
Der Wind heulte durch die Gassen, trieb den Nebel wie graues Wasser durch die leeren Straßen. Niklos spürte, wie sein Herz klopfte, hart und schnell, ein Kribbeln zwischen Aufregung und Angst. „Wir sollten vorsichtig sein“, murmelte er, doch seine Stimme klang unsicher – selbst er spürte, dass Vorsicht in dieser Nacht nur ein schwacher Schild war.
Piet scharrte ungeduldig mit den Flügeln, die Federn vibrierten. „Ach komm schon, Niklos! Wir schaffen das. Wir sind Krampusse, wir fürchten uns vor nichts.“ Doch Niklos sah die Unsicherheit in seinen Augen, wusste, dass Mut manchmal nur die Angst übertönte. Klas schlug die Fäuste in die Luft, lachte
übertrieben, als wollte er die Spannung zerreißen. „Ihr denkt zu viel nach! Das ist ein Abenteuer!“ Bartl hingegen blieb stumm, die Hände tief in den Taschen, die Augen wie dunkle Seen. Er spürte die Kälte, die Angst, und die Verantwortung, dass jeder von ihnen in dieser Nacht überleben musste – wenn auch nur für einen Moment. Sie hatten den Martinstag ausgesucht. Nicht, um Laternen zu tragen oder Lieder zu singen. Nein. Sie wollten die Grenze testen – zwischen Licht und Dunkelheit, Ordnung und Chaos. Jeder Schritt durch den Nebel war ein Triumph der Dreistigkeit, jeder Atemzug gefüllt mit dem Rauch des verbotenen Spiels.
„Hier endet euer Spiel.“ Die Stimme schnitt durch die Nacht wie kaltes Eisen. Knecht Ruprecht trat aus den Schatten, den Stab fest in der Hand. Niklos erstarrte. Piet flatterte aufgeregt, Klas’ Lachen starb in der Kehle, Bartl schloss die Augen, den Atem anhaltend. Ruprecht bewegte sich wie eine dunkle Welle, langsam, unaufhaltsam. Mit jedem Schlag seines Stabs verschwanden die Krampusse nacheinander: Niklos versuchte zu fliehen, doch Rauch verschlang ihn. Piet kämpfte, schlug die Flügel, doch der Stab war schneller, präzise. Klas, der immer gelacht hatte, sah seine eigenen Hände zittern, als der Rauch ihn umhüllte. Bartl blieb stehen,
das Herz klopfend, und verschwand als letzter. Die Stille danach war drückend. Ruprecht sank auf die Knie, den leeren Sack neben sich. Die Last des Wächters lag schwer auf seinen Schultern, doch das Gleichgewicht war wiederhergestellt. Er wusste, das Böse würde zurückkehren. Die Krampusse waren nicht tot, nur zurückgezogen – wie Schatten, die auf den richtigen Moment warteten. Am Morgen lag das Dorf still unter einer Schneedecke. Kinder liefen lachend durch die Straßen, Laternen flackerten. Erwachsene bereiteten den Umzug vor, ahnungslos, dass die Nacht zuvor ein Spiel zwischen Licht und Dunkelheit
gewesen war.
Und in der Kälte, wenn Frost die Luft prickeln ließ, konnte man das entfernte Läuten hören, das Echo alter Geschichten. Ein Ruf. Ein Flüstern von Angst und Mut, von Verlust und Überleben. Ein Erinnern daran, dass der Wächter immer wacht – und dass Dunkelheit niemals endgültig verschwindet.
Krampus Niklos Wenn der Wind über die schindelgedeckten Dächer der Alpen fährt und der Mond wie ein glühendes Auge zwischen den Wolken hängt, kehrt Krampus Niklos zurück.
Er schreitet durch Gassen, in denen kein Hund bellt, kein Fenster leuchtet. Nur das Knirschen seiner Schritte und das ferne Läuten einer unsichtbaren Glocke künden von seiner Ankunft. Sein Zylinder ist schief, sein Mantel aus Schatten gewoben, und aus seiner Pfeife steigt Rauch, der sich zu Gesichtern formt – flüchtigen Geständnissen, die der Nacht entrinnen. In den glühenden Tiefen seiner Augen tanzt das Feuer der Erkenntnis. Er sieht nicht nur, wer schlecht war, sondern warum. Kinder flüstern, er stehle Seelen. Alte sagen, er bringe Erinnerung. Die Wahrheit liegt dazwischen, wie Frost auf altem Holz: schön, brüchig, gnadenlos.
