Kurzgeschichte
Die drei Tauben der Weihnacht - Novelle

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"Die drei Tauben der Weihnacht - Novelle"
Veröffentlicht am 19. November 2025, 38 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Ich erinnere mich noch gerne meiner allerersten Zeilen - ein Schulgedicht: Der Winter ist ein Bösewicht, die Bäume tragen Schneegewicht, die Stämme sind kahl und so schwarz wie ein Pfahl, die Felder sind weiß und auf dem See liegt Eis. In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich mein Schreibstil sicher geändert - ist erwachsen geworden -, aber die Freude am Schreiben ist ungetrübt.
Die drei Tauben der Weihnacht - Novelle

Die drei Tauben der Weihnacht - Novelle

DIE DREI TAUBEN DER WEIHNACHT

Die Nacht über den Ebenen war still wie ein gemiedener Atemzug. Im Winter breitete sich die Puszta aus wie ein altes Leintuch: farblos, zerknittert, vom Frost hart gespannt. Nur im Haus am kleinen Hang brannte noch ein Licht, ein gelbliches Flackern hinter Fensterglas, das vom Frost blühend weiß angehaucht war. Viktor lehnte am Lehmofen, die Wärme wie eine Hand, die ihn hielt. Er liebte dieses Gefühl. Hier, fernab von all dem Lärm, den er einst für Leben gehalten hatte.

Er nahm einen Löffel Suppe, kräftig und

einfach, wie die Gerichte seiner Mutter: Kartoffel, ein Hauch Paprika, Speck. Es war eigentlich zu salzig geraten, aber Viktor mochte das. Es erinnerte ihn daran, dass er noch schmeckte, dass er noch etwas war, obwohl die Welt ihn längst abgeschrieben hatte. »Feierabend!« sagte er laut, nur damit die Worte sich in der Luft ausbreiteten wie ein kleines Fest. Er nahm den Rotwein, ließ ihn über die Zunge rollen. Der Wein war grob, aber ehrlich. Alles an diesem Leben war grob – aber ehrlich. »Mein kleines Paradies«, flüsterte er.

Und damit fiel der Tag von seinen

Schultern. Er schloss die Augen – und die Müdigkeit nahm ihn mit einer Geschwindigkeit, die ihm wie ein Sturz vorkam. Ein kurzer Schreck durchzog ihn, dann sank er in ein Schwinden, als würde er von innen ausgeschaltet. Die Welt wurde schwarz. Die Stille brach. Ein Gurren, weich wie ein Schneekorn, zerriss die Dunkelheit. Viktor blinzelte. Er atmete ein – und roch nicht mehr Suppe und Rauch, sondern kalte, glatte Winterluft, die wie eine Klinge über die Haut strich.

Vor ihm stand eine

Taube. Nein – thronte. Ihr Gefieder war so weiß, dass es im frühen Mondlicht glühte, als bestünde sie aus Licht selbst. »Endlich bist du wach«, sagte sie mit einer Stimme, die wie der Klang eines alten Glöckchens war. »Du hast lange geschlafen, Viktor. Zu lange.« Er starrte sie an. Er war nicht der Mann, der sich schnell aus der Ruhe bringen ließ, aber dies ... das war mehr als ein Traum und doch nicht weniger. »Wie kommst du hier herein?« Seine Stimme klang tiefer als sonst. »Und was willst du von mir?« Die Taube neigte den Kopf, als würde sie

lächeln. »Komm mit. Ich will dir etwas zeigen.« Viktor öffnete den Mund für eine Antwort, da rauschte etwas durch die Luft – ein Wirbeln, ein Ziehen, ein Fallen – und die Küche löste sich auf wie Asche im Wind. Sie standen im Schnee. Vor ihnen ein kleines Bauernhaus, gedrungen, mit einem Kamin, aus dem dünner Rauch aufstieg. Durch das Fenster fiel warmes Licht. Der Schnee reflektierte es weich, sodass das Haus wie eine Laterne im Dunkeln wirkte. »Schau hinein«, flüsterte die weiße Taube. Viktor trat

