Kurzgeschichte
Der erste Krampus Teil 1 bis 3

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"Der erste Krampus Teil 1 bis 3"
Veröffentlicht am 29. November 2025, 66 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Ich erinnere mich noch gerne meiner allerersten Zeilen - ein Schulgedicht: Der Winter ist ein Bösewicht, die Bäume tragen Schneegewicht, die Stämme sind kahl und so schwarz wie ein Pfahl, die Felder sind weiß und auf dem See liegt Eis. In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich mein Schreibstil sicher geändert - ist erwachsen geworden -, aber die Freude am Schreiben ist ungetrübt.
Der erste Krampus Teil 1 bis 3

Der erste Krampus Teil 1 bis 3

Der erste Krampus - Wie alles begann

Als die Welt noch jung war und die Alpen keine Namen trugen, lebte ein Hirtenjunge namens Arvid in einem kleinen Tal, das jeden Winter vom Schnee verschluckt wurde. Die Menschen behaupteten, in en langen Nächten wanderte etwas durch die Schluchten: ein Atem, der selbst das Feuer im Herd kleiner machte, ein Gewicht in der Dunkelheit. Arvid war der Einzige, der diese Nächte liebte. Er hörte Dinge. Ein fernes Klirren. Ein Poltern in den Tannen. Und manchmal ein Brummen, tief wie ein schlafender Berg.

Eines Abends, als der Mond hinter den Gipfeln hängen blieb wie ein vergessener Silberlöffel, verirrte sich eine seiner Ziegen. Arvid, trotzig und neugierig, nahm die Lampe und folgte ihren Spuren in die Schlucht hinunter, dorthin, wo selbst die Erwachsenen nicht gingen. Der Wind wurde plötzlich warm. Zu warm für Winter. Und dann hörte er es: das Brummen, klar und nah – und die Erde vibrierte unter seinen Füßen. Ein Schatten löste sich aus den Felsen. Kein Tier. Kein Mann. Etwas Hörnertragendes, Fellbedecktes, mit Augen wie glühende Kohlen im ersten Zug des Schmieds. Und doch… hatte das Wesen Angst.

Vor ihm? Vor der Welt? Vor dem, was es war? Arvid hob die Lampe, das Licht flackerte über das raue Gesicht des Wesens. Da sprach es – oder Arvid hörte nur die Worte in seinem Kopf: „Ich bin nicht geboren. Ich bin nur gefunden worden.“ Die Schlucht lag still wie ein angehaltenes Herz. Ein dünner Mond hing über den Felsen, und sein Licht brach sich in der Reifkruste, die jede Tanne wie eine gefrorene Träne umhüllt hielt. Arvids Lampe war der einzige warme Punkt weit und breit – ein kleines, zitterndes Gestirn in einer Welt, die nur aus Schatten bestand.

Das Wesen stand halb im Felsen, halb im eigenen Dunkel. Seine Hörner ragten wie gebrochene Äste, sein Fell war so schwarz, dass es das Licht verschluckte. Und doch – sobald es sprach, bebte die Luft, als würde ein alter Berg Geist annehmen. Arvid spürte, wie seine Finger froren, obwohl er die Lampe festhielt. Nicht vor Angst, sondern vor der Wucht der Stille, die zwischen ihnen lag. „Ich hab keine Angst vor dir.“ „Dann bist du töricht.“ „Oder mutig.“ „Mut ist eine Art Blindheit.“ Der Wind schob sich durch die Tannen und trug Flocken mit, die sich erst in der

Luft bildeten – als würde die Nacht selbst sie hauchen. Kleine Kristalle schwebten zwischen den beiden, funkelten kurz im Lampenschein und vergingen wieder, als wären sie nicht echt. „Blind seh ich besser als die anderen. Sie fürchten alles, was atmet und anders ist.“ „Ich atme nicht. Nicht so, wie ihr es tut.“ Arvid hörte aber sehr wohl etwas. Kein Atem – eher ein tiefes, unruhiges Grollen, wie wenn unter dem Schnee ein Bach sein Eis zu sprengen versucht. „Doch. Ich hör’s. Es klingt wie… ein Stein, der vom Berg rollt und nicht weiß, wohin.“ „Du gibst mir Namen, bevor du weißt,

was ich bin.“ „Dann sag’s mir. Was bist du?“ Das Wesen trat einen halben Schritt aus dem Schatten. Schnee schmolz dort, wo seine Klauen die Erde berührten. „Ein Schatten, der zu lang geworden ist. Ein Irrtum der Dunkelheit.“ „Kein Irrtum steht vor mir und spricht.“ Die Worte trafen das Wesen sichtbar. Es senkte den Kopf, als hätte der Junge ihm einen ungewohnten Schmerz zugefügt – oder ein unerwartetes Licht gegeben. „Ich sollte dich zerreißen. So will es der Frost. So will es die Nacht.“ „Und was willst du?“ Für einen Augenblick verstummte sogar der Wind. Die Schlucht lauschte, die

Sterne schienen näher zu rücken, als warteten sie auf die Antwort. „Ich will wissen, warum du hergekommen bist.“ „Weil eine Ziege fehlte. Und weil …“ „Weil?“ „Weil dein Brummen mich ruft, seit ich denken kann.“ Der Krampus – denn es war schon in ihm, dieses Sein, nur noch namenlos – hob den Kopf. Man sah etwas hinter dem Feuer seiner Augen, etwas Erschrockenes. „Viele hören es. Keiner folgt ihm.“ „Vielleicht bin ich der Erste.“

„Der Erste…“ Ein Riss ging durch die Stille. Kein

bedrohlicher – eher ein feiner Spalt, durch den etwas Warmes sickerte. „Sag mir deinen Namen.“ „Ich habe keinen. Die Menschen geben mir bald einen. Und er wird ihnen Angst machen.“ „Dann sag mir, wie du klingen willst.“ Das Wesen atmete tief ein – oder tat etwas, das so wirkte – und ein heiseres Geräusch entrang sich seiner Kehle. Ein Laut, roh, noch ungeformt. „… Kr… Rrss…“ „Krampus.“ Der Name hing kurz zwischen ihnen wie eine Glocke, die gerade geschlagen wurde.