Er trägt in einer Hand eine Kette aus Reue, in der anderen einen Stab, auf dessen Spitze ein Zahnrad kreist – angetrieben von Schuld. Jede Umdrehung misst ein Unrecht, das noch nicht gesühnt ist. Vor seinen Schritten flieht die Lüge, und wer ihm begegnet, erkennt sich selbst im Flackern seiner Pfeife. Er spricht leise, doch seine Worte hallen in den Knochen: „Vergib, bevor du vergiftest. Bereue, bevor du vergehst.“ Und manchmal, wenn ein Haus still bleibt und das Herz darin schwer, klopft er an. Nicht laut – nur dreimal, mit der Geduld eines alten Gottes.
Dann bleibt die Welt kurz stehen, und der Atem des Schlafenden friert zu Glas.
Am Morgen liegt ein Zahnrad auf der Schwelle.
Man sagt, wer es findet, hat noch Zeit, sein Leben zu richten.
Doch wehe dem, der es liegen lässt – denn dann dreht sich die Welt ohne ihn weiter.
Wenn der Frühling kam, löste Niklos sich im Dunst der Städte auf. Er zog durch die engen Gassen, wo die Menschen eilten, ohne aufzusehen. Er saß auf Kirchendächern, an Kneipenecken, in Zügen voller Flüstern – und überall, wo Zweifel wuchsen, legte er einen Funken
hinein. Seine Pfeife brannte nie heller als in jenen Momenten, da jemand zum ersten Mal bereute oder zum letzten Mal log. Er war kein Richter. Nur ein Spiegel im Nebel.
Und manchmal, wenn eine Seele den Mut fand, sich selbst zu sehen, stieg aus dem Rauch ein stilles Lächeln.
Das war Niklos’ Werk.
Krampus Klas
Wenn der Winter sich über die Berge legt und die Luft nach Holzrauch und Schnee riecht, zieht Krampus Klas durch die Dörfer. Kein Donnern, kein Bellen der Hunde kündigt ihn an – nur ein leises Pfeifen, eine Melodie, die klingt, als
würde der Wind scherzen. Sein Gesicht trägt ein Lächeln, das zugleich wärmt und warnt. In seinen Augen blitzt etwas wie Spott, doch auch Sanftmut – das Wissen um die kleinen Schwächen der Menschen, die er liebt und neckt. Seine gestrickte Mütze hängt schief, die Bänder tanzen im Wind wie Narrensymbole aus vergessener Zeit. Er klopft nicht an Türen. Er steht einfach da – lässig, mit der Pfeife im Mund, als sei er ein Nachbar, der auf ein Schwätzchen vorbeikommt. Doch wer ihm zu lange in die Augen sieht, spürt ein seltsames Ziehen im Herzen – eine Erinnerung daran, was man besser hätte tun, oder lieber hätte lassen sollen.
Krampus Klas lacht nicht laut. Er kichert, fast lautlos, wie ein Geist, der zu viel weiß, um ernst zu bleiben. Und dann schenkt er, ganz ohne Prunk, kleine Dinge: einen Tannenzapfen, der nicht gefroren ist. Eine Münze aus altem Kupfer. Einen Windstoß, der den Kamin wieder brennen lässt.
Doch wehe, wer seine Geschenke verachtet. Denn er nimmt nichts mit, was ihm nicht zusteht – aber er lässt das Gewissen frieren. Man sagt, wo Klas war, bleibt die Luft weicher, das Haus wärmer, die Nacht kürzer. Und manchmal, wenn das Jahr stirbt und der Schnee die Welt neu schreibt, hört
man sein Pfeifen im Nebel – ein freundliches, spöttisches Lied, das selbst den Winter zum Schmunzeln bringt.
Klas zog weiter, wo das Licht noch wärmte. Er mischte sich unter die Märchenerzähler, die Spielleute und Narren. Sein Lachen war ansteckend – so sehr, dass niemand merkte, dass jedes seiner Späße ein Prüfstein war. Denn wer über alles lacht, verliert irgendwann die Richtung. Und wer gar nicht mehr lacht, verliert sein Herz. So prüfte Klas die Menschen, mit Schalk und Spiegelblick, und manchmal, wenn die Nacht am lautesten lachte, sah man zwischen zwei Feuern einen Schatten
tanzen, der nie ganz Mensch und nie ganz Dämon war.