näher. Das Fenster war leicht beschlagen, aber er erkannte den Raum sofort. Sein Elternhaus. Vielleicht zwanzig, fünfundzwanzig Jahre früher. Der kleine Weihnachtsbaum stand auf dem alten Holztisch, geschmückt mit Stanniol, Bonbonpapierchen, ein paar dünnen Kerzen. Ein Baum, wie er ihn damals für selbstverständlich gehalten und später verachtet hatte. Auf dem Teppich saß ein Junge – barfüßig, die Haare zerzaust, die Wangen gerötet. Er hielt einen Holztraktor in den Händen, frisch repariert, neu

bemalt. »Danke, Vater«, sagte der Junge. »Das ist das schönste Geschenk.« Der Vater saß daneben. Er wirkte müde, aber stolz. Die Mutter kam aus der kleinen Küche, die Stricknadeln in der Hand, und setzte sich zu ihnen. Ein stilles Glück. Eines, das er nie sah, solange er darin lebte.

Viktor spürte, wie etwas in ihm zog, wie ein altes, dünnes Band, das er selbst einmal durchtrennt hatte. »Warum zeigst du mir das?« fragte er rau. Die Taube antwortete nicht. Sie sah ihn nur an – und dann erlosch die

Szene, als wäre sie aus Licht gemacht, das jemand einfach ausgeknipst hatte. »Hier oben, Viktor!« Er drehte sich und sah den Baum. Einen Baum, groß wie eine Säule, prunkvoll, goldüberladen, mit Kerzen bestückt, die brannten, als trotzten sie jeder Gefahr. Auf der Spitze saß eine graue Taube mit roten Schwanzfedern. »Du kennst den Ort.« Er kannte ihn. Er hasste ihn. Und er hatte ihn geliebt. Es war der Festsaal, in dem er seine größten Auftritte hatte. In dem er als junger Akademiker, frisch dekoriert mit Erfolgen, in die

Gesellschaft eingetreten war wie ein König. Er hatte sich sonnen lassen. Er hatte geglaubt, angekommen zu sein.

Er sah sich selbst, jünger, selbstsicher, in seiner Festuniform, als er die Treppe herabstieg. Die Menschen jubelten. Er hörte ihren Applaus wie Donner. Und er erinnerte sich an das Gefühl, das ihn damals durchströmte: Macht. Ruhm. Geltung. »Na, wie gefällst du dir, Viktor?« Die graue Taube flog auf seine Schulter. Ihr Gurren war ein kaltes Lachen. »Ein Bauernsohn mit Diplom.« Er schüttelte sie ab. Oder versuchte

es. »Ich habe das hinter mir«, knurrte er. »Alles. Ich brauche das nicht mehr.« »Sag das ohne zu zittern«, flüsterte die Taube.

Und mit einem Flügelschlag brach auch dieses Bild in sich zusammen. Das Zimmer war dunkel. Die Luft kalt. Auf dem Bettpfosten saß eine schwarze Taube. Ihre Augen waren bernsteinfarben, alt und klar wie Harz. »Komm«, sagte sie. »Ich zeige dir, was kommt.« Viktor zog sich an, mechanisch, als wäre er sich selbst entrückt.

Das Haus, das erschien, war seines – nur

älter, verbogener, vernachlässigt. Der Stall war ein Schatten seiner selbst. Die Schafe wirkten ausgemergelt.

Und dann sah er ihn: den Alten, der mit schleppenden Schritten das Gatter öffnete. Der fiel. Der sank. Der still wurde. »Nein«, hauchte Viktor. »Nein!« »Es ist nur eine Möglichkeit«, sagte die schwarze Taube sanft. »Nicht das Schicksal. Noch nicht.« Und dann war alles fort. Mitten in der Nacht stand Viktor in seiner Küche und starrte auf die schwarze Feder, die vor ihm lag. Sein Herz schlug hart, als wolle es

ausbrechen. Er fühlte, wie etwas in ihm brach. Oder sich löste.

Er nahm das Diplom von der Wand. Es roch noch nach dem Zimmer, in dem er es einst mit Stolz aufgehängt hatte. »Vielleicht … vielleicht ist es Zeit.« Er legte es ins Feuer. Die Flammen verschlangen es langsam, würdevoll, wie etwas, das endlich gehen durfte. Er hob den Wein und prostete seinem Spiegelbild zu. »Frohe Weihnachten, Viktor.« Draußen glitt ein Schatten am Fenster vorbei. Ein Gurren. Leise. Mahnend. Oder

ermutigend.