„Was bedeutet das?“

„Dass du nicht mehr allein bist.“ Und in diesem Moment – genau diesem – hörte die Schlucht auf, nur kalt zu sein. Sie wurde ein Ort, an dem Furcht und Mut sich begegneten und etwas Neues erschufen.

Der erste Krampus - Teil 2

Der Name hing noch in der Luft – Krampus – als die Nacht sich um sie schloss wie eine Hand, die endlich weiß, was sie halten will. Arvid fühlte eine seltsame Wärme in der Brust, obwohl der Wind ihm das Gesicht peitschte. Es war, als hätte der Name, den er ausgesprochen hatte, einen unsichtbaren Faden zwischen ihnen gespannt. Krampus bewegte sich nun anders. Nicht mehr scheu, nicht mehr halb im Fels. Er stand vollständig im Licht der Lampe – und dennoch fraß der Schatten ihn nicht. Im Gegenteil: Er wirkte geerdet, als hätte Arvid ihm mit einem Wort Gestalt

geschenkt.

„Du hast mich gebunden.“ „Wie meinst du das?“ „Ein Name ist ein Knoten. Und nun fällt meine Dunkelheit nicht mehr nur auf mich zurück.“ Ein Schauder lief Arvid über den Rücken. Nicht unangenehm. Mehr wie eine Hand, die ihm die Wirbelsäule entlangstreicht und fragt: Willst du wissen, wie tief das alles geht? „Und was fällt auf mich?“ „Was du tragen kannst.“ „Ich bin nur ein Hirtenjunge.“ „Nein. Du bist der Einzige, der mich je angesprochen hat, ohne zu sterben oder zu flehen.“

Die Lampe flackerte – und in diesem Flackern sah Arvid für einen Herzschlag lang die Welt, wie Krampus sie sah: ein endloser Kreis dunkler Pfade, Bergadern voller Stimmen, die sich wanden wie kalte Schlangen, und Dörfer, die im Schnee glühten wie kleine, sterbliche Funken. Ein Gefühl wuchs in Arvid. Kein Schrecken. Etwas… Großes. Wie ein Berg, der in seiner Brust erwachte. Krampus beugte sich zu ihm, und sein Atem roch nach Eisen und altem Eis. „Ich kann dir zeigen, wie man die Kälte hört.“ „Hört?“ „Die Kälte singt, Junge. Sie singt von

Dingen, die ihr Menschen vergessen habt. Von Freiheit, die nicht an Haut gebunden ist. Von Wegen ohne Schmerz.“ Arvids Herz schlug schneller. Die Versuchung war kein leuchtender Apfel, kein teuflisches Angebot. Sie war ein Versprechen: Du musst nicht bleiben, wo du geboren wurdest. „Wenn ich… das lerne… werde ich dann wie du?“ Krampus` Schweigen war Antwort genug. Arvid schluckte. „Zeig es mir.“ Ein sanftes, gefährliches Lächeln verzog Krampus’ Maul. Nicht grausam. Eher stolz, als hätte er schon lange gewartet. „Dann lösch die Lampe.“

„Warum?“

„Weil Licht dich an dich selbst bindet.“ Der Wind verstummte. Die Nacht wartete. Und Arvids Finger schwebten über dem Docht. Er berührte den Docht. Ein winziges Zittern ging durch seine Fingerspitzen. Nicht aus Angst – eher wie das Frösteln vor einem Sprung ins tiefe Wasser, wenn man weiß, dass darunter etwas wartet, das größer ist als man selbst. Mit einem leisen Pft erlosch die Flamme. Die Dunkelheit fiel nicht – sie stieg auf, wie Nebel aus einem alten Brunnen. Zuerst sah Arvid nichts. Nicht einmal seine eigenen Hände. Doch dann begann die Finsternis sich zu bewegen. Nicht wie ein Schatten, sondern wie ein Tier,

das langsam aus dem Schlaf erwacht. Ein tiefer Ton vibrierte in der Luft – ein Summen, das in seinem Brustkorb antwortete. Arvid keuchte. Es klang wie… sein eigener Herzschlag, nur größer, uriger, wie ein Echo aus einer Zeit, in der Menschen noch keine Worte für Angst hatten. Krampus: „Atme.“ Arvid tat es – und der Atem kam als weiße Wolke, die im Dunkel aufglühte wie ein kleiner Mond. Und dieser Mond wurde von etwas Unsichtbarem streifend berührt, als schmecke die Nacht nach ihm. „Siehst du es?“

Arvid war sich nicht sicher, ob er sah oder nur fühlte. Die Dunkelheit bekam Tiefe. Schichten. Bewegung. Wie feine Fäden, die sich umeinanderwandten – Ströme aus kalter Energie, die wie leise Stimmen summten. Worte waren sie nicht, und doch verstand er: Du bist mehr als warm. Du bist formbar. Komm. Arvid wankte einen Schritt. Seine Füße sanken nicht in Schnee – er spürte den Boden kaum noch. Es war, als löste sich der Druck der Erde von seinen Knochen. Ein Gefühl durchströmte ihn: Leichtigkeit. So viel, dass er Angst bekam, sich selbst zu verlieren – und zugleich wollte er tiefer hinein.