Krampus Bartl
Tief unten, wo Wurzeln wie Knochen wachsen und Steine alte Lieder summen, ruhte Bartl. Er war zum Teil des Berges geworden – seine Ketten hatten sich in Adern aus Erz verwandelt, sein Atem war der Dampf, der aus den Höhlen aufstieg. Er wachte über die Verlorenen: die Vergrabenen, Vergessenen, die, die nie wieder heimfanden. Manchmal, wenn ein Wanderer zu lange im Schneesturm irrte, öffnete sich eine Spalte, und eine warme Hand aus Fels
führte ihn heim. Am Morgen blieb nur eine Spur im Schnee zurück – und ein fernes, dumpfes Kettenklirren, so weich wie Dankbarkeit.
Wenn die Nächte im Tal so schwarz werden, dass selbst der Schnee das Licht vergisst, steigt Krampus Bartl aus dem Wald. Sein Atem riecht nach Harz und Ruß, und der Frost folgt ihm wie ein gehorsamer Hund. Er trägt ein Fell, das nach Erde und Zeit duftet, und sein Bart ist ein Sturm aus Grau, in dem sich das Flüstern der Jahrhunderte verfängt.
Kinder wagen kaum zu atmen, wenn sein Schatten an den Fenstern vorbeizieht.
Sie wissen: Wo Bartl geht, prüft er Herzen. Nicht das laute, sondern das verborgene Böse sucht er – jene kleinen Grausamkeiten, die in Stille wachsen. Seine Hörner schneiden in den Himmel wie Runen der Vergeltung, und seine Augen glimmen wie Kohlen unter Schnee. Manchmal, so heißt es, trägt er einen Sack aus alten Versprechen, gefüllt mit Dingen, die nie gehalten wurden. Und wer seinen Namen verspottet, hört nachts das Scheppern seiner Kette – nicht laut, sondern unaufhaltsam, wie das Klopfen des eigenen Gewissens. Doch Bartl straft nicht mit Hass. Er straft, um zu reinigen.
Er zieht durch Dörfer, wo Gier wie Eiszapfen an den Dächern hängt, und löscht die Lügen aus, die zwischen Menschen wachsen. Am nächsten Morgen findet man Spuren im Schnee – groß, schwer, unregelmäßig – und manchmal ein Stück Fell am Zaun, das nach Schwefel riecht. Die Alten sagen, wer Bartl sieht, soll ihm danken, nicht fliehen. Denn wo er schreitet, wird das Dunkel ehrlicher, das Herz klarer, die Luft reiner.
Und wenn der Winter am tiefsten ist, kniet er still im Wald, raucht seine Pfeife – und bewacht den Schlaf der Welt.
Krampus Piet Wenn Nebel über die Dörfer kriecht und das Echo der Berge sich selbst antwortet, dann zieht Krampus Piet durch die Nacht. Man hört ihn, bevor man ihn sieht – das dumpfe Klirren seiner Ketten, das leise Rasseln der Glocken, ein Rhythmus wie der Puls der Furcht. Er kommt nicht schnell. Er kommt pünktlich. Immer. Sein Körper ist in Felle gehüllt, die nach Rauch und Regen riechen, und über seiner Brust hängen Trophäen aus verrostetem Eisen: kleine Haken, alte Nägel, Reste vergangener Versprechen. Sein Gesicht – eine Holzmaske, dunkel
gebrannt, mit Hörnern, die sich wie Wurzeln in die Luft bohren. Und zwischen den Zähnen steckt der Schatten eines Lächelns – kein böses, kein gütiges, nur wissend. Die Alten sagen, Piet sei derjenige, der zählt. Nicht die großen Taten, sondern die kleinen. Das ausgelassene „Danke“, das gebrochene Wort, die Hand, die man nicht reichte. Für jede solche Schuld läutet eine seiner Glocken – kaum hörbar, aber unerträglich nah. Wenn er an Häusern vorbeizieht, spürt man, wie die Luft dicker wird, als hielte sie den Atem an.