Der Wind drehte. Er kam plötzlich von Osten, scharf wie ein Messer, und trug den Geruch verbrannter Kräuter in die Küche. Antal hob den Kopf, als lausche er einem uralten Befehl. Viktor folgte seinem Blick, doch sah nur den dunklen Türrahmen, der sich schwarz gegen das fahle Morgenlicht abhob. „Hörst du es?“, murmelte Antal. Seine Stimme klang wie ein Rätsel, das sich selbst vergessen hatte. „Nur den Wind“, antwortete Viktor, doch ein Schauder rann ihn hinab. Der Wind sang nicht. Er flüsterte. Antal stand langsam auf. Das knarrende

Holz unter seinen Schritten klang wie gebrochene Rippen. „Man sagt, die Puszta erinnert einen. Auch wenn man es nicht will.“ Viktor folgte ihm hinaus. Die Steppe lag weit und leer wie ein ungefüllter Atemzug. Gräser wogten in fahlen Wellen, und über ihnen schwebte eine Stille, die sich anfühlte wie eine aufgeschnittene Ader: warm zuerst, dann tödlich klar. „Warum bringst du mich hierher?“, fragte Viktor. Der Kampf in seiner Brust war laut, doch sein Mund brachte kaum ein Flüstern hervor. Antal trat ein paar Schritte vor. „Weil du glaubst, du seist ein Nichts. Die Puszta

zeigt dir das Gegenteil. Oder sie frisst dich. Eines von beiden – und beides ist ehrlicher als die Stadt.“ Ein Schatten glitt über die Ebene. Kein Vogel, kein Tier. Eher eine Erinnerung, die Beine bekommen hatte. Viktor wich zurück, seine Finger suchten Halt an der Tür, doch die Steppe hielt ihn fest wie ein Gelübde. „Das…“ „Ja“, sagte Antal ruhig, „das ist es, was dich ruft.“ Der Schatten blieb stehen, als hätte er genau diese beiden Männer erwartet. „Dein Gestern ist dort drüben“, fuhr Antal fort. „Und es hat keine Absicht, dich loszulassen. Es sei denn, du gehst

ihm entgegen.“

Viktor atmete ein. Die Luft schmeckte nach Metall. Er machte einen Schritt. Nur einen. Doch die Steppe antwortete sofort — als hätte dieser Schritt einen Vertrag besiegelt, den er nie gelesen hatte. Viktor ging weiter. Der Boden unter seinen Schritten fühlte sich weicher an, als hätte die Erde selbst begonnen zu atmen. Der Schatten vor ihm formte sich, wuchs, zog sich wieder zusammen, als bestünde er aus dem Stoff alter Albträume, der nie richtig zur Ruhe kam. Antal blieb an der Tür stehen. „Ab hier

musst du alleine gehen.“

Viktor wollte sich umdrehen, nach einer letzten Gewissheit suchen, doch der Wind presste ihm die Kapuze ins Gesicht wie eine Hand, die sagt: Vorwärts. Der Schatten nahm Konturen an. Ein Mantel, zerrissen vom Wetter. Schultern, die sich verkrümmt hatten unter einer Last, die niemand sehen konnte. Und dann — ein Gesicht, das mehr an Staub erinnerte als an Haut. „Du bist spät“, krächzte es. Nicht laut. Aber deutlich. Wie eine Wahrheit, die nicht schreien muss. Viktors Brust verengte sich. „Wer… bist du?“

Der Fremde hob den Kopf, und für einen

Moment schien es, als läge hinter seinen Augen ein ganzer Winter begraben. „Das, was du liegen gelassen hast. Das, was du begraben wolltest. Und das, was nicht tot blieb.“ Die Worte schnitten durch Viktor wie kaltes Eisen. Erinnerungen flackerten auf — Gesichter, Stimmen, eine Nacht, die nie richtig endete. Der Fremde trat näher, und mit jedem Schritt schien die Welt um Viktor kleiner zu werden, enger, dichter, als wolle sie ihn zurück ins eigene Herz pressen. „Du hast weggesehen“, fuhr die Gestalt fort. „Und geglaubt, das genügt. Aber die Puszta vergisst nicht. Ich auch nicht.“