Krampus’ Hand, schwer wie ein Fels, legte sich auf seine Schulter. Sie hielt ihn, aber sie drängte nicht. „Das ist die Freiheit, die ich meine. Kein Schmerz. Keine Schwere. Keine Grenzen.“ Die Versuchung war kein Flüstern mehr. Sie war ein Strom, der ihn trug. „Ich… hör es. Die Kälte… sie ruft mich.“ „Nicht die Kälte. Ich.“ Da begriff Arvid: Es ging nicht nur darum, das Dunkel zu sehen. Es ging darum, Teil davon zu werden – ein Stück dieser uralten, wandernden Nacht. Und Krampus wollte ihn näher ziehen, nicht aus Hunger, sondern … aus Anerkennung. Vielleicht sogar aus

Einsamkeit. Arvid spürte, wie sich etwas in ihm zu verändern begann – ein Funke, der sich vom Körper löst, ein Atem, der nicht mehr aus Fleisch stammt. „Geh noch einen Schritt.“ Arvid hob den Fuß. Doch im selben Moment knarrte irgendwo der Schnee – ein leises, menschliches Geräusch. Als hätte jemand sie beobachtet. Die Dunkelheit hielt den Atem an. Krampus’ Griff verkrampfte sich. „Wir sind nicht allein.“ Die Dunkelheit stand still. So still, dass selbst der Wind den Mut verlor. Arvid hielt den Fuß noch halb gehoben,

zwischen Welt und Schatten eingefroren. Dann hörte er es wieder: ein leises, vorsichtiges Knacken. Nicht gefährlich. Nicht tierisch. Zu zaghaft. Zu warm. Ein Mensch. Krampus’ Hand presste sich tiefer auf Arvids Schulter, als wolle er ihn in die Dunkelheit hinabziehen, bevor der Eindringling etwas sah, das er nicht verstehen dürfte. Krampus (flüsternd, aber wie ein rollender Stein): „Bleib still. Er sieht uns nicht, solange du an mir bleibst.“ Doch Menschensinne sind nicht nur Augen. Es war der Geruch der Lampe, der Abdruck eines Fußes, der schwache Rest von Wärme, der den Fremden

herführte. Eine dunkle Silhouette löste sich aus dem Weiß am Rand der Schlucht. Ein Mann, in einen groben Mantel gehüllt, Schnee auf den Schultern. Die Schritte unsicher. Die Fäuste verkrampft. Jorun. Arvid kannte die Haltung, die leicht schiefe Art zu gehen. Der alte Jorun, Hofknecht seines Vaters, der besser mit Schnaps als mit Mut umgehen konnte. Er rief in die Finsternis, mit brüchiger Stimme: „Arvid? Bist du da? Der Herr hat gesagt, du bist die Schlucht runter…“ Er wagte noch einen Schritt. Arvid spürte Krampus’ Atem an seinem Nacken – kühl, streng – wie eine Warnung, die direkt in die Knochen

ging. „Wenn er uns sieht, nimmt die Kälte ihn. Menschenherzen zerbrechen, wenn sie mich erkennen, bevor sie bereit sind.“ Arvids Brust zog sich zusammen. Das war nicht Drohung – es war Gesetz. Wie der Frost, der Zweige spaltet, ohne Absicht. „Was soll ich tun?“ Krampus’ Fingernägel drückten sich leicht in seine Schulter. „Bleib. Er geht von selbst.“ Aber Jorun ging nicht. Er sah Arvids Fußspur, die sich in den Schnee senkte, und seine Stimme wurde ängstlicher, laut, voller zittriger Sorge, die zu sehr klang wie ein Gebet, das zu spät kommt. „Arvid! Antwort mir! Junge, wenn dir

was zugestoßen ist…“ Er hob die Lampe, die er mitgebracht hatte. Das Licht, warm und menschlich, riss einen kleinen goldenen Spalt in die Finsternis. Und in genau diesem Spalt sah Arvid etwas Erschütterndes: Joruns Augen – groß, voller Furcht – sahen direkt in ihre Richtung. Nicht klar. Nicht vollständig. Aber genug, um einen Umriss wahrzunehmen. Krampus spannte sich. Die Dunkelheit um ihn wölbte sich wie ein Tier, das sich schützend duckt. „Er darf nicht näher kommen. Sein Herz hält das nicht aus.“ Arvid schluckte. Ein Kampf entfachte sich in ihm – warm gegen kalt, Dorf

gegen Schlucht, Mensch gegen das Neue, das in ihm erwachte. Er spürte, dass Krampus ihn nicht losließ. Aber er spürte auch, dass der Junge, der er gewesen war, nicht einfach zusehen konnte, wie der alte Mann in den Tod stolperte. „Ich… ich muss zu ihm. Nur ein Wort.“ „Ein Wort kann dich binden. Ein Wort kann dich verlieren. Du bist im Begriff, zwischen zwei Welten zu stehen … und eine wird dich nicht zurücknehmen, wenn du die andere wählst.“ Arvids Herz pochte so laut, dass es die Nacht störte. Jorun stolperte einen Schritt näher. „Arvid? Arvid! Antworte doch!“