Kinder verstecken sich unter Decken, Erwachsene starren ins Feuer und hoffen, dass es wärmer brennt. Doch Piet klopft nicht, er ruft nicht. Er hält nur inne, lauscht – und wenn Reue flackert, lässt er ein Stück seines Rauchs zurück, damit die Nacht nicht vergisst. Am Morgen bleibt ein Abdruck im Schnee, tief und unregelmäßig, als hätte jemand mit einem Herz aus Stein dort gestanden.
Und wer genau hinhört, wenn der Wind die Dächer streift, hört ihn murmeln: „Ich bin nicht das Böse. Ich bin die Erinnerung, dass ihr’s besser könnt.“
Piet wanderte die stillen Wege, wo Glocken nur noch in Erinnerungen läuten. Er trug eine Kette aus Ziffern, aus Jahren, aus Sünden. Jede klirrte leise, wenn jemand sich verlor. Er war kein Rächer – nur ein Chronist. Er zählte nicht, um zu richten, sondern damit nichts vergessen werde. Denn Vergessen ist die schlimmste Strafe.
In manchen Nächten, wenn in Dörfern die Tiere unruhig wurden und die Uhren stillstanden, wusste man: Piet ging vorüber. Er wog das Herz der Welt – und schrieb die Zahl in den Schnee.
Krampus Ruprecht Ruprecht blieb, wo er immer gewesen war: am Rand der Zeit. Er saß am Tor zwischen Jahr und Jahr, sein Buch auf dem Schoß, die Rute neben sich, sein Blick wie glühende Kohlen unter der Kapuze. Er schrieb, ohne Tinte, ohne Feder – seine Worte erschienen im Eis, im Atem, im Klang von Holz auf Stein. Was er schrieb, geschah. Was er schwieg, verging. Doch manchmal, wenn das Jahr sich neigt und Kinder im Traum seinen Namen flüstern, hört man ein sanftes Kratzen, als würde jemand eine neue Zeile hinzufügen: „Wir wachen noch.“
So gehen sie getrennt – und doch nie allein. Denn in jeder ihrer Welten spüren sie, wenn einer von ihnen atmet, lacht, zählt, schweigt.
Und in der längsten Nacht, wenn der Wind nach Eisen riecht, finden sie sich
wieder, auf einer Lichtung aus Frost und Erinnerung, um das Feuer von Niklos zu teilen – und das Schweigen, das nur alte Freunde verstehen.
Die Fünf Schatten des Winters Wenn das Jahr stirbt und die Welt still wird wie ein Gebet im Eis, kehren die Fünf zurück. Nicht als Feinde, nicht als Retter – als Spiegel.
Krampus Niklos, der Weiser, geht voran. In seinem Bart glüht der Rauch der Erkenntnis, und sein Zahnrad misst die Zeit der Reue. Er trägt das Wissen um Schuld wie eine Krone aus Frost, schweigend, unbestechlich. Krampus Klas folgt ihm, leichtfüßig, lachend. Er pfeift den Wind herbei, neckt die Sterne, verteilt kleine Wunder in die Taschen derer, die träumen können. Sein Lächeln ist das Zwielicht – sanft und spöttisch zugleich. Hinter ihnen stapft Krampus Bartl, schwer wie Gestein. Er trägt das Gewicht der Lügen, die zu Schnee geworden sind. Sein Atem gefriert an den Fenstern derer, die sich selbst verleugnen.
Er straft nicht – er läutert.
Krampus Piet kommt lautlos. Seine Ketten klingen wie Erinnerung, seine Glocken wie Herzklopfen. Er zählt, was niemand beichten will – die kleinen Grausamkeiten, die still geblieben sind. Seine Schritte riechen nach Eisen und Wahrheit. Und zuletzt schreitet Krampus Ruprecht, der Mittler. Halb Mensch, halb Dämon, der Hüter des Gleichgewichts. Er trägt die Rute und das Mitleid, die Strafe und das Sehnen, und in seinen Augen ruht die Melancholie des Lichts, das Dunkel braucht, um zu leuchten.
Wenn sie zusammen gehen, bebt der Schnee nicht – er hört zu.
