Kurzgeschichte
Raunächte

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"Raunächte"
Veröffentlicht am 27. November 2025, 122 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Ich erinnere mich noch gerne meiner allerersten Zeilen - ein Schulgedicht: Der Winter ist ein Bösewicht, die Bäume tragen Schneegewicht, die Stämme sind kahl und so schwarz wie ein Pfahl, die Felder sind weiß und auf dem See liegt Eis. In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich mein Schreibstil sicher geändert - ist erwachsen geworden -, aber die Freude am Schreiben ist ungetrübt.
Raunächte

Raunächte

Der Frost lag schwer über der Stadt, und die Schatten flüsterten alte Geschichten. Jakob stand allein auf der Brücke, die Laterne in der Hand, und spürte, wie die Rauhnächte ihn durchdrangen: Krampusse, Geister, Erinnerung – alles zugleich. Er fürchtete sich nicht. Die Dunkelheit war ein Spiegel, die Kälte ein Lehrer. Ein Funke glomm in seiner Brust, klein, unzerstörbar, und trug alles: Angst, Licht, Zeit. Schritt für Schritt ging er weiter, durch Schnee und Nebel, durch die alten Nächte, die niemals enden, und das Licht in ihm leuchtete still, wie ein Herz, das die Welt trägt.

Der Winter war jung in dieser ersten Nacht, kaum mehr als ein Schleier aus

Frost, der sich über die Dächer der Stadt legte. Doch jeder, der wach blieb, spürte es: Etwas näherte sich. Nicht laut. Nicht hastig. Aber bestimmt – wie eine Erinnerung, die lange geschlafen hatte und nun den Kopf hob. Der Nachtwächter Jakob ging seine Runde wie jeden Abend. Er kannte die Stadt besser als sein eigenes Spiegelbild, kannte ihre Gassen, ihre Atemzüge, ihre stummen Geheimnisse. Und doch schien sie heute anders. Die Schatten standen tiefer. Die Stille blieb dichter. Der Frost kroch näher an seine Haut, als wolle er ihm etwas zuflüstern. Er blieb an der Brücke stehen. Unter ihm träumte der Fluss, halb gefroren, halb

fließend – ein Herzschlag aus Eis und Wasser. Er hob die Laterne, deren Licht wie ein einsamer Stern zitterte. Da hörte er es. Schritte. Schwer. Geduldig. Sicher. Ein Zittern durchfuhr ihn, alt wie sein erstes Schuldbekenntnis, wie die geflüsterte Angst eines Kindes, das noch nicht wusste, wie man sich wehrt. Er kannte dieses Geräusch. Er hatte es nie vergessen. „Nein“, murmelte er in die Nacht. „Es kann nicht…“ Doch der Winter antwortete nicht. Er atmete nur weiter, langsam, unaufhaltsam. Der Nebel teilte sich. Vier Gestalten

traten daraus hervor – groß wie Bäume, dunkel wie die Schatten hinter alten Türen. Piet. Klas. Bartl. Niklos. Die Krampusse. Sie kamen wie die Nacht selbst, ohne Eile, als seien sie immer schon unterwegs gewesen und hätten diesen Ort nie verlassen. Das einzige Geräusch war der Frost, der unter ihren Schritten feine Linien in den Boden zeichnete. Jakobs Herz schlug hart gegen seine Rippen, doch sein Atem blieb ruhig. Er war kein Kind mehr. Kein Junge, der die Treppe hinunterstolperte, weil er dem Rutenhieb entfliehen wollte. Kein weinender Schatten unter der Dachschräge, der hoffte, dass die

Dämonen weiterzogen. Die vier blieben vor ihm stehen. Niklos war der erste, der sprach. Seine Stimme klang wie Holz, das im Ofen reißt. „Du erinnerst dich also.“

Jakob nickte. „Ja.“ Die Antwort kam fest, ohne die Furcht, die einst seine Zunge gelähmt hatte. Bartl trat näher, sein Atem ein Winterwind. „Du bist gewachsen.“ „Zu schnell“, sagte Klas. „Zu schwer beladen“, fügte Piet hinzu, und erstmals schwang in seiner Stimme eine Spur Bedauern. Jakob hob die Laterne höher, und das Licht glitt über ihre Gesichter. Sie wirkten nicht wie Dämonen. Nicht wie

jene schwarzen Gestalten aus den alten Geschichten. Eher wie uralte Männer, erschöpft von den Jahrhunderten, die in ihren Knochen wohnten. „Warum seid ihr hier?“, fragte Jakob.

Niklos neigte den Kopf.

„Weil dies die Nacht der Rückkehr ist. Die Nacht, in der wir sehen, was aus denen geworden ist, die wir einst erschreckt haben.“ „Ihr habt mich gejagt“, erinnerte Jakob leise. „Ihr habt mir Angst gemacht.“ „Angst ist ein Feuer“, sagte Piet. „Manchmal wärmt es. Manchmal verbrennt es.“ „Bei dir hat es überlebt“, murmelte Bartl. „Aber es hat dich nicht

zerstört.“ Sie standen im Kreis um ihn, nicht bedrohlich, sondern wie Zeugen eines alten Schwurs. Der Wind hob sich, trug den Duft von Tannennadeln und fernen Höhen heran. „Wir kommen nicht, um zu strafen“, sprach Niklos schließlich. „Wir kommen, um zu sehen, ob du noch brennst.“ Jakob atmete tief ein. „Ich brenne. Aber anders als früher.“ Ein leises Nicken ging durch die Reihe der vier Schatten. Dann geschah etwas, das Jakob nie erwartet hätte: Klas legte ihm eine Hand auf die Schulter. Schwer wie ein Wintertag, warm wie eine Erinnerung,

die ihren Frieden gefunden hat. „Dann hast du es geschafft“, sagte er. „Du hast uns überlebt.“ Ein Lächeln – kaum sichtbar, aber da – huschte über Piets Züge. „Und deshalb dürfen wir weiterziehen.“ Der Nebel kehrte zurück, umhüllte sie wie eine Decke aus Atem und Schnee. Einer nach dem anderen verschwanden die Krampusse darin, bis nur noch Niklos übrig blieb. Er sah Jakob lange an. „Du bist nicht mehr das Kind“, sagte er. „Aber du trägst es in dir. Hüte es. Nicht aus Furcht – sondern aus Erinnerung.“ Und dann glitt auch er in den Nebel. Stille blieb zurück. Stille – und ein Herz, das ruhig schlug.

Jakob stand noch einen Moment an der Brücke, das Laternenlicht wie ein kleines, trotziges Gestirn in der Dunkelheit. Dann wandte er sich um und ging weiter. Hinter ihm schloss der Winter die Tür zur ersten Nacht.

Vor ihm öffnete sich die nächste.


Der Winter hatte die Stadt nun fest im Griff. Nächte und Tage ließen sich kaum noch unterscheiden; alles schwamm im gleichen fahlen Licht wie in einer alten, fast vergessenen Erinnerung. Und während die meisten Menschen hastig von Tür zu Tür schlüpften, als wollte der Frost ihnen die Namen stehlen, gab es jemanden, der im Straßenbild auffiel wie

eine Silbe, die keiner mehr aussprechen wollte. Man nannte ihn den Mann mit den gläsernen Taschen. Er erschien nur in den Wochen vor Weihnachten. Niemand wusste, woher er kam, niemand, wohin er verschwand. Aber jeder, der ihn sah, blieb stehen – manchmal aus Neugier, oft aus einem Schmerz, den man nicht benennen konnte. Seine Taschen waren wirklich aus Glas. Dünn, zerbrechlich, funkelnd wie Eisplatten über einem zugefrorenen See. Und in ihnen lag nicht Geld. Nicht Brot. Nicht irgendein Besitz. Sondern Erinnerungen.

Kleine schimmernde Fragmente, flackernd wie Lichtreflexe an einer kalten Wand. Manche farblos wie Atem im Frost, manche dunkel wie ungeweinte Tränen, manche rot glühend wie der Zorn eines Kindes, das niemand tröstete.

Jakob begegnete ihm zum ersten Mal in jener Nacht, nachdem die Krampusse verschwunden waren. Sein Herz klopfte noch immer in diesem neuen, seltsam klaren Rhythmus. Die Begegnung mit den vier Schatten hatte etwas in ihm geöffnet, eine Tür, die seit Jahren geschlossen gewesen war. Und so blieb er stehen, als der Mann an der Brücke auftauchte. Er war schmal, bleich, von einer Stille

umgeben, die selbst dem Winter Respekt abnötigte. Sein Blick war nicht hart, nicht weich – eher so, als sähe er durch die Menschen hindurch auf etwas, das hinter ihnen lag. „Du hast schwere Taschen“, sagte er.

Der Mann lächelte ein dünnes, kaum wahrnehmbares Lächeln. „Sie gehören nicht mir.“ „Wem dann?“ Ein Glasstück in der linken Tasche glimmte auf, sobald seine Hand sich hob. Es schien wie eine Erinnerung zu flackern: ein Kind, das eine Puppe fallen lässt; ein Erwachsener, der sich die Augen reibt; eine Stimme, die sagt: Hätte ich doch nur…

„Manchmal verlieren Menschen, was sie nicht verlieren wollten“, antwortete der Fremde. „Manchmal werfen sie es fort, ohne es zu merken.“ Jakob fröstelte. Die Worte waren sanft, aber sie schnitten.

„Und du sammelst das ein?“ „Ich hebe auf, was liegen bleibt.“ Er reichte Jakob ein Fragment aus der rechten Tasche. Es war nicht größer als eine Scherbe, aber als Jakob es berührte, sah er einen Moment lang sich selbst als Kind: barfüßig im Schnee, die Stirn gegen eine alte Holztür gelehnt, die Augen voller Stumme. Er ließ das Glasstück los, als hätte es gebrannt. „Warum zeigst du mir das?“

„Weil du heute Nacht für etwas offen bist. Die meisten sind es nicht.“ Sein Blick glitt über die Stadt, und ein tiefer Schatten schien unter seinen Lidern zu wohnen.

