Weltkrieg und Corona überlebt, mussten also dement-sprechend zäh sein.
Mitten in der Fußgängerzone stoppte die Bahn und ich stieg aus. Obwohl ich damit gerechnet hatte, überraschte mich dennoch die Wucht der Welle von Kauf-wütigen, die mich mehrere hundert Meter mitriss und schließlich in eine Neben-straße warf. Verdutzt blickte ich auf einen alten Mann, der mich ebenfalls entgeistert musterte. Kein Wunder, war ich doch mit dem Kopf heftig gegen eine seiner Holzkisten gestoßen, die eine Art Flohmarktstand bildeten.
„Auch eine Methode, andere Leute kennen zu lernen“, meinte er trocken und mir fiel auf, dass nicht nur seine Stimme überraschend angenehm klang,
auch seine Augen waren nicht alltäglich. Irgendwie warm und freundlich, aber dennoch hatte ich das Gefühl, dass er mir direkt in die Seele zu blicken vermochte! Ansonsten sah er mit seinem weißen Haupthaar und dem Rauschebart ungefähr so aus, wie man sich den Weihnachts-mann vorstellte, bzw. von Hollywood jedes Jahr gezeigt bekam.
Lediglich der abgetragene, alte, dunkle Mantel und die ungepflegten Hände - inklusive schwarzer Fingernägel - passten zu keiner solch romantischen Vorstellung. Eher zu einer von Obdach-losen, die vor einem Kaufhaus saßen.
Ich half ihm, die verschobene Kiste wieder an ihre alte Position zu rücken.
Sie war bis zum Rand gefüllt mit Kerzen. Einige davon sahen ganz hübsch und neu aus, aber die meisten vermittelten den Eindruck, dass sie im Laufe der Jahre wahllos zusammengesammelt worden waren. Im Laufe vieler Jahre! Damit fügten sie sich perfekt in das Sammel-surium von wertlosem Trödel ein, das auf dem provisorischen Tisch feilgeboten wurde. Immerhin: Eine der Kerzen in der Kiste war mir gleich aufgefallen, weil sie aufwendig verziert war und irgendwie glitzerte und leuchtete. Aber das war vermutlich nur die Reflexion eines Lichtes der Weihnachtsbeleuchtung, ohne die auch diese ansonsten unscheinbare Nebenstraße voller geschlossener
Restaurants und Handwerksgeschäfte nicht auskam.
„Wie viel kostet sie?“, wollte ich wissen und deutete auf die Kerze. Der Alte legte den Kopf schief, überlegte eine Weile und erwiderte schließlich:
„Jedenfalls kein Geld“.
Mir kam Kapitän Cook in den Sinn und ich grinste: „Glasperlen und Messer hab’ ich aber gerade nicht dabei!“ Unbeeindruckt entgegnete er ernst: „Das ist eine besonders schöne Kerze. Wenn Sie sie haben möchten, müssen Sie einhundert Menschen glücklich machen“. Verblüfft und überzeugt davon, es mit einem Irren zu tun zu haben, holte ich Luft, um vorsichtig zu antworten:
„Äh…“
„Zweihundert“, unterbrach er mich. „Häh? Wie soll ich denn zweihunert Menschen glücklich machen!? Das ist absurd!“
“Dreihundert“.
„Was heißt überhaupt glücklich?“ fragte ich perplex und um ihn zu provozieren, fügte ich selbst eilig hinzu: "Vierhun-dert!“
Er lächelte in mein Grinsen hinein: „Glücklich machen bedeutet, ihnen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Oder ein Lachen, Schmunzeln. Es geht auf Weih-nachten. Das Fest der Liebe und des Gebens. Verstehen Sie?“.
„Aha“. Ich hatte mich zwar wieder
gefangen, aber irgendwie war mir das Ganze doch …. na ja, zu blöd!
Ich warf einen erneuten Blick auf die Kerze, die nun eindeutig zu leuchten schien. Ich hätte sie schon gerne mitge-nommen….
Um meine Verhandlungsposition zu verbessern, sah ich umständlich auf meine Armbanduhr und gab mich ungeduldig.
Der Alte lächelte, als ob er meine Absicht erraten hätte.
„Also gut. Sie können sie mitnehmen, wenn Sie einhundert Menschen zum Lachen, Lächeln oder Schmunzeln bringen. Ein freundliches Hallo zum Nachbarn, ein Lächeln an der Kasse im
Supermarkt…. man muss nur wollen! – Deal?“
Damit hielt er mir seine rechte Hand hin.
Ich dachte etwas nach und entgegnete schließlich: "Jetzt mal im Ernst: Einhun-dert, das ist völlig unrealistisch. FÜNF könnte ich mir vorstellen".
„Okay. Gut. ZEHN! Das ist mein letztes Wort. Schlagen Sie ein!“, presste der Alte durch die zusammengekniffenen Lippen.
"Deal", erwiderte ich und schlug, von mir selber überrascht, ein und mit einem Geschick, das ich dem Alten gar nicht zugetraut hätte, ließ er die Kerze in Windeseile in die schicke Einkaufstüte einer Nobelmarke gleiten, von der ich
gar nicht wissen wollte, wie sie in seinen Besitz gekommen war. Anschließend wollte ich nur noch nach Hause. Die Vorstellung, mich wegen eines DVD-Players in das vorweihnachtliche Getümmel zu stürzen, hatte völlig an Reiz verloren.
Mein Gott! Dann bekam eben der Post-bote einen Euro Trinkgeld! Schließlich war bald Weihnachten! Das Fest der Liebe und des Gebens! – Verstehen Sie?
Während in meinem Wohnzimmer die Heizung fröhlich summend ihren Dienst aufnahm, packte ich meine Neuerwerb-ung aus, platzierte sie auf dem Couchtisch neben meinem Notebook und
bereitete mir einen Cappuccino zu.
Dann machte ich es mir gemütlich, blickte lange in den freundlichen, warmen Lichtschein der Kerze und ließ mir die Geschehnisse des Tages noch einmal in Ruhe durch den Kopf gehen.
Mir fiel es nicht gleich auf, aber ich wurde innerlich ganz ruhig und … ja, irgendwie friedlich und heiter. Hatte mich die Weihnachtsstimmung eingeholt?
Als ich später im Schlafzimmer die kleine Nachttischlampe ausknipste und mich in die Federn kuschelte, schlief ich aber trotzdem lange nicht ein.
Und so fand mich der nächste Morgen einigermaßen knurrig vor. Ich hatte
gerade mein Notebook hochgefahren und nippte an einer Tasse heißen Kaffees, als plötzlich mit einem lauten Knall die Balkontür, die ich fest verschlossen hatte, da war ich mir ganz sicher, aufsprang und zusammen mit einem kalten Windhauch, der auch einige Schneeflocken mit sich führte, obwohl es gar nicht schneite, der Alte vom Vortag ins Zimmer stürmte! Sein Rauschebart zitterte empört, als die Lippen des wütenden Mannes aufsprangen: „DU!!! Du hast mich reingelegt! Heilige Drei-faltigkeit!!“
ENDE TEIL 1