Die Entscheidung brannte in Arvid wie ein Funke, der den Schnee schmelzen könnte. Zu Krampus? Oder zum Menschen, der ihn ruft? Die Schlucht hielt den Atem an. Arvid war zwischen zwei Welten gefangen – und in diesem schmalen Spalt begann etwas in ihm zu wachsen, das nicht mehr zurücksank. Es war Krampus, der den ersten Schritt tat. Er neigte den Kopf zu Arvid, und seine Stimme war keine Drohung mehr, kein Befehl – eher ein Flüstern, das nach Entscheidung roch. „Du musst wählen, Junge. Mensch oder Nacht. Aber was du wählst, wird dich formen.“ Arvid hob den Kopf. Und in der Tiefe

seiner Augen glomm etwas, das Krampus zum ersten Mal überrascht aussehen ließ. „Vielleicht bin ich beides.“ Das war der Moment, in dem der erste Funke der späteren Nikolashistorie geboren wurde – nicht als Heiliger, sondern als ein Junge, der zwei Welten in sich trug. Jorun stand zitternd im Schnee, unfähig zu verstehen, was er sah. „Arvid? Was… was bist du?“ „Niklos.“ Der Name kam ihm natürlich über die Lippen, als hätte die Dunkelheit ihn ihm zugeraunt. Ein Name, der nicht jenseitig und nicht dörflich klang – ein Brückenschlag.

Krampus brummte tief. Nicht zustimmend, nicht ablehnend – aber als hätte er einen Gefährten erkannt, der nicht wie er ist, und doch unabwendbar an seine Seite gehört. Jorun trat einen Schritt zurück. Nicht aus Furcht – sondern weil der Schnee sich um seine Füße legte, als hielte ihn etwas fest. Niklos – streckte ihm die Hand hin. „Du musst nicht fortlaufen, Jorun. Aber wenn du bleibst … wirst du nie wieder nur ein Knecht sein.“ Jorun schauderte, und etwas in ihm senkte sich tief, wie ein Hund, der sich dem Winter ergibt. „Ich bleib an deiner Seite. Wenn du gehst, geh ich auch.“

Niklos nickte. "Bartl." Und in diesem Nicken lag das Schicksal: Bartl würde derjenige werden, der den Menschen erklärt, was sie nicht verstehen können. Derjenige, der zwischen Niklos und den Dörfern vermitteln sollte – nicht als Diener, sondern als Zeuge. Die Nacht riss weiter auf. Zwei Schatten lösten sich aus der Dunkelheit, langsam, tastend. Keine Monster. Keine Menschen. Etwas Dazwischen – wie zwei Seelen, die aus Arvids unentschiedener Wahl hervorsickerten. Krampus legte den Kopf schief. „Wenn du beides bist – Mensch und

Nacht – dann wirst du Gefährten brauchen. Für die Wege, die ich nicht gehen darf.“ Der erste Schatten formte sich zu einer schlanken Gestalt, jugendlich, wissbegierig, mit Augen, die das Gute suchten, auch wenn sie das Böse kannten. „Das ist Klas. Fragender Geist. Er bringt Licht, wo Dunkel stirbt – aber nicht um zu richten, sondern um zu erinnern.“ Der zweite Schatten war kleiner, gedrungener, verschmitzt, mit einer Wärme, die fast trotzig aus jeder Pore stieg. „Und das ist Piet. Ein Funken im Schnee.

Er sammelt, was verloren geht, und trägt es zu dir.“ Niklos spürte sofort, dass beide eine Art Spiegel waren: Klas für die Reinheit, die er noch in sich trug. Piet für die Wärme, die er nicht verlieren wollte. Bartl kniete beinahe in den Schnee, überwältigt. „Niklos… wer sind sie?“ „Meine Schatten. Meine Helfer. Meine Erinnerung daran, wer ich war – und wer ich werde.“ Krampus trat neben ihn, ein riesiger, dunkler Hüter. „Und nun, Niklos … beginnt der Weg, den nur ihr gehen könnt. Ich gehe voran. Du gehst zwischen Welten. Und sie folgen dir.“ Die Schlucht schloss sich. Die Kälte

sang. Und aus einem Hirtenjungen wurden Gestalten, die später als Sagen, Mythen, Wintergeister in die Dörfer wandern würden: Krampus. Niklos. Klas. Piet. Und Bartl, der alles bezeugte.

Der erste Krampus - Teil 3

Der Schnee fiel in großen Flocken, als wollte er die Welt zudecken, damit sie endlich Ruhe gäbe. Zwischen den stummen Bäumen stand eine Hütte, klein wie ein Atemzug, alt wie ein Versprechen. Schindeln klirrten im Wind. Das Dach ächzte, doch es hielt stand — so wie es jeden Winter gehalten hatte, seit die Zeit beschlossen hatte, die Wahrheit in Holz zu schnitzen. Drinnen brannte ein Feuer, das mehr aus Erinnerungen bestand als aus Holz. Die Wände waren mit Ruß überzogen, in den Ecken standen Stricke, alte Säcke, ein paar sorgfältig gegerbte Felle. Auf

einem groben Tisch lagen Glocken, ein zahnradbestückter Stab, ein Kupferpfennig und ein gebundenes Buch, das niemand geschrieben hatte — es schrieb sich selbst, wenn die Nacht es verlangte. Niklos trat als Erster ein. Er schüttelte den Schnee von seinem Mantel aus Schatten, setzte den schiefen Zylinder zurecht und zündete seine Pfeife an. Aus dem Rauch stiegen wie immer die kleinen Gesichter auf — flüchtige Geständnisse, die den Weg zu ihm fanden. Klas verzog den Mund. „Musst du gleich damit anfangen? Kaum bin ich hier, starren mich schon fünf tote Geheimnisse