„In den Wochen des Winters tragen die Menschen vieles mit sich herum, ohne es zu wissen. Sie stopfen es in Gedanken, in Träume, in alte Kisten unterm Bett. Aber manches fällt heraus. Und ich…“ – er hob eine Tasche – „… finde es.“ „Was geschieht damit?“ „Ich bewahre es. Bis jemand wieder bereit ist, es zu tragen. Oder loszulassen.“ Der Wind erhob sich in diesem Moment, trug Schneekristalle über die Brücke wie

flüchtige Funken. Jakob spürte, wie etwas an ihm rührte – vielleicht eine Sehnsucht, vielleicht ein Schmerz, vielleicht eine Frage, die er jahrelang vermieden hatte.

„Hast du… hast du auch etwas von mir?“ Der Mann mit den gläsernen Taschen sah ihn lange an. Dann griff er in die linke Tasche, holte eine kleine, schwach rötlich glimmende Scherbe hervor. „Diese hast du fallenlassen, als du dachtest, niemand würde dich je sehen.“ Jakob streckte die Hand aus, doch als er das Glas berührte, geschah etwas Seltsames. Die Scherbe wog nichts – und zugleich alles. Sie vibrierte, als enthielte sie einen Herzschlag.

„Was… ist das?“ „Ein Rest Mut“, sagte der Fremde leise. „Der, den du damals verloren hast.“ Jakob sah auf die Scherbe. Ein Teil von ihm wollte sie fallen lassen. Ein anderer wollte sie umklammern. Beide Bewegungen vermischten sich zu einem Zittern. „Was soll ich damit tun?“ „Das wirst du selbst herausfinden.“ Der Mann mit den gläsernen Taschen ließ die Finger von der Erinnerung, und Jakob spürte das Gewicht – ein zarter, aber unverkennbarer Zug in der Brust, wie ein Ton, der wieder an seine Melodie erinnert wird. „Wirst du wiederkommen?"

„Ich gehe nur dorthin, wo etwas verloren wird“, sagte der Mann und neigte den Kopf. „Und dorthin, wo man bereit ist, es zurückzunehmen.“ Dann drehte er sich um und ging über die Brücke. Die Laterne warf Licht auf die gläsernen Taschen, und für einen Moment wirkte es, als trüge er die Sterne selbst darin. Kurz darauf verschluckte ihn der Nebel. Jakob blieb allein zurück. Doch in seiner Hand glomm leise ein Funke, kaum sichtbar, aber warm genug, um den Winter einen Atemzug lang zum Schweigen zu bringen.

Es war die dritte Nacht des jungen

Winters, als sich in der Stadt etwas veränderte. Es begann kaum bemerkbar – ein zögernder Herzschlag im Rhythmus der Straßen, ein Flüstern, das sich zwischen Dachfirsten und Kaminen festsetzte. Die Kinder schliefen unruhiger, die Alten wachten häufiger auf, und selbst die Katzen hielten einen Moment inne, bevor sie über den Hof huschten. Doch das Auffälligste war dies: Die Uhren begannen zu schweigen. Nicht alle auf einmal.

Zuerst war es die große Kirchturmuhr, die zur vollen Stunde nur einen heiseren Hauch von sich gab. Dann blieb die Standuhr einer alten Witwe stehen –

Sekundenzeiger erhoben, als wollte er zu einem letzten Sprung ansetzen. Und als Jakob seine Runde begann, bemerkte er, dass auch seine Taschenuhr schweigsam wie eine verschlossene Tür war. Er blieb stehen, lauschte, und bemerkte das Ungeheuerliche: Der Winter atmete, doch die Zeit tat es nicht. „So fängt es also an“, murmelte er. Er wusste nicht, woher dieser Gedanke kam. Vielleicht aus der Begegnung mit den Krampussen. Vielleicht aus den gläsernen Taschen des Fremden. Vielleicht aus einem tiefen inneren Wissen, das nur im Winter wach wurde. Die Straßen lagen still vor ihm,

beleuchtet von Laternen, die mehr zitterten als leuchteten. Dann sah er sie. Drei Gestalten, hochgewachsen, gehüllt in Pelze, die aussahen wie Nebel, an denen Frostkristalle wuchsen. Ihre Augen waren hell wie Mondlicht auf Eis, und ihre Schritte waren so lautlos, dass selbst der Schnee sich nicht traute, unter ihnen zu knirschen. Die Rauhnächte. Nicht die Nächte selbst, sondern ihre Boten – jene Wesen, die sich um die verlorenen Stunden kümmerten, die zwischen den Jahren zu Boden fielen wie Federn aus einem gerissenen Kissen. Jakob kannte sie aus alten Geschichten.

Geschichten, die man Kindern erzählte, wenn sie zu spät heimkamen. Geschichten, die Erwachsenen im Herzen froren, wenn sie sie zu ernst nahmen. „Du siehst uns“, sagte die erste Gestalt. „Vielleicht zum ersten Mal“, antwortete Jakob. Die zweite neigte den Kopf, ihre Stimme war ein hauchfeiner Klang – wie das Klingen eines Eiszapfens, der herabfällt. „Dein Mut ist zurückgekehrt. Wir spüren ihn.“ „Und deshalb stehen wir heute hier“, sprach die dritte. Ihre Worte glitten wie kalter Rauch durch die Luft. Jakob merkte, wie der Funke aus der

Scherbe des gläsernen Mannes in seiner Brust leise vibrierte, als würde er auf etwas reagieren. „Warum schweigen die Uhren?“, fragte er. Die drei Rauhnachtwesen blickten einander an. Dann antwortete die erste: „Weil etwas Altes erwacht ist.“ „Etwas, das nicht schlafen sollte“, sagte die zweite. „Etwas, das nach verlorenen Herzen greift“, flüsterte die dritte.

Ein Schauer lief Jakob über den Rücken; nicht aus Angst, sondern aus Verstehen. Es war der Winter, der in ihm sprach – jener Winter, der nach den Krampussen

und dem Mann mit den gläsernen Taschen nun ein neues Gesicht zeigte. „Was hat es geweckt?“, flüsterte er. Die erste Rauhnacht hob die Hand. In ihr lag eine winzige, dunkle Feder – dünner als ein Lächeln, schwerer als eine verpasste Chance. „Eine Stunde. Jemand hat eine Stunde verloren. Eine, die er nie hätte verlieren dürfen.“ „Eine Stunde voller Schmerz“, sagte die zweite. „Eine Stunde, die wiederkehrt, wenn sie vergessen wird“, beendete die dritte. Jakob spürte, wie sein Herz sich zusammenzog. Eine verlorene Stunde.

Eine Stunde, die Gewicht hatte. Eine, die nicht loslassen wollte. Er dachte unwillkürlich an die Scherbe des Muts in seiner Tasche – daran, wie der gläserne Mann gesagt hatte, dass Menschen Dinge verlieren, die sie nicht verlieren wollen. „Kann ich helfen?“, fragte Jakob. Die drei schienen überrascht. Dann huschte etwas über ihre Gesichter – kein Lächeln, aber so etwas wie Anerkennung. „Du kannst es versuchen“, sagte die erste. „Du hast das Herz dafür“, meinte die zweite. „Und die alten Schatten kennen deinen

Namen“, raunte die dritte. Sie traten einen Schritt zurück. Der Frost um ihre Gestalten glomm auf. Dann öffnete sich zwischen ihnen ein Spalt – dünn wie ein Riss im Eis. Dahinter lag Dunkelheit. Nicht bedrohlich, aber schwer. Wie eine Nacht, die zu lange gewartet hatte. „Tritt hinein“, flüsterten die drei im Chor. „Dort beginnt die verlorene Stunde.“ Und Jakob hob die Laterne, deren Licht kaum mehr war als ein schüchterner Gedanke. Dann setzte er den ersten Schritt in das, was ihn erwartete.

Der Riss im Eis öffnete sich lautlos, und Jakob trat hindurch, als durchschreite er eine Tür, die niemand außer ihm sehen konnte. Der Wind hinter ihm verstummte, der Frost hielt den Atem an – und die Welt veränderte sich. Hier war keine Stadt. Kein Fluss. Kein Rauch aus Schornsteinen.

Hier war nur Dunkelheit, die nicht bedrückte, sondern lauschte. Der Boden unter seinen Füßen fühlte sich an wie gepresster Schnee, der niemals schmolz. Mit jedem Schritt hallte ein leises Echo, als würde die Zeit selbst seine Schritte zählen. Die Laterne in seiner Hand brannte seltsam blau, als

hätte sie sich dem Schweigen angepasst. „Wo bin ich?“, flüsterte Jakob. Die Dunkelheit antwortete nicht direkt. Stattdessen begann sie zu schimmern. Zunächst nur schwach – ein Zittern, wie man es im Augenwinkel sieht. Dann wuchs es, dehnte sich, formte Konturen. Schatten lösten sich aus der Finsternis, nicht drohend, sondern neugierig, wie Erinnerungen, die wissen wollen, ob man sie endlich erkennt. Und vor Jakob tauchte eine Gestalt auf. Ein Kind. Klein, zusammengekauert, die Knie an die Brust gezogen. Sein Atem ging stoßweise, als fröre es an einer Kälte, die nicht von außen kam.

Jakobs Herz setzte einen Schlag aus. Er kannte dieses Kind. Der Junge hob den Kopf – und da war es: sein eigenes Gesicht, viele Jahre jünger, viel verletzlicher. Die Schramme über der Braue, die Schüchternheit in der Haltung, der zittrige Trotz im Mundwinkel. „Bist du … ich?“, fragte Jakob.

Der Junge nickte kaum merklich. Seine Stimme war ein hauchdünner Faden. „Ich bin die Stunde, die du verloren hast.“ Jakob sank auf die Knie. Die Dunkelheit um sie herum vibrierte, als lausche sie einem uralten Gesetz, das hier wieder Gültigkeit erlangte.

