Der erste weibliche Krampus
Man erzählt, sie sei nicht geboren worden,
sondern vom Wind freigekratzt aus einer Felsspalte,
dort, wo das Grollen der Berge in den Nächten besonders tief
und die Schatten besonders hungrig wirken.
Ihr Name war Kramissa,
und sie trug keine Hörner –
nein, die Hörner trugen sie.
Wie zwei alte Gedanken,
die man nie ganz
loswird.
Während die männlichen Krampusse polternd durch Dörfer zogen,
Ruten schlenkernd, Ketten rasselnd,
ging Kramissa leiser.
Ihre Schritte waren kaum zu hören,
eher eine Ahnung, ein Wispern,
ein Versprechen.
Sie suchte nicht die Kinder, die frech gewesen waren.
Sie suchte die,
die ihre eigenen Ängste zu lange geschluckt hatten.
Die mit den stillen Blicken.
Die mit dem Zittern in der
Stimme.
Die, deren Träume schon Staub angesetzt hatten.
»Was willst du von uns?«, fragte einst ein Junge,
der sich vor ihr im Nebel verlor.
Ihr Schweigen war zuerst die einzige Antwort.
Dann kniete sie nieder,
berührte sanft die gefrorenen Fichtenäste
und sagte schließlich:
Ich nehme euch nichts.
Ich gebe euch nur zurück,
was man euch geraubt hat:
den Mut, zu
schreien,
wenn die Welt euch überrennt.«
Und so geschah es:
Dort, wo sie erschien,
wurden Nächte heller,
Herzen schwerer –
und seltsam freier.
Die anderen Krampusse fürchteten sie.
Nicht wegen ihrer Stärke,
sondern wegen ihrer Klarheit.
Denn während sie Strafe brachten,
brachte sie Erkenntnis.
Und manchmal, das wusste jeder Dämon,
ist Erkenntnis der viel schärfere
Huf.
Man sagt, sie wandere noch immer.
Nicht laut, nicht drohend,
nur mit diesem unmissverständlichen Blick,
der selbst den Winter kurz innehalten lässt.
Wer ihr begegnet,
trägt danach eine neue Narbe –
aber nie an der Haut.
Nur im Herzen,
an der Stelle,
an der Mut geboren wird.