
In den Dörfern rund um den Wald von Zselic erzählt man sich, dass die heilige Luca nicht nur Licht brachte, sondern Erkennen. Ihr Tag – der Luca-Tag, den man dort auch Hexentag nennt – sei jene Schwelle im Jahr, an der die Wahrheit dünner steht als die Luft zwischen zwei Atemzügen. Margret, die Chronistin der dunklen Leerstellen, hörte zum ersten Mal vom Stuhl in der warmen Ecke des Gasthauses Zöld Holló Fogadó. Ein alter Tischler, dessen Finger nach Holzharz, Eisen und Geschichten rochen, erzählte ihr bei
Pflaumenschnaps, wie einst sein Großvater davon sprach: „Am 13. Dezember beginnt man, den Stuhl zu schnitzen. Jeden Tag nur einen Schnitt. Langsamkeit ist Bann und Schlüssel. Doch es gibt Stühle, die werden nie fertig. Nicht, weil die Hände müde wurden – sondern weil die Herzen zitterten.“ Warum der Stuhl besonders ist Der echte Luca-Stuhl soll Hexen zeigen – doch der unvollendete Stuhl zeigt etwas anderes: Er zeigt Schuld, die nicht im Flammenkreis tanzt, sondern am Küchentisch sitzt. Er zeigt Menschen,
die mitlaufen, bevor sie je Hexen wären. Und er zeigt Bruchstücke der Zukunft all jener, die hinsehen – nur halb, nur im Splitterlicht. Die Besonderheit liegt nicht im Holz selbst, sondern in dem fehlenden Sitz, denn dort sammelt sich die Macht wie in einer offenen Frage: „Wer setzt das letzte Brett ein – und wer trägt dann die Antwort?“ Die Quelle des Zweifels Man erzählt sich, dass der erste Stuhlbauer, der junge Handwerker Ádám Kerekes, den Stuhl aus neun Hölzern fertigen wollte: Schlehdorn gegen
Furcht, Akazie gegen Blendwerk, Ahorn für den klaren Blick. Doch nach dem fünften Holzschnitt überkam ihn die Erkenntnis der Kosten: Jedes Stück Wahrheit, das der Stuhl freigibt, nimmt dem Erben etwas. Ádám wollte Hexen sehen, aber der Stuhl zeigte ihm zuerst die Gesichter der Gemeinde: die Tante, die schwieg, als im Nachbarhof ein Kind fror; den Cousin, der mitwarf, ohne zu fragen; den Pfarrer, der Gebote in Verbote bog, um Ruhe zu wahren. Er erschrak so sehr, dass er die Arbeit nicht fortsetzte. „Ein fertiger Stuhl
verurteilt die Hexe. Ein halber Stuhl verurteilt den, der sitzt.“ Also ließ Ádám das Brett weg. Er stellte den Stuhl nicht ins Feuer, sondern in den Wald, damit das Holz ihm nicht länger beim Sehen zusehen konnte. Weitergabe der Macht durch das Ungesagte Generationen berührten den Stuhl, ohne ihn je zu vollenden. Jede Hand prägte eine neue Kerbe in die Lehne: Die Imkerin Julianna Mézes sah, dass ihr Dorf Honig teilte, aber Wahrheit nicht. Nach ihrer Berührung verlor sie Träume, aber gewann Worte. Kurz. Scharf. Wahr.
Der Jäger Szilárd Vadnay sah die Mitläufer im Wildwechsel der Hütten. Nach seiner Hand auf dem Holz verlor er die Fähigkeit zum Vergessen, nie aber die zum Gehen. So blieb der Stuhl ein unfertiges Erbe, weil alle glaubten: „Wie du ihn erfährst, so erfährst du dich." Der Stuhl war zu leicht, um nur Möbel zu sein, und zu schwer, um nur Zauber zu bleiben. Margret und das Halblicht Als Margret schließlich den Wald betrat, nahe Sikonda, sah sie ihn stehen: lückenhaft, skelettiert, aber aufmerksam wie ein Zeuge.