„Ich habe dich nicht vergessen“, flüsterte er. „Doch“, antwortete der Junge. „Du hast mich weggeschoben, als du dachtest, stark sein zu müssen.“ Jacobs Atem bebte. Die Wahrheit traf nicht wie ein Schlag – eher wie ein sanfter, aber unnachgiebiger Griff, der einen zurück in den eigenen Namen zieht. „Was ist damals passiert?“, fragte er. Der Junge sah ihn an, und plötzlich flammte die Dunkelheit auf. Wie ein Spiegel öffnete sie sich, und die Szene erschien vor ihnen: Die Treppe. Die Rute. Der Schreck. Der Fall. Der Schmerz hinter der Stirn, der für einen

Moment die ganze Welt zu einem einzigen, kalten Licht zusammenzog. Die Angst. Die Scham. Das Gefühl, klein und schuldig zu sein – obwohl er gar nichts getan hatte. Jakob schluckte hart. „Ich erinnere mich.“ „Aber du hast mich zurückgelassen“, sagte der Junge. „Du hast getan, als wäre es vorbei. Als müsste ich schweigend hier bleiben.“ Eine Stille breitete sich aus, schwerer als Schnee. Jakob legte vorsichtig die Laterne zur Seite. Dann streckte er die Arme aus.

„Komm.“ Der Junge zögerte. Jahre von Verdrängung standen zwischen ihnen wie unsichtbare Mauern. Doch dann kroch er langsam näher, wie jemand, der zum ersten Mal wieder Vertrauen wagt. Als Jakob ihn berührte, fühlte er nicht die Kälte von Erinnerung – sondern Wärme. Eine Wärme, die aus einem tieferliegenden Mut stieg, der schon immer da war. Der Junge legte den Kopf an Jakobs Schulter. Und die verlorene Stunde – jene Stunde der Angst, der Demütigung, des inneren Schweigens – begann, sich zu lösen. Das Dunkel um sie herum flackerte.

Die Schatten wurden zu Funken. Die Funken zu Lichtstreifen. „Was geschieht mit dir?“, fragte Jakob voller Sorge. Der Junge lächelte schwach. „Ich kehre zurück. Ich gehöre zu dir. Ich war nur verloren, weil du mich vergessen wolltest.“ Das Licht wurde heller, wärmender, fast golden – als ströme ein Sonnenaufgang durch eine Welt, die keinen Morgen kannte. „Kannst du bleiben?“, flüsterte Jakob. Der Junge berührte seine Brust, genau dort, wo die gläserne Scherbe des Muts vibrierte. „Ich bin schon hier.“

Und dann löste er sich auf – nicht in Nebel, nicht in Schatten, sondern in ein leises, warmes Pulsieren, das in Jakob hineinsank wie ein neuer Herzschlag. Die verlorene Stunde fand ihren Platz. Die Dunkelheit zog sich zurück. Der Riss im Eis erschien erneut. Und als Jakob hindurchtrat, hörte er wieder den Atem des Winters – wach, alt, aufmerksam.

Die drei Rauhnachtwesen standen am Brückenrand und neigten ihre pelzverhangenen Köpfe. „Du hast es geschafft“, sagte die erste. „Du hast gefunden, was verloren war“, flüsterte die zweite. „Und deshalb beginnt nun etwas Neues“,

raunte die dritte. Der Frost kribbelte wie warme Funken in Jacobs Brust. Etwas Neues. Etwas, das im Winter geboren werden musste. Etwas, das auf ihn wartete. Oben am Himmel löste sich eine Sternschnuppe aus der Finsternis – langsam, feierlich, als hätte sie Zeit genug für einen ganzen Winter. Und Jakob wusste: Dies war erst der Anfang.

Die Berge lagen wie schlafende Riesen im ersten Winterhauch, doch in ihren Schluchten rührte sich längst etwas.

Nicht laut – niemals laut –, sondern in einem Rhythmus, der älter war als Glockenläuten, Gebete oder Geschichten. Ein pulsierendes Beben, kaum hörbar, jedoch durch Mark und Erinnerung dringlich wie ein Herzschlag. Niklos hob als Erster den Kopf.

Seine Hörner warfen fahle Reflexe in das blasse Mondlicht, und seine Kette – ein schweres, verwittertes Erbstück – vibrierte in seinem Griff. Nicht aus Zorn. Nicht aus Nervosität. Sondern aus Vorfreude. Denn der Ruf des Winters, dieser geheime Klang, den nur die alten Wesen verstehen, war endlich wieder hörbar. „Es beginnt“, murmelte er, und selbst der

Wald schien daraufhin den Atem anzuhalten. Neben ihm richtete Piet sich auf. Seine Augen glühten kurz unter der Fellmähne, als er das Tal betrachtete, in dem die Menschen schliefen. „Diesmal wird es anders“, sagte er. Nicht drohend, nicht gierig – eher nachdenklich, fast wehmütig. „Die Welt riecht nach Dingen, die sie lange vergessen hat.“ Klas schnaubte ein Lachen. „Nach Angst? Nach Schuld?“ „Nach beidem“, antwortete Piet. „Und nach Hoffnung. Eine gefährliche Mischung.“ Bartl stand noch im Schatten, die Arme verschränkt, als müsse er alles in sich

hineinhören, bevor er sprach. Er war der Stille verpflichtet, dem Ungesagten, jenen Fäden zwischen den Jahren, die nur im Winter sichtbar wurden. „Der Winter ruft uns nicht ohne Grund“, sagte er leise. „Dieses Mal sind wir nicht nur Richter… sondern Zeugen.“

„Zeugen wovon?“ Bartl lächelte dünn. „Davon, dass die Welt gelernt hat. Oder verlernt.“ Ein Windstoss huschte durch das Unterholz und trug den Duft der Stadt mit sich: Kerzenrauch, unausgesprochene Wünsche, hastig versteckte Fehler, flackernde Sehnsucht – all das verwoben zu einem einzigen Winterhauch, den die Krampusse tranken wie andere Wesen

den ersten Schnee. „Wir gehen in der letzten Nacht“, entschied Niklos. „Wenn der Schnee fällt.“ „Wenn er fällt“, korrigierte Klas und blickte misstrauisch zum Himmel. Denn seit Wochen blieb er aus, als hielte der Winter etwas zurück. Der Mond senkte sich langsam hinter die Zacken der Berge, und für einen Herzschlag lang schien die Welt still in einem Zwischenraum zu hängen – zwischen Erwartung und Erfüllung, zwischen Licht und Dunkel. „Komm“, sagte Piet. „Wir sollten beobachten. Vieles bewegt sich in dieser Stadt, ohne dass ein Fußschritt dazu

nötig wäre.“ Und so machten sich die vier auf den Weg – nicht hinunter, noch nicht. Sondern höher hinauf, in die Wälder, in denen die Schatten dichter wurden, und in denen der Winter seine ersten Worte formte.

Vor ihnen lag die Stadt. Unter ihnen der Atem der Nächte. In ihnen ein Ruf, der jedes Jahr wiederkehrt – aber niemals gleich klingt. Und irgendwo dort unten, nichtsahnend und doch bereits gezeichnet, schlief ein Nachtwächter, der bald mehr sehen würde als nur die Gassen seiner Stadt.



Der Nachtwächter hieß längst niemanden mehr willkommen, nicht einmal die Stunden, die er hüten sollte. Er ging seine Runde, wie man einen alten Fluch trägt: schweigend, mit gesenktem Blick, den Mantel wie eine zweite, schwerere Haut um die Schultern gelegt. Die Stadt war still – nicht die gewöhnliche Stille einer Winternacht, sondern jene, die sich anfühlte wie ein Atem, der zurückgehalten wurde. Ein Schweigen, das prüfte, ob es schon zuschlagen sollte. Als er die Brücke betrat, blieb er stehen. Der gefrorene Fluss darunter war milchig wie ein blindes Auge, und im Licht der Laterne schien es manchmal, als bewege

sich etwas unter dem Eis. Kein Fisch, kein Schatten, sondern ein Wispern, das man sehen konnte, bevor man es hörte. Er spürte es im Brustkorb, ein leises Ziehen, als erinnerte sich etwas in ihm an eine Hand, die ihn einst gepackt hatte – rau, kalt, gnadenlos. Die Erinnerung kam nicht als Bild, sondern als Schmerz, der die Rippen berührte wie ein alter Freund. Er hob die Laterne. Das Licht flackerte. Dann neigte es sich – als würde jemand hineinblasen. „Nicht heute“, murmelte er, obwohl niemand zu hören war. Doch da war es wieder. Ein Geräusch.

Kein Schritt, kein Rascheln, sondern etwas Tieferes. Ein Laut, den man nicht mit den Ohren hörte, sondern mit der Haut. Der Wind strich über die Brücke, trug feine Körner Reif mit sich, die über das Geländer rieselten wie Asche. Und im feinen, klirrenden Klingen dieses Reifs glaubte er eine Stimme zu hören. Oder mehrere. Er drehte sich um. Niemand. Doch er spürte etwas – ein Gewicht in der Luft, ein Blick, der nicht von Menschen stammte. Er kannte diese Empfindung. Er hatte sie seit drei Jahrzehnten vergessen wollen und nie

ganz geschafft. Ein Zittern fuhr durch die Steine unter seinen Füßen. Dann sah er sie.

Vier Schatten am Ende der Gasse. Schwer. Geduldig. Sicher. Die Laterne flackerte erneut, fast ehrfürchtig. Der Nachtwächter schloss die Augen, nur einen Herzschlag lang. Und als er sie wieder öffnete, wusste er, dass die Nacht begonnen hatte. Nicht die gewöhnliche Nacht, sondern jene, von der die Alten sagten, sie gehöre niemandem – außer den Gestalten, die zwischen den Jahren wanderten. Er stand auf der Brücke, ein einzelner Mensch in einer viel zu großen, viel zu

alten Geschichte. Und irgendwo, tief im Nebel, bewegte sich einer der Schatten. Langsam. Unaufhaltsam. Der Winter atmete. Und er wusste: Er war nicht mehr allein. Die Gasse war eng, und der Nebel lag darin wie ein verschluckter Atem. Die vier Schatten bewegten sich nicht rasch – nein, ihre Schritte waren Bedacht, Erinnerung, Ritual. Jeder Laut, den sie machten, gehörte einer Zeit, die keine Uhr mehr maß. Der erste, Piet, hatte Schultern wie verschneite Felsbrocken. Seine Hörner trugen Frost, der im Licht der Laternen glomm wie kalte Glut. Klas folgte ihm, die Rute über den

Rücken gelegt, nicht drohend, nur wie ein Werkzeug, das er mitführen musste, weil die Welt es so verlangte. Bartl ging gebeugt, aber nicht aus Schwäche: Er neigte sich, als lausche er stets nach Spuren menschlicher Herzen. Und Niklos, der Letzte, schritt, als sei er der Gedanke hinter allem – der stille Atem, der eine Nacht in Bewegung setzte. Sie traten in die Stadt, und die Häuser schienen sich ein Stück enger aneinander zu schmiegen, als wollten sie sich gegenseitig schützen. „Er hat uns gehört“, sagte Bartl, und seine Stimme war ein kaum merkliches Schaben, das im Frost gefror.