an.“ Niklos’ Augen glühten. „Sie starren nicht dich an, Klas. Sie starren sich selbst an. Ich bin nur das Fenster.“ Ein Funke sprang aus der Glut, und für einen Herzschlag schimmerte an den verrußten Balken ein Bild — Niklos, wie er durch mondlose Gassen schreitet, die Kette aus Reue in der einen Hand, das drehende Zahnrad in der anderen. Der Rauch seiner Pfeife kräuselte sich zu Gesichtern, die um Vergebung baten. Und im Echo der Vision flüsterte etwas: Vergib, bevor du vergiftest. Der Funke erlosch. Bartl duckte sich durch den Türrahmen. Er wirkte wie ein Stück Gebirge, das

beschlossen hatte, heute Beine zu haben. Sein Fell roch nach Wald, sein Atem nach Harz. Als er sich setzte, bebte die Erde unter ihm — und die Hütte atmete die Erinnerung an Bartl aus: Wurzeln, die wie Knochen wachten. Höhlen, die Dampf ausstießen. Eine schwere Hand, die Verlorene heimführte, wenn der Schneesturm zu tödlich wurde. Ein Kettenklirren, dumpf, weich wie Dankbarkeit. Klas, der leichtfüßigste unter ihnen, hüpfte auf den Schemel neben dem Tisch. Seine Mütze hing schief, seine Bänder tanzten im Licht. „Ihr seid alle so schrecklich ernst“, grinste er und pfiff eine Melodie, die der Wind aufgriff.

„Das Jahr ist alt genug, dass man es necken darf.“ Das Feuer schlug kurz höher — und vor den Wänden tanzte sein Bild: lässig an Türen lehnend, einen Kupfertaler in der Hand, den er einem frierenden Kind zuschob; ein Windstoß, der einen erloschenen Kamin erneut entzündete; ein Lächeln, das zugleich wärmte und warnte. Ein Prüfstein aus Spott und Sanftmut. „Wir wissen doch alle, dass du ohne Drama nicht kannst“, kicherte Klas in Richtung Niklos. „Und du nicht ohne Kichern“, brummte Piet und kam herein, langsam wie ein Gesetz. Die Ketten an seiner Brust rasselten leise. Jede Glocke vibrierte —

kaum hörbar, aber die Luft wurde dichter. Piet setzte sich schweigend ans Feuer, legte die Kette behutsam auf den Tisch. Eine Glocke begann zu summen. Klas verzog das Gesicht. „Schon wieder jemand?“ „Immer jemand“, sagte Piet. „Die kleinen Dinge sind die schlimmsten. Du weißt das.“ Der Schatten seiner Maske glitt über die Wand, dunkel und wissend: Die ausgelassene Dankbarkeit. Das gebrochene Wort. Die Hand, die man nicht reichte. Ein Chronist, der zählt, damit nichts vergessen wird. Zuletzt trat Bartl ein. Sein Mantel war schwarz wie der Raum zwischen zwei

Jahren. In seiner Hand lag das Buch, dessen Worte niemand schrieb, aber jeder spürte. Er schloss die Tür leise, und damit schloss er die Welt aus. „Setzt euch“, sagte er ruhig. „Die Nacht wird kürzer. Der Tag riecht nach uns.“ Klas schnaubte. „Der Tag riecht nach Angst.“ Bartl röchelte. „Er riecht nach Lüge.“ Piet nickte. „Nach Vergessen.“ Niklos blies Rauch aus. „Nach Bedarf.“ Bartl öffnete das Buch, und eine Zeile glühte darin auf, aus Eis geboren: Wir wachen noch. Er sah in die Runde, und für einen Moment begegneten sich vier Blicke, die älter waren als Schnee.

„Warum sind wir hier?“ fragte Klas leise, ohne Spott. Niklos antwortete: „Weil die Menschen uns wieder vergessen.“ Bartl fauchte. „Sie vergessen alles. Jedes Jahr ein Stück mehr.“ Piet strich über eine seiner Glocken. „Dann erinnern wir sie.“ „Mit Wärme“, murmelte Klas. „Oder mit Frost“, sagte Bartl. „Mit Wahrheit“, fügte Piet hinzu. „Mit Gleichgewicht“, sagte Bartl. Seine Stimme schnitt durch die Luft wie die Rute an seinem Gürtel. Ein Windstoß fuhr gegen die Hütte. Die Schindeln ächzten. Das Feuer senkte sich und flammte dann plötzlich hell auf —

als wüsste es, dass die Welt gerade wieder lauscht. Und in diesem Licht saßen sie da: Niklos, der die Gründe sah. Klas, der das Lachen prüfte. Bartl, der die Lügen reinigte. Piet, der die kleinen Sünden zählte. Vier Schatten, vier Spiegel. Keiner allein, keiner ganz Dämon, keiner je ganz verloren. Der Sturm draußen verstummte kurz, nur um dann mit doppelter Wucht zurückzukehren — als würde er flüstern: Seid gut — nicht aus Angst. Aus Achtung. Und die Hütte hielt stand. So wie sie immer stand, wenn die Vier zurückkehrten. Wenn das Jahr starb. Wenn die Welt kurz innehielt. Wenn die