Sie verstand schneller als alle vor ihr: Der Stuhl ist besonders, weil er keine Antworten speichert, sondern Antwortende sucht. Keine Hexen richtet, sondern Richtenden prüft. Keine Generation verschont, aber jede fortschreibt.
Margret setzte sich nicht. Sie schrieb.
Und beim Schreiben verlor sie etwas: die langen Formen. Doch sie gewann die Wahrheit der kurzen. Die Legende brauchte keine Romane, sie brauchte Drabbles – hundert Worte, die tragen, was anders keiner trägt.
Das Ende, das keines ist Bis heute steht der Stuhl ohne Sitzbrett im Wald. In den Dörfern von Baranya sagt man nicht, er habe Macht über Hexen. Man sagt: „Er hat Macht über den Mut, der sich nicht setzt, sondern fortsetzt.“ Am Luca-Tag beginnen die Schnitte im Holz, aber die Schnitte im Leben zählen weiter. Ein Preis? Ja. Doch einer, der schenkt: Richtung statt Stillstand. Und wenn der Wind durch den Mecsek streicht, klingt es manchmal, als forme der Wald selbst neue Linien. Keine Person mehr, nur ein Pochen im Holz – leise, fordernd, vererbbar.
„Unvollendet war nie Angst. Unvollendet ist Einladung. Vielleicht warst auch du nicht die Erste, die davon hörte. Aber vielleicht bist du die Nächste, die die Bruchstücke weiterträgt – ohne dich von den Rissen brechen zu lassen, sondern von ihnen führen zu lassen.
Im Süden des Landes, unweit der Auwälder des Gemenc Forest, lebte Margret in einem Dorf, das sich im Winter duckt wie ein Schuldbekenntnis. Häuser aus dunklem Weißwanne-Holz, Kirchenbänke aus Steineichen-Balken, und Türen, die im Frost nicht nur knarren, sondern fragen. Margret war Autorin des Unausgesprochenen. Eine Frau, die selbst dem Schweigen Gespräch entlockte. Sie liebte die dunklen Lücken zwischen den Worten mehr als deren Klang. Doch in ihr wuchs seit Jahren ein
Durst nach einer Geschichte, die nicht sie schrieb, sondern sie schrieb.
Die Kräuterfrau und der erste Hinweis Alles begann auf dem Markt in einer Gasse, die nach Paprikastaub und Mohn roch. Die Kräuterfrau der Fűszeres Porta streckte ihr eine Papiertüte hin. Darin: Mohn, schwarz, klein, wie ungezählte Augen. „Luca-Zeit ist Wahrheits-Zeit“, sagte sie, während ein Kohlenwagen rumpelnd vorbeizog. Sie erzählte von der Lichtung hoch in den Bükk-Bergen, wo Alte einen Stuhl bauen, der Hexen erkennt – oder Wahrheiten, noch schlimmer.