„Er hat uns immer gehört“, erwiderte Piet. „Er ist nur älter geworden.“ Niklos blieb stehen, sah auf ein Fenster, hinter dessen Scheibe ein Kind schlief – die Hände zu Fäusten geballt, als fürchte es Träume. „Menschen wachsen“, murmelte er. „Erinnerungen nicht.“ Der Nebel schloss sich hinter ihnen wie eine Tür. Kein Schritt hallte von den Mauern zurück. Kein Schatten hatte das Recht, ihnen zu widersprechen. Sie folgten dem unsichtbaren Faden, den nur sie sahen – dem Faden, der vom Herzen des Nachtwächters wie ein langer, alter Riss durch die Straßen führte.

„Er trägt noch, was wir ihm gaben“, sagte Klas und strich mit den Fingern über die Rute, als prüfe er, ob die Zeit ihre Schärfe genommen hatte. „Nicht alles, was man gibt, ist eine Last“, murmelte Niklos. „Aber manches bleibt“, antwortete Piet. Sie verharrten am Rand der Brücke. Der Nachtwächter stand dort, die Laterne in der Hand, der Nebel wie ein Mantel um seine Silhouette. Ein Windstoß erhob sich – kühl, aber neugierig. Er berührte die vier Gestalten, streifte ihre Hörner, ihre Felle, ihre schwarzen, müden Augen. „Er hat sich verändert“, sagte Bartl.

„Oder er ist endlich geworden, was er immer hätte sein können“, flüsterte Klas. Niklos nickte. „Dann sehen wir, ob die Nacht bereit ist.“ Und mit einem beinahe feierlichen Schritt traten sie auf die Brücke zu – nicht wie Jäger, nicht wie Gespenster, sondern wie Wesen, die wissen, dass die Zeit ihnen heute erlauben wird, eine alte Geschichte noch einmal zu berühren. Der Nachtwächter hob die Laterne, als wolle er ihnen entgegentreten. Die Krampusse hoben den Blick. Und zwischen ihnen, über der gefrorenen Welt, spannte sich für einen Atemzug die alte, unzerstörte Verbindung: Kindheit,

Furcht, Schuld – und etwas Neues, das aus der Dunkelheit wuchs wie ein warmes Licht.

Der Nachtwächter stand auf der Brücke, die Laterne wie ein Herzschlag in seiner Hand. Das Licht zitterte, doch seine Finger taten es nicht. Er wartete nicht auf Mut – er wartete nur auf Wahrheit. Die vier Krampusse hielten an. Kein Schritt trennte sie mehr von ihm, nur ein hauchdünner Schleier aus Atem und Erinnerung. Piet war der Erste, der sprach. „Du stehst aufrecht.“ Es war kein Lob. Es war Feststellung – wie ein Stein, der ins Eis gelegt wird und

nicht versinkt. Der Nachtwächter nickte, kaum sichtbar. „Es ist lange her,“ sagte er. „Aber ich erinnere mich.“ Bartl hob den Kopf – seine Augen schimmerten wie Tau auf dunklem Fell. „Erinnerungen sind wie Narben. Sie kommen nicht, weil man sie will.“ „Sondern weil man sie trägt,“ ergänzte Klas, die Rute locker in der Hand, als wäre sie nur noch ein Relikt, das er aus Gewohnheit hielt. Niklos trat einen Schritt näher. Sein Atem war ein leiser Nebelhauch, der den Raum zwischen ihnen mit etwas Fühlbarem füllte. „Wir sind nicht wegen deiner Narben

gekommen.“ Der Nachtwächter spürte, wie sich sein Herz zusammenzog – nicht vor Furcht, sondern vor dem alten Echo, das plötzlich wieder durch die Rippen vibrierte wie ein vergessener Ton. „Dann warum?“

Der Wind legte sich für einen Moment. Es klang, als lausche selbst die Nacht. Piet senkte langsam den Kopf, als schulde er diesem einen Menschen eine Erklärung, die sonst keinem zuteilwurde. „Weil du der Einzige warst, der uns sah. Nicht nur als Schatten, nicht nur als Drohung.“ Bartl trat zur Seite, damit das Licht der Laterne sein Gesicht streifte:

Es war alt. Tiefer als Zeit, weicher als Furcht.

„Du hast uns nicht verflucht. Du hast uns verstanden.“ Der Nachtwächter atmete tief. Der Frost schmeckte nach früher, nach jener Nacht, in der er rannte, fiel, blutete, und dennoch zurückblickte, obwohl jedes Kind gelernt hatte, es nicht zu tun. „Ich war ein Kind“, sagte er rau. „Was wusste ich schon?“ Niklos schüttelte langsam den Kopf. „Kinder sehen am klarsten. Erwachsene lernen, wegzusehen.“ Klas lächelte ein wenig – ein Lächeln, tief wie eine Kerbe im Holz.

„Aber du hast nicht weggesehen. Nicht damals. Und nicht heute.“ Der Nachtwächter hob die Laterne. Das Licht fiel auf ihre Hörner, ihre Felle, ihre Schatten – und in diesem Licht wirkten sie nicht wie Jäger aus Albträumen, sondern wie alte Wintergötter, die die Welt ein wenig tiefer atmen ließen. „Was wollt ihr von mir?“ fragte er. Piet blickte über die Brücke, hinunter zum gefrorenen Fluss. „Wir wollen sehen, was aus dir geworden ist.“ Bartl nickte. „Und was aus uns geworden ist – in deinen Augen.“

Ein Schweigen breitete sich aus, dicht wie der Nebel. Nicht feindlich. Nicht leer. Ein Schweigen, das etwas in sich trug: Eine Bitte, die sich nicht zu sagen traute. Eine Wahrheit, die nicht in Worte passen wollte. Eine Brücke – keine aus Stein, sondern aus Zeit. Der Nachtwächter senkte endlich die Laterne. „Dann seht.“ Die Flamme brannte ruhig. Der Wind schwieg. Und die vier Krampusse traten näher – nicht als Albträume, sondern als die

Hüter eines Winters, der heute einen anderen Sinn suchte.

Die Krampusse standen um ihn wie vier Jahreszeiten desselben Winters, jede mit einem eigenen Atem, einem eigenen Gewicht. Und doch bewegten sie sich im Gleichklang – als hätte die Nacht selbst ihre Schritte geordnet. Sie betrachteten den Nachtwächter. Doch mehr noch: Sie betrachteten die Jahre, die zwischen ihnen lagen. Piet war der Erste, der sprach. Seine Stimme war tief wie ein ferner Donner, der nur noch als Erinnerung durch die Täler rollt. „Du hast dich verändert,“ sagte er

langsam. „Nicht in der Art, wie Menschen altern. Sondern in der Art, wie Menschen heilen.“ Klas trat ein wenig zur Seite, sodass die Laterne ihn streifte. Ihr flackerndes Licht malte Rinnen über seine Hörner, als hätte die Zeit selbst Kerben hineingeschnitzt. „Wir kamen, weil wir glaubten, du würdest uns noch fürchten. Aber Furcht ist etwas, das man nährt – und du hast sie verhungern lassen.“ Bartl beugte sich vor, schnupperte fast, als suche er nach Spuren in der Luft. „Die alten Nächte kleben noch an dir. Sie haben ihre Kratzer hinterlassen. Doch sie

sind nicht mehr die Hände, die dich halten.“ Niklos betrachtete ihn lange.

Er sprach erst, als selbst der Wind sich zurückzog, um zu lauschen. „Du hast uns nicht nur überlebt,“ flüsterte er. „Du hast uns verstanden. Unsere Schatten waren damals größer als du. Heute sind sie nur noch Schatten – und du bist der, der das Licht trägt.“ Ein leiser, fast unmerklicher Strom ging durch die vier. Kein Triumph. Kein Bedauern. Nur ein stilles, uraltes Anerkennen. „Es gibt nicht viele,“ sagte Piet, „die uns

in dieser Weise begegnen können. Die das Dunkle nicht hassen und das Helle nicht verklären.“

Klas nickte. „Das Kind, das du warst, ist noch da. Aber es ist nicht mehr wehrlos.“ Der Nachtwächter regte sich nicht; sein Atem war ruhig, seine Hände fest. Niklos senkte die Stirn, als er einen bitteren Gedanken schmeckte. „Wir haben dich damals gejagt,“ sagte er mit rauem Bedauern. „Und doch bist du heute der Einzige, der uns noch sieht.“ Der Nebel um sie schloss sich dichter, wie ein Mantel, der sie alle umfing. „Dies ist die Wahrheit unserer Wiederkehr,“ murmelte Bartl.