Viktor wollte weichen, doch seine Füße

wurzelten fest in den trockenen Boden. Der Fremde streckte eine Hand aus — dürr, staubbedeckt, beinahe durchsichtig. „Nimm es an“, sagte er. „Oder ich werde weitergehen. Und dir folgen. Wohin du auch fliehst.“ Ein zweiter Schatten glitt über die Steppe, diesmal von Westen. Viktor hob zitternd die Hand. Seine Finger berührten den Staub des Fremden — und ein Laut, halb Schluchzen, halb Sturm, riss durch die Steppe. Die Wahrheit, die er verdrängt hatte, brach auf wie ein alter Knochen. Und die Puszta lauschte. Als Viktors Finger den Staub berührten, zitterte die Steppe. Nicht sichtbar, nur

spürbar — ein langsamer, tiefer Atemzug, der sich durch den Boden zog, durch die Gräser, durch die harten Wurzeln, bis hinein in seine Brust. Der Fremde hob das Kinn. Aus dem staubfarbenen Gesicht löste sich ein feines Glimmen, wie Glut, die nie ganz erloschen war. „Jetzt siehst du“, sagte er. „Und jetzt kannst du entscheiden.“

Viktor wollte etwas erwidern, doch die Stimme blieb stecken. Statt Worten kamen Bilder: eine Tür, die zu hart zugeschlagen wurde. Ein Blick, den er nicht erwidert hatte. Schritte, die fortgingen, bis sie im Dunkeln verschwanden. Und er selbst, der zurückblieb — kleiner, als er sich je

eingestanden hatte. „Warum jetzt?“, brachte er endlich hervor. „Warum hier?“ Der Schatten neigte seinen Kopf leicht, als höre er eine Melodie, die Viktor noch nicht verstand. „Weil du dich nicht länger verbergen kannst. Die Puszta ist ein Spiegel – sie schneidet weg, was unnötig ist. Und sie zeigt, was übrig bleibt.“ Ein leiser Riss ging durch die Luft, als würde der Himmel selbst aufbrechen. Die Wolken zogen sich zusammen, formten lange, streckende Finger. Blitzlos, tonlos – aber fordernd.

„Was willst du von mir?“, fragte Viktor. Die Ehrlichkeit tat weh, aber sie war

warm. Vielleicht zum ersten Mal seit Jahren.

Der Fremde hob beide Hände, und der Staub darin wirbelte auf wie ein kleiner Sturm. „Ich will nichts. Ich bin. Und bist du bereit, mich wiederzunehmen, dann kann ich ruhen.“ Ein Windstoß fuhr durch die Steppe, wirbelte trockene Halme auf und ließ sie um die beiden kreisen wie stumme Zeugen. Der Himmel drückte schwer, und in der Ferne krächzte ein einzelner Vogel, heiser wie ein alter Schwur. Viktor schloss die Augen. Der Staub roch nach Kindheit. Nach Schuld. Nach der Nacht, die er weggesperrt hatte. Und doch lag darunter

ein anderer Duft. Etwas Reines. Der Anfang eines Weges, den er nie betreten hatte. Als er die Augen wieder öffnete, standen sie dicht voreinander: der Mann von Staub, und er selbst, der allzu lange aus Fleisch und Angst bestand. „Ich lasse dich nicht länger hinter mir“, sagte Viktor leise. Der Fremde lächelte. Ein Riss ging durch das Gesicht — nicht schmerzhaft, sondern befreiend. Staub löste sich, wurde leicht, wurde Luft. Und die Puszta atmete aus. Einmal sanft. Einmal tief.

Der Fremde zerfiel zu feinem Sand, der sich in der Morgendämmerung

verlor. Viktors Hand blieb ausgestreckt, doch sie fühlte sich nicht mehr leer an. Der Wind legte sich. Und die Steppe hörte zu. Der Morgen brach endgültig an, als hätte er lange gezögert, ob er sich über diese Szene legen dürfe. Das Licht fiel flach über die Steppe, und in ihm schwebten winzige Körner des Staubs, der eben erst noch ein Gesicht getragen hatte. Viktor stand still, beide Hände leicht geöffnet, als hielten sie die letzte Wärme eines verschwundenen Wesens fest. Viktor drehte sich nicht um. „Ich fühle

mich… leichter.“ Er suchte nach einem Wort, fand keines. Und merkte, dass auch das ein Fortschritt war. Früher hätte er das Schweigen gefürchtet. Heute hörte er darin etwas wie eine Antwort.