Schatten ihr Werk taten. Arvid – jetzt Niklos – war einmal ein Schmied, dessen Hände viel zu sanft für den Hammer waren. Er fertigte Hufeisen, als wären es Amulette, und schmiedete Klingen, die niemand verletzen sollten. Die Menschen sagten, sein Feuer sei zu mild. Doch er hatte eine Gabe: Er sah das Gute in jenen, die sich selbst längst verloren hatten. Ein Mann, der nicht strafen wollte, sondern heilen. Gerade deshalb wählte ihn die Nacht – denn wer Milde kennt, lernt Härte ohne Grausamkeit. Arvids Feuer flackert mild, aber sein Atem schneidet durch die Zeit. Jorun – jetzt Bartl – war eine Kräuterfrau mit eisiger Ruhe. Keiner

kannte ihre wirklichen Jahre. Kinder flüsterten, sie sei uralt, Erwachsene sagten, sie sei so jung wie der erste Frost. In Wahrheit war sie nur müde von den Menschen, die Hilfe baten und sie dann beschimpften, wenn ihre Gebräue nicht reichten. Ihre Seele war ein stiller Winter. Die Verwandlung gab ihr nicht Macht – sie gab ihr endlich eine Stimme. Bartls Gedanken sind ein Kräutertopf aus Erinnerung und Wut. Klas war ein Hirtenjunge, schnell, dünn und wendig wie ein Schatten. Niemand bemerkte ihn je, bis er plötzlich gebraucht wurde – oder beschuldigt. Sein Leben bestand aus Beobachten, aus Schweigen, aus Lauschen.

Das Jetzt gab sie ihm genau das zurück, was ihm immer fehlte: Gewicht, Gestalt, Zweifel anziehende Präsenz. Er wurde ein Wesen, das man nicht mehr übersieht, aber kaum zu fassen. Piet war ein Fassbinder. Hände wie Wurzeln, ein Herz wie ein überfülltes Kornlager: warm, großzügig, immer bereit zu geben. Er glaubte an jedes Versprechen, selbst an die schlechten. Das Jetzt legte Hörner auf diesen Glauben – nicht um ihn zu brechen, sondern um ihn zu schützen. Er wurde der Krampus, der weint, wenn ein Kind lügt, und lacht, wenn es bereut. Piet leuchtet – er brennt michund nährt zugleich. Wenn die Luft so dicht wird,

dass selbst der Mond den Atem anhält, dann erinnern sie sich, was sie gewesen waren. Und manchmal, für einen Wimpernschlag, wünschten sie sich, sie wären wieder Menschen. Die Hütte war still, so still, dass selbst der Rauch nicht wagte zu steigen. Draußen hing der Himmel wie ein schwarzer, ungekehrter See, in dem kein Stern, kein Licht, kein Atem zu finden war. Der Blinde Abend stand vor der Tür. Niklos hob den Kopf als Erster. Sein Blick war wie ein Funke im Dunkel – warm, aber klein. „Er ist da“, murmelte er, und seine Stimme klang plötzlich

nicht mehr wie die eines Mannes, sondern wie das Echo eines vergessenen Kirchturms. Bartl trat ans Fenster, das nun schwarz war wie ein verschlossener Spiegel. „Kein Schatten draußen“, flüsterte sie. „Das bedeutet, er sucht noch.“ Klas rührte sich kaum. Er saß auf dem Boden, mit gekreuzten Beinen, und lauschte dem, was nur er hören konnte – dem Rauschen des Unsichtbaren. „Er sucht uns“, sagte er. „Jedes Jahr ein wenig schneller.“ Piet drückte sich an die Wand, das Herz hoch im Hals. „Warum immer wir?“ Niklos legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Weil wir zwischen den Welten

stehen.“ Dann begann es. Ein Knistern. Ein langsames, hungriges, schleichendes Knistern, das durch die Balken der Hütte kroch wie Frost durchs Holz. Die Wände atmeten – aber nicht so wie lebende Dinge atmen. Es war tiefer, alter, unheimlicher. Ein Atem, der wusste. Bartl blickte hinauf, als der Rauch im Dachgebälk zu tanzen begann. „Der Schatten“, sagte er, beinahe ehrfürchtig. „Er hebt sich.“ Und er tat es: Von den Fugen, von den Ritzen, von der Dunkelheit hinter dem Herd löste sich ein einziges, flüssiges Schwarz und wuchs wie ein Tier, das langsam erwacht.

Klas senkte den Kopf, als der Schatten hinter ihm stand. „Sprich“, sagte er leise. „Wir hören.“ Die Stimme, die folgte, war kein Ton – eher ein Gefühl aus kaltem Eisen und vergessenen Träumen: „Ihr wart Menschen. Ihr seid Übergänge. Und ihr werdet Erinnerung sein.“ Der Schatten wandte sich nacheinander jedem zu. Niklos fühlte plötzlich das Gewicht all jener Herzen, die er einst retten wollte. Er sah sie wie glühende Kohlen in der Luft, und jede brannte ihn – nicht vor Schmerz, sondern vor Sehnsucht. Bartl spürte die Stimmen derer, die sie heilte, die sie beschuldigten, die sie

verfluchten. Alle gleichzeitig, als würde ihre Vergangenheit Wasserschläuche öffnen, in denen Schnee liegt. Klas verschwand halb im Schwarz. Der Schatten strich durch ihn hindurch, und für einen Moment war er wieder jener Hirtenjunge, den niemand sah. Piet sah sein eigenes Herz – offen, leuchtend, verwundbar. Und er sah, wie die Krallen des Schattens nicht zupackten, sondern nur berührten. Zärtlich. Fast dankbar. Der Schatten sprach ein letztes Mal: „Der Blinde Abend prüft euch nicht. Er erinnert euch. Und ich bin nur das, was ihr hinter euch gelassen habt.“ Dann zog er sich zurück – in die Ritzen,

in die Fugen, in den Raum zwischen zwei Atemzügen. Die Hütte beruhigte sich. Der Rauch stieg wieder. Ein schwaches Mondlicht fand endlich den Weg durchs Fenster. Piet hob den Kopf. „Ist es vorbei?“ Niklos schüttelte langsam den Kopf. „Nein. Wir tragen es jetzt nur wieder stiller.“ Bartl strich mit der Hand über den Balken, unter dem der Schatten verschwunden war. „Bis zum nächsten Jahr.“ Und Klas – der hin und wieder selbst ein Stück Schatten war – lächelte nur. Ein stilles, wissendes Lächeln.Draußen blieb die Nacht blind. Drinnen atmete die