„Nicht Rache. Nicht Prüfung. Erinnerung. Und das, was aus Erinnerung wächst.“

Sie schwiegen alle. Ein Schweigen wie eine Brücke – alt, unzerstört, widerstandsfähig. Dann hob Piet den Kopf. „Nun soll er sprechen. Damit wir wissen, was er sieht.“ Und die vier richteten ihren Blick auf den Nachtwächter, erwartungsvoll wie Wesen, die seit Jahren auf eine Antwort gewartet haben, die kein Kind hätte geben können – aber ein Mann vielleicht doch. Der Nachtwächter stand da, die Laterne wie ein Herz in der Hand, und sah die

vier Krampusse an. Ihr Gewicht war nicht körperlich – es war uralt, geformt aus Frost und Schuld, aus Angst und Erinnerung. Alles, was sie trugen, spiegelte sich in seinen Augen, und doch sah er mehr: Er sah sich selbst, wie er geworden war, nachdem die Schatten ihn verlassen hatten. Er spürte das Zittern in seiner Brust. Nicht Furcht – etwas anderes. Ein altes Echo, das ihn rief, aus einer Zeit, in der er klein, verloren, verletzlich gewesen war. Ein Teil von ihm wollte den Kopf senken, die Schultern krümmen, wie damals. Ein anderer Teil wollte stehen bleiben, länger, fester, und zulassen, dass die Wahrheit ihn traf.

„Ihr…“ Seine Stimme war rau, fast brüchig. „Ihr seid zurückgekehrt.“ Niklos nickte nur, still. Piet hob leicht die Hand, nicht drohend, sondern wie eine Geste der Anerkennung. „Ich…“ Er schluckte. „Ich dachte, ich hätte alles hinter mir gelassen. Dass… dass die Angst, die ihr gebracht habt, mich nicht mehr erreicht.“ Bartl neigte den Kopf. „Angst verlässt einen nicht so leicht. Sie bleibt wie Frost auf den Fenstern, bis man ihn abwischt.“

„Aber ihr…“ Jakob spürte, wie die Worte schwer wurden, wie Schnee, der sich auf ein Dach legt und lange liegen bleibt. „Ihr seid nicht gekommen, um zu bestrafen. Nicht wirklich.“

„Wir sind gekommen, um zu sehen,“ sagte Piet. „Zu sehen, was aus dem Kind geworden ist, das wir einst jagten.“ Jakob atmete tief. Er spürte den Frost in den Knochen, aber auch ein warmes Ziehen in der Brust. Die Erinnerung an die Stürze, die Schrammen, die Kälte – sie waren da, aber sie ängstigten ihn nicht mehr. „Ich erinnere mich an alles,“ flüsterte er. „Die Treppe, die Rute, die Angst. Aber sie brennt nicht mehr in mir. Sie… lehrt mich.“ Klas legte die Rute nieder, nicht als Zeichen des Loslassens, sondern als Anerkennung. „Das Kind lebt noch in dir. Aber es ist stärker geworden.“

Niklos trat einen Schritt vor. „Du hast nicht vergessen. Du hast überlebt. Und mehr: Du hast verstanden. Das ist selten.“ Jakob senkte die Laterne und spürte, wie etwas in ihm nachgab. Eine Last fiel nicht ab – sie verwandelte sich. Die Schatten der Vergangenheit wurden zu einem leisen Licht, das in seinem Herzen flackerte. „Dann… seid ihr zufrieden?“ fragte er. Bartl lächelte schwach. „Es ist keine Frage von Zufriedenheit. Es ist die Erinnerung, die sich erfüllt hat. Wir sehen, was wir damals säten – und erkennen, dass es nun gewachsen ist.“ Ein Schweigen legte sich über die

Brücke. Nicht bedrohlich, nicht leer – ein Schweigen voller Anerkennung. Und in diesem Schweigen erkannte Jakob, dass er nicht mehr das Kind war, das davongelaufen war. Dass er nicht mehr nur ein Hüter der Straßen war, sondern ein Träger der Erinnerungen, ein Zeuge des Winters, der Schatten und des Lichts zugleich. Die Krampusse verbeugten sich leicht, nicht wie Sieger, sondern wie Wächter einer Wahrheit, die älter war als jedes Jahr. Dann wandten sie sich ab, glitten durch den Nebel, und ließen ihn stehen – allein, ja, aber nicht verlassen. Der Winter atmete um ihn, stark, klar, aufmerksam. Und Jakob wusste, dass die

Nacht, die Jahre, die Schatten – sie alle jetzt ein Teil von ihm waren. Ein Teil, der niemals wieder schweigen würde.

Die Tage verrannen langsam, als ob selbst die Zeit einen tiefen Atemzug nahm. Die Straßen waren noch still, die Häuser wie in Watte gehüllt, und der Winter legte eine bleiche Decke über alles, was noch atmete. Doch in den Schatten regte sich etwas, das Jakob längst gespürt hatte: eine Ahnung von Unruhe, ein Wispern, das durch die Gassen kroch wie feiner Rauch. Es begann in den frühen Nächten. Zuerst nur als Geräusch: Schritte, die nicht von Menschen kamen. Türen, die sich ohne

Wind bewegten. Ein Hauch von Kälte, der von innen in die Häuser drang und die Kerzen zum Flackern brachte. Dann kamen die Zeichen: Federn, schwarz wie die Nacht, lagen auf den Fensterbänken, unberührt vom Schnee. Eisblumen wuchsen dort, wo man sie nicht erwartet hätte – auf den Spiegeln, auf den Türen, sogar auf dem flachen Wasser der Brunnen. Und in jeder Bewegung, jedem Schatten schien etwas zu lauschen, zu prüfen, wer bereit war, die Jahre zu erkennen, und wer sie verbergen wollte. Jakob spürte die Veränderung stärker als andere. Er wusste, dass die Krampusse

nur ein Vorgeschmack gewesen waren – Wächter der Erinnerung, wie sie es nannten. Die Rauhnächte selbst, die alten Nächte zwischen den Jahren, traten nun aus dem Nebel der Vorboten. Sie waren nicht sichtbar, nicht greifbar, und doch spürte man ihre Präsenz: ein Knistern in der Luft, ein Flüstern, das von Dächern und Mauern widerhallte, als würden unsichtbare Stimmen über das Leben wachen. „Sie kommen“, murmelte Jakob zu sich selbst, als er die Laterne über den Hof hob. Die Luft vibrierte leicht, und der Nebel drehte sich wie ein Schleier um ihn herum. Es war, als würde die Welt den

Atem anhalten. Und dann sah er es: ein Licht, das nicht von Laternen stammte. Kein Feuer, kein Glanz der Straßen. Ein schwaches, pulsierendes Leuchten, das von den höchsten Dachfirsten ausging, sich über die Gassen legte und alles berührte – als ob der Winter selbst eine Botschaft senden wollte. Die Stimme des Windes, rauh und alt, flüsterte etwas in sein Ohr, das er verstand, ohne dass Worte es erklärten: „Bereite dich vor. Die Nächte, die nicht gezählt werden, haben begonnen. Sie tragen Altes und Unerledigtes, und nur wer den Mut hält, wird sehen, was sie offenbaren.“ Jakob ließ die Laterne sinken. Sein Herz

schlug schneller, aber es war kein Zagen, kein Schaudern. Es war die Erwartung – die ehrfürchtige Spannung, die alles Alte und Neue miteinander verband. Und während der Frost die Stadt umschloss, wusste er: Die Rauhnächte hatten begonnen. Und mit ihnen würden Schatten, Geheimnisse und alte Erinnerungen zurückkehren – nicht, um zu quälen, sondern um zu lehren. Die Welt unter dem Winter war still – doch die Nacht war wach.

Die Nacht war tief und klar, und der Frost legte ein silbernes Netz über die Dächer. Jakob ging langsam die Gasse entlang, die Laterne in der Hand, deren

Licht kaum mehr war als ein flackernder Gedanke. Jeder Atemzug war sichtbar, ein weißer Schleier, der sich vor ihm verlor. Und dann spürte er es – bevor er es sah: ein kaltes Ziehen im Nacken, ein leiser Hauch, der nicht vom Wind kam. Es war wie ein Finger, der über alte Narben strich, etwas, das ihn erinnerte, aber auch warnte. Er blieb stehen. Aus dem Nebel vor ihm formte sich etwas. Zuerst nur ein Schatten, der sich wie Rauch bewegte. Dann wuchs es, nahm Gestalt an: ein Geist, schmal und hoch, der in einer leisen, frostigen Aura gehüllt war.

Sein Gesicht war nur angedeutet, eine Maske aus Nebel und Licht, aber die Augen – die Augen leuchteten blass wie gefrorene Monde. „Wer… bist du?“ fragte Jakob, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Ich bin ein Wächter der Stunden, die ihr Menschen vergesst,“ antwortete der Geist, seine Stimme ein Wispern, das die Wände der Gasse vibrieren ließ. „Die Stunden zwischen den Jahren, die Momente, die ihr nicht zählt, die Schatten, die ihr übersieht.“ Jakob spürte, wie sich seine Brust verengte, nicht aus Angst, sondern aus Erkennen. Etwas in ihm wusste sofort, dass dies wahr war: dass diese Gestalt

kein Feind, aber auch kein Freund im herkömmlichen Sinn war.

„Warum erscheinst du mir?“ fragte er. „Warum jetzt?“ Der Geist bewegte sich näher, fast lautlos, und sein Atem legte sich wie feiner Reif über Jakobs Schultern. „Weil du sehen kannst. Weil du dich erinnerst. Und weil du bereit bist, das Vergangene anzunehmen, ohne dich zu fürchten.“ Jakob senkte die Laterne, sein Herz schlug schneller. „Die Krampusse… sie waren ein Vorgeschmack.“ „Ja,“ flüsterte der Geist. „Sie zeigten dir, dass Schatten nicht nur zerstören. Sie

lehren. Sie führen. Sie prüfen.“ Für einen Moment war die Gasse still.

Der Schnee knirschte unter Jakobs Schuhen, der Frost funkelte im Laternenlicht, und die Luft schien dicker, schwerer, voller Erwartung. „Was muss ich tun?“ fragte Jakob. „Damit die Nächte nicht mich verschlingen?“ Der Geist lächelte – oder was man als Lächeln in einem Nebelgesicht erkennen konnte. „Du musst beobachten. Du musst zuhören. Du musst erkennen, dass jedes Wispern, jeder Schatten, jede Stunde, die verloren scheint, ein Stück Wahrheit trägt. Und du musst lernen, sie zu tragen

– ohne sie zu fürchten.“ Jakob nickte, langsam, als würde er die Worte in seine Knochen einprägen. „Ich… werde es versuchen.“ „Das genügt für die erste Nacht,“ sagte der Geist, und ein leichter Windstoß trug ihn davon, zurück in den Nebel, aus dem er gekommen war. Jakob blieb allein zurück, doch etwas in ihm war verändert: eine Wachsamkeit, die nicht aus Angst bestand, sondern aus Verstehen. Die Rauhnächte hatten begonnen – und er war bereit, ihre Lektionen zu empfangen. Der Winter atmete um ihn, und für den ersten Moment schien es, als lausche selbst die Zeit.