Margret lächelte höflich, steckte den Mohn ein – und fühlte doch eine seltsame Resonanz im Rücken, als wäre sie selbst aus Holz geschnitzt und berührt worden. In ihrem Traum jener Nacht sah sie einen Stuhl, der aus vielen Hölzern zusammengesetzt war. Kein einzelnes Brett, sondern ein "Konzil der Bäume": Akazien-Spanholz, Hartriegel-Zapfen, Rosenbaum-Auflage von Hortobágy im Mondlicht. Oben im Turm hing die alte Uhr: gewaltig, rund, unruhig. Es war jene Art von Uhr, die man nicht repariert, weil sie längst Teil der Legende wurde. Als sie den inneren Bezirk der Kirche betrat, begann die Uhr plötzlich
rückwärts zu gehen. Die Gemeinde – Bäcker, Lehrer, Kinder – merkte nichts. Für sie war Rückwärtsgang nur ein Aberglaube, ein kurioser Aussetzer alter Mechanik. Doch Margret, die in ihrem Traum auf dem Stuhl gestanden hatte, sah die wahren Linien in der Luft, die die Zeiger zogen. Keine Zahlen zeigten sie ihr, sondern "Abrechnungen": Von wem? Von jenen, die die Welt vergaß. Nicht geborene, sondern verlorene Zeit. Da begriff sie die erste Fähigkeit des Stuhls: er war kein Richter über „Hexen“, sondern einer, der Lebenszeit sichtbar macht. Nicht um sie zu nehmen – sondern um zu zeigen, wo sie bereits
schwindet. Und er zeigte sie ihr nur, weil Margret hinsieht, auch wenn niemand es will. Der Stuhl und die zweite Lektion: Wahrheit verlangt Handlung In der darauffolgenden Nacht setzte sich Margret in ihrem Wohnzimmer auf einen Stuhl, der nicht im Raum stand, aber im Rücken pochte. Das Holz vibrierte wie ein Gedanke im Knochenmark. Jetzt flüsterte er zum ersten Mal Worte: Hören verpflichtet. Margret verstand: Der Stuhl hatte ihr Leichtigkeit und Erkenntnis geschenkt, aber sie war kein Konsument der Wahrheit, sondern bald deren Trägerin.
Mit jedem Menschen, den sie fortan nur ansah und anhörte, fühlte sie leichte Druckwellen in der Lehne – als würde der Stuhl mitschreiben. Aber die Zeilen erschienen nicht im Holz, sondern im Leben: Entscheidungen, die sie zu treffen hätte, ohne dass je jemand wusste, dass sie geprüft wurde. Das Kind auf der Bank am Fluss Am Morgen, als ungezählte Schneeflocken über die Tisza fiselten, fand Margret ein Kind, das dort stand, schluchzend, aber stumm. Sein Atem schuf kleine Wolken, die sonst niemand sah. Margret setzte sich zu ihm auf die nasse Holzbank. Hier kam keine Magie
außer der gelernten: Sie war einfach da. Betrachtete die Tropfen, die von den Tannen fielen wie Tränen aus einer anderen Zeit. Das Holz im Rücken pochte Anerkennung, aber summte kein Geräusch. Denn dies war der Sinn: Der Luca-Stuhl ist deshalb besonders, weil er die Wahrheit nur den Tragfähigen zeigt – und sie nicht im Holz konserviert, sondern ins Leben hinausschickt. Das Kind erzählte ihr nichts Großes, nur einen einzigen Satz: „Ich weiß nicht, ob jemand hören will.“
Margret antwortete nicht mit Worten, denn der Stuhl hatte sie gelehrt: Schreibe
deine Antwort durch Handlungen. Als sie aufstand, hatte sie das Kind nicht geheilt. Aber sie hatte ihm eine logische Unmöglichkeit genommen: dass niemand hört. Die Rückwärts-Uhr hätte diesen Moment gezählt und nie wieder vergessen können – aber sie ging vorwärts, sobald Margret sich erhob. Der Stuhl wollte, dass man die Wahrheit erträgt, nicht anklagt. Dass man die Verantwortung lebt, nicht archiviert.
Der neunte Baum und das Holz der Namenlosigkeit Trotz dieser ersten Tat ließ Margret der Stuhl nicht ruhen. Er führte sie erneut in
den Auwald. Dort, wo die Schlehdorn-Wurzeln den Boden aufreißen, roch sie etwas Neues. Ein Baum, dessen Rinde nach Akazie, Birne und Rosen duftete. Ein Baum aus neun Hölzern. Ein „Neunter Baum“, wie man ihn in moosbewachsenen Schreinen und Schreinermärchen kauderwelscht: entstanden an der Stelle eines Todes, den niemand betrauert hatte.
Margret nahm ein Brett, nicht weil sie einen Toten kannte, sondern weil sie keinen vermisste. Darin lag der Schlüssel – keine spürbare Vergangenheit, die den Sitzenden fesselte, sondern eine Wahrheit, die rückgab, nicht
beanspruchte.