Der Fremde trat neben ihn. „Leichter ist nur der Anfang. Jetzt musst du lernen, daraus etwas zu machen.“ Seine Stimme hatte etwas Weiches, das man hinter seiner rauen Schale nicht vermutet hätte. Viktor sah in die Ferne. Die Steppe, die eben noch wie ein uraltes Tribunal gewirkt hatte, lag nun offen und weit, ein Raum, den man nicht bekommen, aber betreten konnte. Irgendwo am Horizont begann ein neuer Ton, kaum hörbar, wie

das Knacken eines trockenen Zweiges, aber nicht bedrohlich — eher wie ein erster Takt. „Da“, sagte der Fremde und deutete in die Weite. „Siehst du die Spur?“

Viktor blinzelte. Ein schmaler Pfad zog sich durch das Gras, kaum mehr als eine Verschiebung der Farben. Das Licht ließ ihn flirren, als sei er nicht ganz real. „Wo führt sie hin?“, fragte Viktor. „Zu dir“, antwortete er. „Oder weg von dir. Je nachdem, wie du gehst.“ Ein Windhauch wirbelte etwas Staub hoch. Viktor folgte seiner Bewegung — und für einen Herzschlag glaubte er, darin noch einmal das Glimmen von Augen zu sehen. Kein Vorwurf, nur ein

letzter Gruß. Dann war es vorbei. Er atmete tief ein. Der Geruch der Steppe war anders als vorhin: weniger Metall, mehr Erde. Mehr Möglichkeit.

„Ich weiß nicht, ob ich bereit bin“, sagte er. „Niemand ist das. Aber die Puszta wartet nicht auf Bereitwillige. Sie wartet auf jene, die endlich aufhören zu fliehen.“ Viktor schob die Hände in die Taschen, spürte dort die vertraute Leere. Keine Angst mehr. Nur Platz. „Dann gehe ich“, sagte er. „Gut. Und denk dran: Die Steppe zeigt viel. Aber sie zwingt nichts. Was du findest, gehört dir.“

Viktor setzte den ersten Schritt auf die

Spur. Der Boden fühlte sich fest an, warm, als hätte die Sonne ihn schon vor Stunden berührt. Hinter ihm blieb der Fremde stehen, eine ruhige Figur in der Tür der alten Küche, wie ein Zeuge des Anfangs. Viktor ging weiter. Das Gras streifte seine Beine. Der Wind legte ihm etwas Ungehörtes ins Ohr — kein Wort, eher ein Versprechen. Die Steppe öffnete sich vor ihm, und mit jedem Schritt wurde sie heller. Nicht freundlich. Nicht feindselig. Nur ehrlich. Und irgendwo tief in ihr, kaum hörbar, begann etwas Neues zu atmen.

Der Schnee glitzerte wie zerbrechliches Glas unter dem kalten Mondlicht. Die

Schafe hoben ihre Köpfe von der Weide, als hätten sie seine Gedanken erraten. Kein Laut war zu hören außer dem leisen Knirschen seiner Stiefel im Schnee und dem fernen Gurren, das wie ein Echo aus seinen Visionen klang.

Er hielt inne, atmete tief ein und spürte, wie die Kälte seine Wangen brannte, aber auch wie sie ihn belebte. Der Wind trug den Duft von Tannennadeln, von brennendem Holz, von etwas, das nach Hoffnung schmeckte. Ein Atemzug – und die Welt war wieder greifbar. Er erkannte die Umrisse seines Hofes, die vertrauten Hügel, das schimmernde Dach seines Hauses. Nichts war verschwunden, und doch war alles

verändert. Viktor setzte sich auf die Bank am Zaun, das Herz schwer und doch leicht zugleich. Vor ihm lag die Puszta, still, endlos und doch voller Möglichkeiten. Er schloss die Augen und hörte das Flattern kleiner Flügel in sich selbst, das Gurren, das ihn geleitet hatte. Die drei Tauben – weiß, grau, schwarz – hatten ihm den Weg gezeigt, hatten ihn an sein wahres Leben erinnert.