Die Nacht war tiefer geworden. Nebel kroch wie Rauch durch die Gassen, und der Atem des Winters war nicht länger nur Kälte – er war Erwartung, drückend und dicht. Jakob ging weiter, die Laterne hoch, deren Licht kaum mehr als ein Flackern war. Jeder Schritt knirschte im gefrorenen Schnee, jeder Atemzug schien länger, schwerer zu sein. Dann spürte er es: ein Zucken in der Luft, ein kaum hörbares Flüstern, das nicht aus den Häusern kam, sondern direkt aus der Zeit selbst.

Vor ihm formte sich eine Gestalt. Anders als der erste Geist – nicht schlank, nicht leise. Diese war mächtiger, breiter, wie

ein Baum, dessen Äste von Eis umhüllt waren. Sie bewegte sich langsam, als wäge jedes Glied, jedes Jahr und jede Erinnerung. Ihr Gesicht war verschwommen, nur angedeutet, doch die Augen glühten tief in einem blassen, blauen Licht. „Du gehst allein,“ sagte der Geist, seine Stimme tief wie knirschender Frost. „Die meisten Menschen fürchten, was sie nicht sehen. Du aber… du gehst und siehst dennoch.“ Jakob spürte ein Zittern in den Fingerspitzen, doch nicht aus Furcht – eher wie ein Schauer, der etwas Altes in ihm weckte. „Wer bist du?“ fragte er, seine Stimme

klar, obwohl sein Herz hämmerte. „Ich bin die Stunde der Prüfungen,“ antwortete der Geist. „Die Zeit, die verborgen ist, die alles in Frage stellt. Ich zeige, was ihr Menschen gerne übersieht: die Lügen, die ihr euch selbst erzählt, und die Schatten, die ihr verschließt.“ Jakob schluckte. „Und… warum erscheinst du mir?“ Der Geist schwebte näher, sein Atem wie Eiskristalle, die auf die Haut fallen. „Weil du noch lernen kannst, zuzuhören. Weil du die Schatten nicht nur tragen musst, sondern verstehen. Nur wer erkennt, kann die Rauhnächte bestehen.“ Er schloss für einen Moment die Augen,

spürte die Kälte, die in ihm aufstieg, und zugleich ein seltsames Licht, das sich hinter der Brust auszubreiten begann. „Was soll ich sehen?“ flüsterte er. „Alles, was ungesagt bleibt,“ antwortete der Geist. „Die Angst, die verschwiegen wird. Die Schuld, die sich vergräbt. Die Hoffnung, die niemand bemerkt. Wenn du bereit bist, wirst du alles erkennen – nicht mit den Augen, sondern mit dem Herzen.“ Jakob atmete tief. „Ich will es sehen. Ich will lernen.“ Der Geist neigte sich leicht, wie ein Baum im Wind, und verschwand dann wieder in dem Nebel, aus dem er gekommen war. Nur ein leichter Hauch

blieb, wie eine Berührung, die auf der Haut brannte, ohne Schmerz zu sein. Jakob stand allein in der Gasse. Die Laterne in der Hand, die Welt still, der Winter um ihn herum wie ein lebendiges Wesen. Er wusste nun: Die Rauhnächte hatten begonnen, und die Schatten, die er sah, waren nur der Anfang. Jede Stunde würde ihm etwas lehren – und jede Stunde würde ihn prüfen. Die Nacht war lang, der Frost dichter, und Jakob spürte, dass die Geschichten, die sich zwischen den Jahren webten, sich nun entfalten würden – düster, schön, unvergessen.

Die Nacht war schwarz wie gefrorenes Tintenwasser, und der Nebel hatte sich zu einer dichten Wand geformt, die jeden Schritt verschluckte. Jakob ging weiter, die Laterne vor sich, deren Licht kaum die nächsten Meter erhellte. Jeder Atemzug war sichtbar, jede Bewegung hallte nach wie ein Flüstern in der Zeit selbst. Dann spürte er es – nicht als Geräusch, sondern als Gewicht: etwas Schweres, das hinter ihm lag, als habe die Nacht selbst beschlossen, ihn zu prüfen. Er blieb stehen. Der Nebel bewegte sich, verdichtete sich, und vor ihm erschien der dritte Geist. Anders als die beiden

zuvor: nicht schlank, nicht mächtig wie ein Baum – dieser Geist schien selbst aus Schatten und Erinnerungen geformt. Sein Körper war nur angedeutet, und doch wirkte jede Kontur bedeutungsvoll. Die Augen glühten matt, wie tief im Frost gefangene Glut. „Du gehst weit in die Nacht, Mensch,“ sagte der Geist, seine Stimme ein leises Knistern, wie wenn Eis über alten Dielen bricht. „Du siehst, was andere nicht sehen. Und du trägst, was andere vergessen.“ Jakob spürte, wie etwas in ihm zitterte – keine Angst, sondern eine Erinnerung, tief vergraben: die Scham des Kindes, das davongelaufen war, die Furcht, die er

vergessen glaubte. „Wer bist du?“ fragte er leise. „Ich bin die Stunde, die zwischen gestern und morgen liegt,“ antwortete der Geist. „Ich bringe alles zurück, was du verschoben, verdrängt oder verleugnet hast. Ich zeige dir die Grenze zwischen dem, was war, und dem, was du sein könntest.“ Jakob atmete tief, seine Finger krampften sich um den Laternenstab. „Warum ich? Warum jetzt?“ Der Geist bewegte sich näher, und der Nebel wirbelte um sie wie ein Schleier. „Weil du bereit bist, dich selbst zu sehen. Nicht nur die Vergangenheit, sondern alles, was du geworden bist –

und alles, was du verpasst hast.“ Jakob spürte, wie die Zeit stillstand. Bilder flogen durch seinen Kopf: die Treppe, die Rute, die Krampusse, die Angst, die er gespürt hatte, und die Wärme, die er danach zu finden gelernt hatte. Alles vermischte sich, Vergangenheit und Gegenwart, Schuld und Mut, Schmerz und Erkenntnis. „Was soll ich tun?“ fragte er. „Erkennen. Akzeptieren. Und weitergehen,“ flüsterte der Geist. „Die Rauhnächte lehren nicht nur Furcht. Sie lehren, dass selbst in Schatten etwas lebt, das man tragen kann – und das, was getragen wird, verwandelt sich.“ Jakob nickte, als verinnerliche er jedes

Wort. „Ich will sehen, was ihr mir zeigen wollt.“ Der Geist neigte sich, fast ehrfürchtig, und löste sich langsam in Nebel auf, der sich wie Rauch über die Gassen legte. Ein kalter Hauch blieb auf Jakobs Wangen, doch in seiner Brust brannte ein kleines Licht – leise, aber stetig. Er war allein, doch anders als zuvor. Nicht mehr nur ein Hüter der Gassen. Nicht mehr nur ein Mensch, der der Vergangenheit entkommen wollte. Sondern jemand, der gelernt hatte, dass die Dunkelheit ebenso lehrte wie das Licht – und dass die Rauhnächte ihn formen würden, Nacht für Nacht, Stunde für Stunde.

Die Gasse war still, aber Jakob wusste: Die Nächte waren noch jung, die Schatten zahlreich, und jeder Atemzug würde ihn weiterführen – tiefer in den Winter, tiefer in die Geheimnisse, die nur die alten Nächte bewahren konnten.


Die Nacht war nun vollkommen. Keine Sterne mehr, nur Nebel, der sich wie Rauch über die Dächer der Stadt legte. Der Frost lag schwer, und Jakob fühlte, wie die Kälte sich bis in die Knochen fraß. Jeder Schritt war gedämpft, jeder Atemzug ein Laut, der kaum die Ohren erreichte – doch die Welt um ihn herum war alles andere als still. Dann erschien der vierte Geist. Anders

als die anderen: nicht aus Nebel, nicht aus Schatten, nicht aus frostigen Formen. Dieser Geist war körperlos und doch präsent, ein Hauch von Leben und Tod zugleich, ein Flüstern zwischen den Jahren. Seine Gestalt war undefinierbar, und doch wusste Jakob instinktiv, dass er vor ihm stand. Die Augen – wenn man sie so nennen konnte – schimmerten tief, als hätten sie alles gesehen, was je war und noch sein würde. „Du hast gelernt, zu sehen,“ sagte der Geist, seine Stimme wie das Rascheln alter Blätter, das Knirschen von Eis über vergessene Straßen. „Aber nun musst du verstehen, was du trägst.“ Jakob spürte das Gewicht der Worte wie

Frost auf der Haut. „Was trage ich?“ „Alles, was hinterlassen wurde. Alles, was du überlebt hast. Alles, was vergessen schien,“ antwortete der Geist. „Du trägst Erinnerung, Schuld, Angst – und zugleich Erkenntnis. Du trägst das Leben, das weitergeht, auch wenn die Schatten kommen.“ Er schwebte näher, und Jakob fühlte, wie die Luft sich verdichtete, als würde jede Sekunde dehnen und gleichzeitig zusammenziehen. „Ich weiß nicht, ob ich bereit bin,“ flüsterte er. „Bereit zu sein bedeutet nicht, keine Angst zu haben,“ sagte der Geist. „Bereit zu sein bedeutet, zu akzeptieren, dass die Schatten ebenso Teil des Weges sind wie

das Licht. Dass Vergangenheit und Gegenwart ineinanderfließen, wie Schnee und Frost. Dass alles, was du fürchtest, gleichzeitig etwas ist, das dich schützt.“

Jakob senkte die Laterne, und das Licht fiel auf die Gasse, auf die Häuser, auf den gefrorenen Fluss. Er sah die Reflexionen, das zerbrochene Licht, die Spuren, die der Wind hinterlassen hatte. Alles wirkte gleichzeitig fremd und vertraut. „Und was soll ich jetzt tun?“ fragte er leise. „Beobachten, lernen, weitergehen,“ antwortete der Geist. „Die Rauhnächte lehren nicht nur die Vergangenheit. Sie lehren, dass jedes Ende auch ein Anfang

ist. Dass jede Erinnerung, jeder Schatten, jede Stunde, die verloren scheint, eine Brücke ist.“ Jakob nickte langsam. Er fühlte, wie sich etwas in ihm veränderte: ein Frieden, nicht völlige Ruhe, sondern die stille Akzeptanz der Welt, wie sie war. Die Rauhnächte hatten ihn nicht gebrochen. Sie hatten ihn gelehrt, zu tragen, was er einst fürchtete. Der Geist löste sich im Nebel auf, doch die Präsenz blieb. Eine Wärme unter der Kälte, ein Licht im Schatten. Jakob stand allein, aber nicht mehr verloren. Die vier Geister der Rauhnächte hatten ihm gezeigt, dass die Dunkelheit ebenso lehrte wie das Licht – und dass er nun

bereit war, weiterzugehen, Nacht für Nacht, Jahr für Jahr. Die Stadt schlief, doch die alte Welt hinter den Gassen war wach. Und Jakob wusste, dass er nie mehr derselbe sein würde.