Hütte mit ihnen weiter. Der Morgen kam nicht, er schlich. Er rollte sich nicht golden über die Hügel, wie in jenen Geschichten, die Menschen gern glauben. Er kroch wie ein Tier mit kalten Pfoten, und jeder seiner Schritte war ein Laut, den nur die vier hören konnten. Niklos war der Erste, der die Augen öffnete. Nicht, weil er wach sein wollte – sondern weil das Licht seine Lider berührte wie ein Messer, das prüft, ob die Haut noch weich ist. Er sog die Luft ein, schwer, als müsste er das Dunkel in seiner Brust niederhalten. „Es beginnt,“ sagte er. Bartl saß bereits im Schneidersitz am

Boden. Sein Schatten hing noch schwer an ihr wie ein nasser Mantel. Er strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, aber die Fingerspitzen zitterten. „Der Tag hat uns nicht vergessen. Er wartet nur darauf, uns zu verschlucken.“ Klas stand am Fenster. Er wagte nicht hinauszusehen. Das Glas war vom Nachtfrost noch blind, aber am Rand schimmerte ein erstes blasses Weiß – und Klas wusste: Wenn es die Hütte berührte, würde es alles in ihr prüfen. „Wir haben nicht mehr lange,“ sagte er leise. „Das Licht kommt durch jede Ritze.“ Piet hatte die Decke um sich geschlungen, als könne sie den Rest der

Nacht festhalten. Doch als Niklos den Herd anfachte, sah man in seinem Gesicht etwas, das selten bei ihm auftauchte: nackte Furcht. „Warum fühlt es sich an,“ fragte Piet, „als würde mir der Morgen mein eigenes Herz aus der Brust ziehen?“ Niklos legte ihm eine Hand auf die Schulter, sein Griff fest, aber warm. „Weil wir heute wieder entscheiden müssen, wer wir sind,“ antwortete er. „Und der Morgen duldet keine Zwischenwesen.“ Das Licht erreichte die Hütte. Erst zögerlich. Dann entschlossen. Wie ein Erinnern, das man nicht abwenden kann. Der erste Sonnenstrahl schnitt durch die

Staubfäden der Luft – ein goldener, dünner Dolch. Er traf den Holzboden. Und der Holzboden zog sich zusammen, als fürchte er sich. Bartl hauchte: „Er sucht uns.“ Klas trat zurück, denn der zweite Lichtstreifen folgte, und er roch nach Wahrheit. Nach Menschsein. Nach dem, was sie einmal waren – und nie wieder ganz sein durften. Piet wand sich, als hätte ihn jemand beim Namen gerufen. Sein Rücken krümmte sich, und für einen Moment sah man die Hörner, die er nachts trägt, wie ein Schatten im Innersten aufblitzen. „Niklos … ich halte es nicht …“ Niklos presste seine Stirn gegen Piets.

„Atme die Dunkelheit, Junge. Noch gehört sie uns.“ Die Hütte tat, was sie jedes Jahr tat. Sie zog ihre Schatten enger. Sie verengte die Fugen. Sie ließ das Licht nur tropfenweise hinein. Ein gutes Herz aus morschem Holz. Aber selbst das reichte nicht ewig. Niklos richtete sich auf. Der Nachtrest in seinen Adern pochte. „Wir müssen aufbrechen,“ sagte er. „Noch bevor das Licht uns beim Namen nennt.“ Bartl erhob sich, und als sie an der Wand entlangstrich, glitten die Schatten wie Katzen an ihren Fingern entlang. Klas schlug sich die Kapuze tiefer ins

Gesicht, als könnte sie das Morgengrau fernhalten. Piet, der Jüngste, der Sanfteste, hielt den Atem an, damit kein Strahl ihn erreichte. Gemeinsam standen sie in der Hüttentür – vier Gestalten, halb Nacht, halb Mensch. Draußen lag der Morgen wie Glas über den Feldern.Wunderschön.Gefährlich. Niklos sah sich um. „Der Tag verlangt Masken,“ sagte er. „Dann tragen wir sie. Bis die Nacht uns wieder erkennt.“ Und die vier traten hinaus – zitternd, zusammen und mit der Dunkelheit noch glühend unter ihrer Haut. Der Morgen war dünn wie ein Atemzug und doch

schwer wie ein Urteil. Als die vier über die Schwelle traten, knirschte der Frost unter ihren Sohlen — ein tonloses Warnen. Der Himmel spannte sich darüber wie ein aufgeschlagener Spiegel, und jeder von ihnen sah darin nicht sein Gesicht, sondern das, was er einmal gewesen war. Niklos hielt den Blick gesenkt. Das Licht spielte an seinem Kragen, suchte die Kanten seiner Gestalt. Ein einziges Zucken, ein falscher Winkel — und der Tag würde ihn erkennen, würde ihn zurückholen in das, was er längst hinter sich lassen musste: jene Milde, die ihm einst das Herz brach und nun die einzige Waffe war, die er

