Die Hexe und der Fremde
Der Nebel kroch wie lebendiges Wasser durch die Gassen des kleinen Dorfes, in dem die Schatten länger waren als die Häuser selbst. Am Rand des Waldes, wo das Mondlicht kaum die alten Bäume erreichte, stand ein schiefes Dach, das unter seinem Alter ächzte. Dort wohnte Ilona, die Hexe, deren Augen mehr sahen, als ein Mensch je begreifen konnte.
An diesem Abend klopfte ein Fremder an ihre Tür. Sein Mantel war schwer, seine Augen kalt wie Eis. „Ich suche die Hexe des Waldes“, sagte er, „ich brauche
Antworten.“
Ilona öffnete und lächelte leicht. „Antworten haben ihren Preis“, flüsterte sie. „Bist du bereit, ihn zu zahlen?“
Sie führte ihn in ihr Haus, wo die Luft schwer war von Geschichten, die noch erzählt werden mussten. „Dann höre“, sagte sie. „Aber sei gewarnt: Manche Wahrheiten tragen Ketten.“
Die Flüsterer erhoben sich zuerst in ihrem Bericht. Kinder des Waldes kamen nachts auf die Lichtung, der Nebel schmiegte sich wie kaltes Wasser um ihre Knöchel. Aus dem Dunst stiegen
Stimmen, sanft, doch fremd. Sie riefen Namen, erzählten von längst Vergangenem. Wer zuhörte, verlor sich zwischen Erinnerung und Traum; manche verschwanden, andere kehrten zurück, stiller, verändert. Der Fremde lauschte, sein Herz schneller als sein Atem, die Geschichten griffen bereits nach ihm.
Ilona wechselte zu der Stadt unter ewigen Regen. Tropfen aus Tränen, die niemand mehr weinen konnte, sammelten sich in schwarzen Straßen, glitzerten wie dunkle Spiegel der Schuld. Reflexionen verschlangen jeden Schritt, selbst die Ratten kannten die Namen der Verlorenen. Der Fremde spürte die Nässe
auf der Haut, die Stille im Herzen.
Dann führte sie ihn zu einem schwarzen See, dessen Wasser glühte wie eingefrorene Tinte. Wer hineinsah, sah Masken und Schatten – all die Lügen, die er erzählt, all die Taten, die er vergraben hatte. Er erstarrte, doch Ilona stand ruhig am Ufer. „Nicht alles, was du siehst, kann dich töten“, flüsterte sie. „Aber alles, was du ignorierst, wird dich fressen.“
Schließlich erzählte sie von einem alten Mann, der die Zeit in Gläsern sammelte. Liebe, Angst, Schuld – die Momente stiegen wie Rauch, schwer und
überwältigend. „Jeder Moment ist eine Leiche“, murmelte Ilona. „Und manche Leichen zerbrechen dich, bevor du sie verstehst.“ Der Fremde spürte, wie seine eigene Zeit in seinen Händen zersplitterte, wie die Jahre ihn umklammerten.
Am Ende saß er still vor ihr. Jede Geschichte hatte ihn geformt, verändert, erschüttert. Ilonas Augen glühten im Mondlicht. „Jede Wahrheit trägt eine Kette“, flüsterte sie. „Und du trägst jetzt deine eigene.“ Der Nebel draußen wirbelte, als lausche die Welt selbst. Als Ilona verschwand, blieb nur ihr Lächeln – und ein Funken, unheilvoll und leise,
der in seiner Seele brannte. Ein Teil von ihm war nun im Wald, im Nebel, in Ilonas Worten, und er wusste, dass er nie wieder derselbe sein würde.