Die Luft war schwer von Eis und Schweigen. Jakob spürte, wie die Nacht ihn umschloss, dichter und dunkler als zuvor. Die Schneedecke unter seinen Füßen knirschte leise, jede Bewegung ein leiser Trommelschlag in der Stille, die über der Stadt lag. Die vier Geister waren nicht sichtbar, und doch wusste er, dass sie da waren – jeder Schritt, jeder Atemzug, jedes

Flackern der Laterne trug ihre Erinnerung. Die letzte Rauhnacht hatte begonnen, und sie war anders: keine Vorboten mehr, keine leisen Warnungen. Sie war vollendet, wie ein Kreis, der sich schließt, und zugleich unendlich, wie die Kälte, die sich durch die Knochen zieht. Er blieb auf der Brücke stehen, die Laterne in der Hand. Der gefrorene Fluss glitzerte wie zersplittertes Glas. Die Schatten der Stadt wirkten lebendig, als hielten sie Atem, warteten auf etwas, das nur Jakob verstehen konnte. Dann spürte er es: eine Präsenz, die alle vorherigen übertraf. Kein Hauch, kein Wispern, sondern eine Wahrheit, die sich wie Eiswasser über die Haut legte. Er

wusste, dass dies der Moment war – die Stunde, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich überlagerten. „Du bist angekommen,“ sagte eine Stimme, die wie vier zugleich klang – Piet, Klas, Bartl, Niklos – und doch mehr war als sie. Es war die Stimme des Winters, der Nacht, der Zeit selbst. Jakob nickte, seine Augen glänzten im Laternenlicht. „Ich habe gesehen. Ich habe gelernt.“ „Und getragen?“ fragte die Stimme. „Hast du getragen, was du fürchten musstest?“ „Ja,“ antwortete er. „Und es hat mich nicht gebrochen. Es hat mich verändert.“ Ein Windstoß wirbelte durch die Gassen,

riss den Nebel in Spiralen und trug ihn davon. Die Stadt schien zu atmen, als erkenne sie, dass die Nacht vollendet war. Und dann traten sie aus dem Nebel – die vier Krampusse. Nicht als Jäger, nicht als Schatten. Sondern als Zeugen, Wächter, Freunde einer Wahrheit, die nur wenige Menschen erfassen. Ihre Gestalten waren schwer vom Atem der Zeit, doch leichter als die Erinnerung selbst. „Du bist nicht mehr das Kind, das wir kannten,“ sagte Piet. „Aber du trägst noch, was wir dir gaben.“ „Nicht nur getragen,“ ergänzte Bartl. „Du hast verstanden. Du hast

verwandelt.“ Jakob senkte die Laterne, spürte die Kälte, doch auch das Licht in seiner Brust. „Dann ist die Nacht zu Ende?“ „Nicht zu Ende,“ sagte Niklos leise. „Sie hat begonnen – als Teil von dir. Alles, was die Rauhnächte lehren, wird dich begleiten. Jede Schattenstunde, jedes Flüstern, jede Erinnerung.“ Der Wind legte sich, der Nebel glitt wie Wasser durch die Gassen. Jakob war allein auf der Brücke, doch er fühlte keine Einsamkeit. Er war gewachsen, geformt von den Geistern, von der Erinnerung, von der Kälte und vom Licht. Die Stadt war still, aber nicht tot.

Der Winter war dunkel, aber nicht leer. Und Jakob wusste: Wer die letzte Rauhnacht übersteht, trägt nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Kraft, das Dunkel zu verstehen, ohne sich zu fürchten. Die Gassen lagen friedlich im Frost. Die Laterne in seiner Hand brannte ruhig. Und Jakob ging weiter, Schritt für Schritt, Herz für Herz, durch eine Welt, die jetzt zugleich vertraut und geheimnisvoll war – eine Welt, in der Schatten und Licht für immer verbunden waren Die Stadt lag still unter einer Decke aus Schnee, der wie Glas glitzerte. Kein

Wind regte sich, kein Laut drang durch die Gassen – und doch war die Luft erfüllt von etwas Unsichtbarem: Erinnerung, Atem, alte Geschichten, die noch atmeten. Jakob stand auf der Brücke, die Laterne in der Hand. Ihr Licht flackerte leise, als wolle es mit der Kälte sprechen, als wolle es die Schatten zähmen, die immer noch zwischen den Häusern lauerten. Er fühlte die Erinnerung an die Krampusse, die Geister, die Nächte, die Lektionen – und wusste, dass alles, was er durchlebt hatte, in ihm lebte, wie ein leises Feuer, das niemals erlischt. Der Frost umschloss ihn, doch er fürchtete sich nicht. Die Dunkelheit war

nicht mehr Bedrohung, sondern Spiegel. Die Schatten waren nicht länger Albtraum, sondern Lehrer. Alles, was er einst gefürchtet hatte, trug nun Weisheit in sich. Die Rauhnächte waren vorbei – und zugleich niemals wirklich vorbei. Sie lebten weiter, unsichtbar, zwischen den Jahren, in jeder Schneeflocke, in jedem Windhauch, in jeder Stunde, die man zu übersehen glaubte. Jakob atmete tief. Die Laterne glomm ruhig in seiner Hand. Das Licht fiel auf die gefrorene Stadt, auf die Dächer, die Gassen, die stillen Fenster. Und in diesem Licht erkannte er, dass die Dunkelheit nicht besiegt werden musste,

um Schönheit zu zeigen. Dass Angst nicht zerstören musste, um zu lehren. Ein Funke, klein und hell, glomm in seinem Herzen. Ein Funke, der die Erinnerungen trug, die Schatten, die Zeit – und alles, was er geworden war. Und so ging er weiter, Schritt für Schritt, durch die Stille des Winters. Nicht mehr nur als Hüter der Gassen, sondern als Träger des Lichts im Frost. Die Nacht war dunkel. Der Winter war still. Und irgendwo zwischen Schnee und Nebel, zwischen Erinnerung und Gegenwart, leuchtete das kleine, unzerstörbare Licht weiter.

Titel


1. Die Wahrheit der eigenen Schatten erkennen Die Rauhnächte zeigen, dass jeder Mensch Teile in sich trägt, die er sonst ignoriert: Schuld, Angst, alte Wunden. Sie lehren, dass diese Schatten nicht wegzumachen sind, sondern erkannt und getragen werden müssen. Nur wer die eigene Dunkelheit kennt, kann wirklich frei handeln. 2. Erinnerung als

Kraft Vergangenes wird nicht nur gezeigt, um zu quälen, sondern um zu lehren. Die Rauhnächte erinnern uns an ungesagte Worte, verpasste Chancen, alte Verletzungen – und daran, dass alles, was wir erlebt haben, uns formt. Aus Erinnerung erwächst Weisheit. 3. Die Kunst des Loslassens Sie lehren, dass nicht alles gehalten werden kann: alte Ängste, vergangene Schuld, unnötige Sorgen. Wer loslässt, schafft Platz für Neues – wie der Winter, der die Bäume kahllegt, bevor neues

Leben sprießt. 4. Geduld und Wachsamkeit Die Rauhnächte lehren, dass Zeit nicht linear ist. Sie zeigen, dass jede Stunde Bedeutung hat, dass man beobachten, zuhören und warten muss. Geduld ist eine Form von Stärke, Wachsamkeit eine Form von Klarheit. 5. Verbundenheit von Leben und Tod, Licht und Schatten Sie machen bewusst, dass alles miteinander verbunden ist: Freude und Schmerz, Licht und Dunkelheit, Geburt

und Sterben. Wer dies versteht, erkennt die Tiefe des Lebens – auch in Momenten des Verlusts oder der Angst. 6. Die Kraft der Stille und des Innehaltens In der Hektik des Lebens übersehen wir oft das Wesentliche. Die Rauhnächte lehren, dass Stille lehrt, dass Atem und Nebel, Frost und Nacht uns Klarheit bringen. Im Stillen kann man sehen, was in der Dunkelheit verborgen liegt. 7. Mut zur Transformation Am Ende lehren sie, dass alles, was wir

erfahren, in uns transformiert werden kann. Angst kann Mut werden, Schuld kann Einsicht, Dunkelheit kann Licht tragen. Wer diese Lektionen akzeptiert, geht verändert aus den Rauhnächten hervor.