Dies war die dritte Fähigkeit: Der Stuhl öffnet den Blick ins Verborgene, aber verschließt das Herz nicht im Bekannten. Der Viehwaggon und die Stimmen der Gleise Als die Wintersaat im Boden schlief, wanderte Margret nach Mohács, wo ein alter Viehwaggon am verlassenen Bahnhof rostete – nahe der Strecke von MÁV Rail Network. Dort stand ein Luca-Stuhl, halb verbrannt, aber nicht tot. Stimmen rauschten durch die Risse wie ein Chor, der in der Kehle friert: Wer setzt sich? Wer trägt?
Margret setzte sich nicht. Sie merkte, dass der Stuhl mittlerweile keinen Sitzenden mehr brauchte, um zuzuhören. Seine Aufgabe war vollendet, sobald er die Hüterin fand, die nicht bleibt, wenn alles rückwärts läuft. Sie legte die Hand auf die Lehne. Kein Summen. Nur ein Pulsieren. Ein Fragezeichen ohne Tinte. Und Margret flüsterte: „Danke.“ Da begann der Stuhl zu schweigen – und zu ruhen. Denn dies war die letzte Fähigkeit, die ihn so besonders machte:
1. Er zeigt Wahrheit statt Hexen. 2. Er zählt Lebenszeit, ohne sie zu stehlen.
3. Er fordert Handlung statt Neugier.
4. Er fesselt nicht im Bekannten.
5. Er ruht erst, wenn Verantwortung jemandem nicht mehr Angst macht, sondern Richtung gibt.
Rund wie eine Legend
Der Stuhl wurde verbrannt, so sagen die Alten. Aber nur jene, die ihn kannten, wissen, dass etwas anderes brennt: der Mut, zu hören.
Und wenn der Schnee fällt über den ungarischen Wacholder, dann atmet irgendwo die nächste Legende bereits wahre Taten in die Nacht.
Wer sie erzählt? Vielleicht du.
Vielleicht wieder Holz.
Margret entdeckte die Zeile an einem späten Novembertag, als sie für die Lesung im Kulturhaus von Arany Egyszarvú Könyvesház recherchierte. Zwischen Karten der Region und vergilbten Sagenheften ragte er hervor: ein Stück Luca-Holz, nur drei Finger breit, aber schwerer als ein Wald im Sturm. Der Buchhändler Béla erzählte, ohne Effekthascherei, die alte Warnung: „Ein fertiger Luca-Stuhl sieht Hexen. Ein halber Stuhl sieht *Menschen*, wie sie sich tarnen – im Wegschauen, im Mitgehen, im sich-Nicht-Fertig-Trauen.“
Neugier war es nicht, die Margret trieb. Es war Unruhe. Seit Monaten schrieb sie an Fragmenten – kurze, dunkle Miniaturen, Drabbles wie angeschliffene Knochen. Die Wahrheit zerfiel ihr beim Schreiben zu schnell. Sätze endeten, bevor sie Haltung annahmen. Vielleicht suchte sie einen Stoff, der ebenso ringt wie sie. Sie fuhr mit dem Nachtzug der MÁV-START an den Rand des alten Waldes. Frost zeichnete weiße Runen auf die Fenster. Beim Ausstieg knirschte der Boden wie zerbröselte Gewissheit. Ein Pfad führte sie tief in die Tannen, dorthin, wo die Schreinerlegenden
geboren werden: zur verfallenen Werkstatt des Meisters László Bognár. Die Hütte war ein Skelett aus Balken. Kein Dach, nur Sparren gegen den Himmel gekreuzt. In der Mitte: der unvollendete Stuhl. Vier Beine standen, aber das fünfte war ein Ast, noch an der Rinde. Die Lehne halb geflochten, halb gespalten. Kein Sitzbrett – nur eine Lücke, in der man hätte ruhen sollen, wäre da nicht die Angst gewesen, sich auf etwas zu setzen, das zurücksieht. Margret berührte die Lehne. Das Holz saugte die Kälte nicht auf. Es bewahrte sie, als wäre Winter sein Tagebuch. In den Fugen steckten Späne aus neun