nicht zeigen durfte. Bartl trat neben ihn. Sein Atem dampfte, und im Dampf sah man für einen Moment Kräuter, die es längst nicht mehr gab: Frostsalbei, Winterwurz, Schneebitterkraut. Pflanzen aus einem Leben, in dem sie noch Hände hatte, die wärmten, nicht nur prüften. „Nur nicht stehen bleiben,“ murmelte er, und seine Stimme war halb Rinde, halb Gebet. Klas lief in geduckter Haltung, den Kopf gesenkt, als wäre das Gewicht des Lichts schwerer als jedes Jahr davor. Er bewegte sich schnell, aber nicht leicht — wie jemand, der noch weiß, wie Tanzen ging, doch nun nur noch die

Schritte kennt, nicht mehr die Melodie. „Es starrt mich an,“ flüsterte er. „Der Tag. Er sieht, was ich war. Ein Hirtenjunge ohne Stimme, ohne Platz.“ Niklos legte ihm kurz die Hand auf den Rücken, ein warmer, flüchtiger Druck. „Der Tag sieht nur, was du glaubst, zu sein. Die Nacht weiß besser.“ Piet ging am langsamsten. Nicht aus Angst. Sondern weil jeder Sonnenstrahl, der ihm zu nahe kam, etwas in ihm weckte, das er nicht verlieren wollte: diese große, fast unverschämte Sanftheit, die ihn früher lächerlich machte und ihn jetzt rettete. „Ich spüre noch das Herz von gestern,“ sagte er rau. „Es schlägt wie Holz unter

einer Axt.“ Bartl nickte. „Das ist der Preis. Der Morgen fordert Erinnerung. Die Nacht fordert Wahrheit. Und wir stehen zwischen beiden, mit Hörnern voller Schuld und Herzen voller Rest.“ Die Felder vor ihnen glänzten wie eingefrorene Seen. Nirgends ein Mensch. Nirgends ein Geräusch. Nur das stille, stumme Lauschen eines Tages, der sie beurteilte und begehrte zugleich. Niklos blieb stehen. Er roch den Rauch der Nacht noch an seinen Händen. Er schmeckte das Eisen der Schatten noch auf der Zunge. „Bis zum Dorf ist es nicht weit,“ sagte er.

„Dort tragen wir Masken, dort atmen wir leiser, dort gehen wir unter.“ Klas hob den Kopf, und ein Funke Trotz blitzte auf. „Wir waren Menschen. Wir wissen, wie man unsichtbar wird.“ Bartl zog seinen Mantel enger. „Unsichtbar, ja. Aber nicht unbemerkt.“ Piet strich über eine Glocke, die kaum hörbar vibrierte. „Und wenn uns jemand erkennt?“ Niklos sah in das helle, dünne Licht. Seine Stimme war leise, aber fest. „Dann erinnern wir ihn. Nicht mit Furcht. Nicht mit Lärm. Mit dem, was wir wirklich sind.“ Klas lächelte. Ein schiefes, müdes, aber

echtes Lächeln. „Zwischenwesen?“ „Bewahrer,“ sagte Bartl. „Grenzgänger,“ flüsterte Piet. Niklos nickte. „Erinnerungen.“ Und so gingen die vier weiter, durch das Glaslicht eines Morgens, der sie suchte, um sie zu prüfen — und doch nicht begriff, dass sie längst mehr waren als Schatten der Nacht. Sie waren das, was zwischen Dunkel und Tag wacht. Und der Tag, so hell er war, würde das erst begreifen, wenn er erneut scheiterte, sie zu verschlucken. Krampus Niklos. Der Erkenntnissucher, der Wanderer zwischen Schuld und Wahrheit. Einst ein stiller, scharfdenkender Mann mit einem Herz

für verlorene Seelen. Die Verwandlung machte aus ihm nicht etwas Fremdes – sie vergrößerte nur, was schon in ihm brannte. Er trägt den Zahnradstab, weil Arvid immer Zeit gemessen hatte: Zeit, die man verschwendet. Zeit, die man bereut. Zeit, die man nutzt Krampus Bartl. Die Hüterin der Wurzeln, die tiefe Stimme des Berges. Einst eine Kräuterkundige, die mehr heilte, als die Menschen wussten. Ihr Wissen über das, was wächst und was stirbt, verwandelte sich in Bartls schwere Schritte, die nicht drohen, sondern führen. Ihr Fell riecht nach Erde und Nachtregen. Ihre Hörner sind geschwungen wie Äste alter Bäume. Sie ist keine Strafe – sie ist die

Rückkehr zur Wahrheit. Krampus Klas. Der Schelm, der Leise, der Wind zwischen zwei Feuern. Klas blieb sich am treuesten – er ist nur die klare Form seines Wesens. Krampus Piet, der Zähler der kleinen Dinge. Der Chronist. Er ist weniger Verwandlung, mehr Offenbarung.

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Hörbuch

Über den Autor

KatharinaK
Ich erinnere mich noch gerne meiner allerersten Zeilen - ein Schulgedicht:
Der Winter ist ein Bösewicht,
die Bäume tragen Schneegewicht,
die Stämme sind kahl
und so schwarz wie ein Pfahl,
die Felder sind weiß
und auf dem See liegt Eis.
In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich mein Schreibstil sicher geändert - ist erwachsen geworden -, aber die Freude am Schreiben ist ungetrübt.

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