Die sieben Wahrheiten über die Raunacht

Die Sieben Nächte des Alten Hauses

Es begann damit, dass die Dörfler sagten: Das alte Haus am Ende des Pfades brenne wieder Licht. Seit drei Wintern stand es leer. Seit drei Wintern hatten sie sich gemieden – die knarrenden Stufen, die Fenster ohne Vorhänge, die Tür, die immer ein Stück offen schien, auch wenn niemand sie geöffnet hatte. Doch in der ersten Rauhnacht flackerte ein warmer Schimmer hinter den

Scheiben. Niemand wusste, wer dort eingezogen war. Manche meinten, es seien Wanderer. Andere tuschelten von alten Seelen. Nur eines war sicher: Jede Nacht erzählte das Haus eine Geschichte. Und wer Mut genug hatte, sich in den Hof zu stellen und einfach zu lauschen, der hörte sie – sieben Nächte lang. 1. Nacht – Der Schatten im Fenster (Die Wahrheit der eigenen Schatten) In dieser Nacht sah man im oberen Fenster zwei Gestalten stehen: eine Frau und ihr dunkler

Spiegel. Ein Wispern ging durchs Dorf, als hätte jemand endlich seinen Mut zusammengesucht, der eigenen Wahrheit ins Gesicht zu sehen.

In der ersten Rauhnacht blieb Jakob vor einem erleuchteten Fenster stehen. Drinnen saß ein alter Mann, reglos, als würde er in die Vergangenheit starren. Die Kerze vor ihm war fast niedergebrannt. Jakob wollte weitergehen, doch etwas hielt ihn fest. Er sah den Mann an – und im matten Spiegel des Fensters sah er sich selbst daneben, jünger, unsicherer, mit den Schatten seiner eigenen Fehler im

Gesicht. Der Mann hob den Blick, als hätte er Jakob bemerkt, und nickte langsam, wissend. In diesem stillen Nicken lag kein Vorwurf, nur Anerkennung: Auch du trägst Schatten. Und das ist in Ordnung. Der Wind löschte die Kerze, und Jakob ging weiter – mit einem Herz, das ein wenig leichter atmete. 2. Nacht – Das Tuch im Schrank (Erinnerung als Kraft) Am nächsten Abend flatterte im Wind ein altes Wolltuch aus dem Haus heraus. Keiner hatte die Tür öffnen sehen. Doch jeder erkannte den Geruch von Lavendel, der wie ein sanfter Gruß einer

längst fortgegangenen Liebe durch die Kälte zog.

In der zweiten Rauhnacht hörte Jakob, wie ein Holzscheit im Ofen einer kleinen Hütte knackte. Ein vertrauter Klang aus seiner Kindheit, als er beim Großvater am Herd gesessen hatte. Er blieb stehen, lauschte. Mit jedem Knacken kehrte ein Stück Vergangenheit zurück: die Handschrift des Großvaters, die Wärme seiner Stimme, der Geruch nach Harz und Rauch. Es war bittersüß – doch Jakob merkte, wie diese Erinnerung stärker machte, nicht schwächer. Er lächelte leise. Vergangenheit ist nicht nur Schmerz. Sie ist ein Werkzeug. Und

er ging weiter, als trüge er den alten Herd nun ein Stück in seinem Inneren. 3. Nacht – Der Baum im Schnee (Die Kunst des Loslassens) Am dritten Abend fand man im Garten des Hauses einen einzelnen Ast, sorgsam in den Schnee gelegt. Daneben leichte Fußspuren, die erst zögerten – und dann entschlossen weiterliefen. „Der Baum am Fluss“ An der Brücke über den gefrorenen Fluss stand ein einzelner Baum, der selbst im Winter ein paar letzte, vergilbte Blätter festhielt. Als Jakob kurz verweilte, kam eine

plötzliche Böe auf – und ein einziges Blatt löste sich. Es kreiste, leicht und frei, hinunter zum Eis. Jakob verstand. Manche Dinge bleiben lange, bis ein stiller Moment kommt, an dem sie sich von selbst lösen. Er atmete tief ein, und mit diesem Atem ließ er eine Sorge los, die er viel zu lange mit sich getragen hatte. Der Wind schien zu nicken. 4. Nacht – Der Mann, der lauschte (Geduld und Wachsamkeit) In der vierten Nacht hörten die Dorfbewohner zum ersten Mal seit Monaten etwas Seltsames: Nichts. Keine Axt, keine Hunde, keine

Schritte. Nur Stille, die dichter war als Nebel. Und wer genau hinsah, erkannte einen alten Mann im Fenster, der einfach lauschte – als wäre Geduld selbst eine Kunst. „Die Stunde, die nicht verging“

In der vierten Rauhnacht blieb Jakob an einer Wegkreuzung stehen, weil er glaubte, Schritte zu hören. Er wartete. Eine Minute. Zwei. Fünf. Der Nebel schwieg. Früher wäre er weitergegangen, ungeduldig, sicher, sich geirrt zu haben. Doch diesmal blieb er. Und nach einer gefühlten Ewigkeit tauchte tatsächlich eine Gestalt auf – ein Kind, das sich

verlaufen hatte, zitternd im Frost. Hätte er nicht gewartet, hätte er es übersehen. Geduld war keine Zeitverschwendung. Geduld war Rettung.


5. Nacht – Die Laterne und der Fuchs (Verbundenheit von Leben und Tod) In der fünften Rauhnacht sahen die Kinder des Dorfes einen Fuchs über den Hof des Hauses laufen, begleitet von einem Jungen mit einer Laterne. Doch am nächsten Morgen gab es nur eine einzelne Pfotenspur – und ein Kreis aus Licht im Schnee, der nicht schmolz. „Der Stern im Wasser“ Der Fluss war

zugefroren, doch an einer einzigen Stelle pulsierte dünnes Eis. Darunter spiegelte sich ein Stern, klar und hell. Jakob blickte lange hinein. Der Stern lebte. Das Eis – beinahe Tod. Und doch berührten sich beide in diesem flüchtigen Moment. Ein Mann aus dem Viertel trat zu ihm. „Der Stern ist für meine Frau“, sagte er leise. „Sie ist vor drei Wintern gegangen.“ Jakob sagte nichts. Manche Leuchten, dachte er, begleiten uns über jeden Übergang hinweg. Er legte eine Hand auf das Geländer der Brücke und fühlte die Welt in ihrem stillen Gleichgewicht. 6. Nacht – Der Atem der

Welt (Kraft der Stille) Die sechste Nacht war die leiseste von allen. Kein Wind, kein Knacken, kein Ruf.Man hätte schwören können, die Welt hätte den Atem angehalten. Nur auf dem Dachfirst stand eine Frau und hörte der Stille zu – bis sie begriff, dass der Winter nicht schweigt, um zu drohen, sondern um uns an uns selbst zu erinnern. Die sechste der Raunächte war so still, dass Jakob seinen eigenen Atem hörte – und den Atem der Stadt. Kein Hund bellte, kein Fenster schlug, kein Schritt hallte. Die Stille war so groß, dass sie

ihn fast schüchterte. Doch dann merkte er, dass in dieser Ruhe etwas kostbares lag: Gedanken wurden klarer, Sorgen kleiner, das Herz weiter. Die Stille sprach, ohne ein Wort zu sagen: Nichts ist verloren. Er stand lange so da, bis die ersten Schneeflocken begannen, die Welt sacht zu verwandeln.


„Der Atem der Nacht“ In der vierten Rauhnacht hielt das ganze Dorf den Atem an. Kein Hund bellte, kein Türscharnier krächzte, kein Wind wehte. Es war, als lauschte die Welt auf sich selbst. Nur Mirja stand draußen im Hof und

spürte, wie die Stille sich um sie legte wie ein zweites Fell. Da begriff sie, was sie das ganze Jahr über überhört hatte: Ihr eigenes Herz. Es schlug ruhig, langsam, klar. „Du lebst“, sagte die Stille. „Jetzt hör endlich hin. Und sie tat es – zum ersten Mal seit langer Zeit. 7. Nacht – Der neue Name (Mut zur Transformation) In der letzten Nacht schließlich sah man einen Wanderer das Haus verlassen. Er trug keinen Mantel, keine Last, nur

einen neuen Namen, den niemand kannte. Er ging den Pfad hinunter, fest, ruhig, als hätte er im alten Haus nicht nur ein Dach gefunden – sondern sich selbst.

„Die Spur im Schnee“ In der letzten Rauhnacht sah Jakob seine eigenen Fußspuren im frischen Schnee. Sie führten zurück – ein Weg, den er gegangen war. Doch vor ihm lag unberührtes Weiß. Er wusste, dass er ab morgen wieder derselbe Alltag erwartete, dieselben Wege, dieselben Schatten. Aber dieser Schnee schien ihm zuzuraunen: Du darfst dich verändern. Jeder neue Schritt ist ein neuer Mensch. Er setzte den Fuß nach vorne, tief in die weiße Fläche. Und

spürte, wie etwas in ihm sich neu ordnete – leise, aber unumkehrbar. Wenn du willst, kann ich alle sieben Geschichten auch als ein zusammenhängendes Kapitel schreiben – oder jeden Punkt weiter ausbauen, länger, dichter, winterlicher. Sag mir einfach, wie weit du gehen möchtest.

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Am Morgen nach der siebten Nacht war das Haus wieder dunkel. Keine Spur, kein Licht, keine Schritte. Nur die Geschichten blieben. Die Leute sagten, das Haus nehme jedes

Jahr neue Gäste auf – jene, die bereit sind, sich anschauen zu lassen. Und wer in einer Rauhnacht still stehenbleibt und lauscht, der hört vielleicht die nächste Geschichte, die sich im Gebälk sammelt.

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Hörbuch

Über den Autor

KatharinaK
Ich erinnere mich noch gerne meiner allerersten Zeilen - ein Schulgedicht:
Der Winter ist ein Bösewicht,
die Bäume tragen Schneegewicht,
die Stämme sind kahl
und so schwarz wie ein Pfahl,
die Felder sind weiß
und auf dem See liegt Eis.
In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich mein Schreibstil sicher geändert - ist erwachsen geworden -, aber die Freude am Schreiben ist ungetrübt.

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Buhuuuh Sehr tolles Cover Katharina
Vor ein paar Wochen - Antworten
Buhuuuh LESEZEICHEN drin.
Vor ein paar Wochen - Antworten
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