Hölzern – aber nur fünf waren verarbeitet. Ebenholz-Split, Birnbaum-Faser, Akazien-Knoten, Hartriegel-Spitze das Sitzbrett ein aus Mohnkern-Brett – schwarz gebeizte Jahresringe, die aussehen wie Augen, die erst aufspringen, wenn jemand bleibt, obwohl er gehen könnte. Keine perfekte Kante, sondern eine gewollte Bruchlinie als Griffstelle für Verantwortung. Der Stuhl erkannte nun keine Hexen. Er erkannte Richtung. Und auch das nur halb, denn halbe Wahrheit leuchtet weiter als eine fertige, die blendet. Als Margret aufstand, war der Stuhl nicht „fertig“. Er war fortführbar. Und
darin lag seine Besonderheit: Magie entsteht im Bruch, nicht in der Vollendung. Wahrheit bindet erst, wenn man ihre Risse akzeptiert. Und Verantwortung beginnt dort, wo jemand weiterarbeitet, obwohl das Ende noch keine Form hat. Sie ließ den Stuhl in der Lichtung zurück. Kein Denkmal, nur ein Anfang, der nicht mehr ängstigt, weil er geteilt trägt. Der Schnee fiel nun vorwärts durch die Bäume. Jede Flocke ein Funken, der auf ein neues Kapitel wartet, das niemals ganz ist – aber ganz ehrlich ringt. Und irgendwo, im Sagen-Wind von Ungarn, murmeln die Alten seither:
Holz, das unvollendet bleibt, ist ein Kompass. Nur für die, die ohne Gewissheit gehen – und trotzdem Richtung halten. So wächst die Legende weiter. Vielleicht erzählt wieder Holz. Vielleicht eine Autorin. Vielleicht du.
Im Archiv des alten Klosters von Pannonhalma ruhten Möbelinventare in Leder gebunden. Doch ganz hinten, auf einer lose eingehefteten Seite, fand sich ein Zusatz, älter als die Tinte es tragen konnte: „Wer ihn berührt, erbt – und schwindet zugleich.“ Darunter eine Zeichnung, die keine Zeit greifen konnte, nur erahnte Linien: der Luca-Stuhl, halbfertig, immer halbfertig. Kein Sitzbrett, nur eine Öffnung zur Erkenntnis. Keine Kanten, die vollendet waren, sondern Risse, die sich wie Münder formten, um Fragen auszuatmen.
Margret war nicht die Erste, die diese Seite aufschlug. Vor ihr hatte die Chronistin Ilona Farkas davon geträumt – und den ersten Span in das Pergament geklebt, ein Zinken aus Buchenhaar. Ilona erzählte später den Novizinnen: Der Stuhl zeigt, wer im Verborgenen mitläuft, nicht die Hexen der Märchen, sondern die Leisetreter der Geschichte. Doch jedes Sehen kostet den Sehenden etwas. Ein Stück Haltung, ein Gramm Herzschlag, ein Flüstern Leibeswärme. Erste Weitergabe Nach Ilona kam der Schmied Miklós Révész. Sein Griff an die Lehne brannte die fünfte Stuhlbeinfuge nach, nicht mit
Eisen, sondern mit Urteilsglut. Der Stuhl zeigte ihm die Nachtgestalten des Dorfes: den Richter, der gestern noch Freund war, heute aber Mitgehen aus Pflicht verwechselte. Miklós erkannte zu viel – und verlor den feinen Sinn für Zwischentöne. Seine Zunge wurde klarer, doch auch härter. Ein Preis der Eindeutigkeit. Er gab den Stuhl weiter an seine Tochter. Beim Überreichen knirschten Späne wie gefrorener Hagel zu Boden: Holz der Steppe von Hortobágy, dunkler als der Nachthimmel über den Pferdeweiden, und ein heller Span, der unerklärlich glomm: Silberpappel‑Span. Heller, aber nicht leicht.