Langsam öffnete er die Augen und sah die Spuren der Nacht auf dem Schnee – wie kleine Geschichten, die darauf warteten, geschrieben zu werden. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er wusste: Die Vergangenheit war vorbei,

die Gesellschaft verlogen, die eigenen Ängste nur Schatten. Jetzt zählte nur das Hier, das Jetzt, die Chance, ein neues Leben zu gestalten. Mit jedem Schritt zurück zum Haus spürte er die Wärme des Lehmofens schon von weitem. Er trat ein, schloss die Tür hinter sich und fühlte, wie die Schatten der Vergangenheit hinter ihm verblassten. Die Kirchenglocken klangen noch immer, aber sie waren nicht mehr Mahnung, sondern Einladung: zu leben, zu geben, zu lieben – auf seine Weise, ehrlich und unverstellt.

Viktor nahm das Glas Wein in die Hand, blickte in die Flammen des Ofens und flüsterte leise: »Frohe Weihnachten – an

mich selbst, an das Leben, an alles, was noch kommt.« Und draußen, im leisen Wind, hörte er das ferne Gurren, ein sanftes Versprechen, dass die Zeit nie stehen bleibt, dass Veränderung immer möglich ist – man muss nur die Augen öffnen und den ersten Schritt wagen. Die ersten Sonnenstrahlen glitten über die weiße Ebene der Puszta, als Viktor die Tür öffnete und hinaustrat. Die Welt wirkte still, als hätte sie selbst den Atem angehalten. Doch unter dem ruhigen Schleier lag eine leise Bewegung: Kinder, die durch den frischen Schnee stapften, Hunde, die bellend spielten,

und die Schafe, die neugierig auf ihn zukamen. Alles war lebendig, alles wartete auf seine Hand. Er erinnerte sich an die Tauben – ihre Augen, ihr Gurren, ihre Mahnung und ihr Versprechen. Jede von ihnen hatte ihm einen Teil seiner eigenen Seele gezeigt: das Kind in der Bescheidenheit, den Menschen in der Eitelkeit und schließlich das Ende, das nur die Wahrheit über sich selbst offenbaren kann. Viktor spürte, wie eine Wärme in ihm aufstieg, stärker als jedes Feuer, das er im Ofen entzündet hatte. Er ging zu den Schafen, streichelte die Köpfe der Tiere, sprach leise Worte der

Zuneigung, als wolle er alles wieder gutmachen, was er nicht bemerkt hatte. Dann wandte er sich dem Hof zu, dem kleinen Garten, dem verlassenen Stall. Stück für Stück begann er zu ordnen, zu reparieren, zu beleben. Nicht aus Pflicht, nicht aus Stolz – sondern aus Liebe. Die Welt war nicht perfekt, sie war unvollkommen, aber genau darin lag ihre Schönheit. Viktor erkannte, dass Reichtum und Ruhm nichts zählen, wenn man sich selbst verliert. Und dass die Zeit, die man hat, das einzige Geschenk ist, das zählt. Ein Lachen stieg in ihm auf, hell und klar, als er das erste Licht des Tages über die Felder schweifen sah. Und als er zurück in die Küche trat, den

Ofen neu entfachte, das Glas Wein hob und auf die kommenden Tage prostete, hörte er es wieder: das leise, versprechende Gurren der Tauben. Ein letztes Echo, das sagte: »Du hast es verstanden. Lebe. Jetzt.« Viktor lächelte. Weihnachten war nicht nur ein Tag im Kalender, sondern ein Augenblick im Herzen – eine Erinnerung daran, dass Veränderung möglich ist, dass Liebe möglich ist, dass ein Mensch, wenn er bereit ist, immer wieder neu anfangen kann Die Puszta lag still unter dem ersten Licht des Morgens, doch in einem kleinen Haus brannte nun ein Feuer, das von innen leuchtete – und ein Mann hatte

gelernt, dass selbst die kälteste Nacht durch ein offenes Herz überwunden werden kann.

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KatharinaK
Ich erinnere mich noch gerne meiner allerersten Zeilen - ein Schulgedicht:
Der Winter ist ein Bösewicht,
die Bäume tragen Schneegewicht,
die Stämme sind kahl
und so schwarz wie ein Pfahl,
die Felder sind weiß
und auf dem See liegt Eis.
In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich mein Schreibstil sicher geändert - ist erwachsen geworden -, aber die Freude am Schreiben ist ungetrübt.

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