Zweite Generation Die Tochter war die Weberin Eszter Révész. Sie flocht ein provisorisches Sitzbrett aus Weiden, aber setzte sich nie. Der Stuhl wollte nicht, dass man sitzt, sondern dass man wandert. Eszter verstand: Vollendung ist die Illusion der Sattheit. Fokus ist Reichtum, aber kostet Peripherie. Als der Stuhl ihr die versteckten Lügen des Dorfpfarrers zeigte, verlor sie die Fähigkeit zu übersehen, um zu schützen. Ihr Blick wurde ein Schwert aus Glas. Schärfer, aber verletzbar. Sie erzählte die Legende beim Licht des Talgmond‑Festes den Enkeln.
Worte, die weitergegeben wurden wie Funken, aber Funken, die brennen, auch wenn sie leuchten. Dritte Generation – Margret Margret drehte das Gelesene um: Sie war nicht Sitzende, sondern Fortführende. Sie setzte ein Sitzbrett ein, nicht um zu ruhen, sondern um zu übertragen – aus Mohnkern‑Brett, gebrochen, bewusst gebrochen. Denn der Stuhl spricht durch seinen Mangel. Als sie das Holz berührte, sah sie die Gestalten der Unterlassung: den Lehrer, der schweigt, wenn ein Kind verschwindet, die Masse, die geht, weil
keiner geht. Doch etwas in ihr wich zurück. Nicht Mut, sondern Gewissheit selbst. Denn Gewissheit schließt, und der Stuhl verlangt Öffnung. Margret gewann die Wahrheit und verlor die Angst vor den Rissen, aber zahlte mit Linearität: Ihre Geschichten wurden radikaler fragmentarisch. Sie konnte nicht mehr lange Formen halten, Romane zerfielen ihr zu früh. Doch was sie schrieb, traf wie ein Zweig ins Herz. Kurz, scharf, wahr. Die aktuelle Schwelle Bevor die vierte Generation kam, war der Stuhl anders geworden. Nicht mehr ein
Thron der Erkenntnis, sondern eine Schwelle. Keine Prophezeiungen mehr, nur Konfrontationen. Wer ihn berührt, sieht Verantwortung nicht als Anklage, sondern als Richtung. Doch jede Richtung kostet ein Stück Freiheit. Ein Kompass nimmt Möglichkeiten. Und der Luca-Stuhl – er lenkt. Margret brachte den Stuhl zur Lichtung über dem Donauknie, nahe dem Dorf von Nagymaros. Beim Ablegen der Hand auf die Lehne fiel ein letzter Span, schwer wie Regen im Herzen: Schlehdorn‑Splitter. Sie legte ihn in ein Kästchen aus Eisbirne. Dann übergab sie es ihrer Enkelin, die erst fünf Jahre alt war, doch
Augen hatte, die noch nicht wussten, dass Sehen kostet. Die Legende spricht weiter Im Dorf erzählt man es heute so: Der Stuhl beginnt im Wald. Endet im Leben. Wird niemals ganz. Jede Hand fügt ihm Linien hinzu, aber nimmt dem Träger etwas. Nicht weil Magie gierig ist – sondern weil Wahrheit nicht kostenlos ist. „Wer Erbe annimmt, schwindet nicht zu Staub – nur zu dem, der er wirklich ist.“ Und wenn die Enkelin eines Tages das Kästchen öffnet, mitten im winterharten Flüstern des Waldes von Pilisi Parkerdő, dann wird sie den Stuhl nicht „fertig“
schnitzen. Sie wird ihn "weiterprägen", weil halbe Wahrheiten jene sind, die lange leuchten – bis die nächste Hand kommt, die sie tragen kann.
Erbe ist Macht.
Erbe ist Bürde.
Und Holz, das fragt, wird niemals schweigen.