Und irgendwo, tief im Winter, flüstert der Wind: „Seid gut – nicht aus Furcht, sondern weil selbst die Schatten euch sehen.“
Wie die Krampusse einander fanden Der Winter kam früher in jenem Jahr. So früh, dass selbst die Krähen schweigend flogen und die Sonne sich kaum noch über die Gipfel wagte. Es war die Zeit, in der sich die Grenzen verwischten – zwischen Dorf und Wald, zwischen Mensch und Mythos, zwischen Sünde und Vergebung. In jener Kälte erwachte Krampus Niklos. Er stand auf einer gefrorenen Lichtung,
wo der Schnee im Mondlicht wie zerschlagene Spiegel glitzerte. Seine Pfeife glomm schwach, sein Zylinder war vom Reif bedeckt. Er wusste: Etwas war anders. Der Wind trug Stimmen, die nicht von dieser Welt waren. Aus dem Nordhang kam Krampus Bartl, schwerfällig wie ein Stein, der sich entschlossen hatte, zu gehen. Sein Fell war voller Eiszapfen, seine Ketten zitterten leise, als sprächen sie Gebete aus Eisen.
„Du riechst nach Denken“, brummte Bartl und blickte Niklos an. „Nach Menschen und ihren Zweifeln.“ Niklos neigte den Kopf. „Und du nach
Erde und Blut. Vielleicht brauchen wir einander.“ Noch bevor Bartl antworten konnte, erklang ein Pfeifen – hell, spöttisch, fast fröhlich. Krampus Klas sprang aus dem Nebel wie ein Kind, das zu spät zum Fest kommt. Seine Mütze baumelte, und sein Lächeln war so schief wie der Mond. „Na endlich Gesellschaft! Ich dachte schon, der Winter will mich ganz allein haben.“ Niklos zog die Brauen hoch. „Du bringst Licht, aber du weißt nicht, wem du es gibst.“ „Und du bringst Schatten, ohne zu fragen, wer ihn braucht“, erwiderte Klas
grinsend. Da vibrierte der Boden. Ein metallisches Läuten kam näher – unregelmäßig, aber mit Rhythmus, wie ein Herz aus Bronze. Krampus Piet trat hervor, hochgewachsen, mit Augen, die alles sahen. Er sprach nicht sofort, sondern schüttelte langsam die Ketten an seinem Gürtel. „Ich habe euch in meinen Zählungen gefunden“, sagte er schließlich. „Fünf Schatten, die keiner mehr trennt. Die Zeit hat’s so gewollt.“
„Fünf?“ fragte Klas und grinste. „Wir sind vier.“ „Noch nicht,“ flüsterte Piet. „Der Letzte kommt, wenn die Nacht ihr Herz
verliert.“ Und tatsächlich – kurz darauf wurde der Schnee still. Kein Wind, kein Laut. Dann hob sich der Nebel, und Krampus Ruprecht trat daraus hervor. Er war größer als die anderen, älter vielleicht auch. Sein Mantel wehte, obwohl kein Wind ging, und in seinen Händen trug er Rute und Buch, Fell und Feuer. Er sah sie nacheinander an – Niklos, den Weisen; Klas, den Schelm; Bartl, den Wächter; Piet, den Richter – und sagte leise: „Ihr gehört nicht zusammen. Doch ohne einander seid ihr unvollständig.“ Sie standen einen Moment schweigend,
während der Frost knisterte. Dann fragte Niklos: „Warum jetzt? Warum hier?“ Ruprecht antwortete: „Weil die Menschen uns vergessen. Sie rufen unsere Namen, doch nicht unsere Bedeutung. Sie spielen Furcht – aber sie fürchten sich nicht mehr. Und ohne Furcht wird kein Herz rein.“ Da sahen sie sich an – fünf Wesen aus alten Zeiten, geboren aus Geschichten und Schuld, und sie wussten, dass ihre Aufgabe neu beginnen musste. Sie beschlossen, durch die Lande zu ziehen. Niklos lehrte sie, wie man die Wahrheit
im Dunkeln findet. Klas brachte ihnen das Lachen bei, das heilt, ohne zu schonen. Bartl bewachte ihr Schweigen, wenn Worte zu leicht wurden. Piet zählte die Schritte der Reue. Und Ruprecht – Ruprecht schrieb alles auf, in ein Buch, dessen Seiten aus gefrorenem Atem bestanden. Sie zogen von Tal zu Tal, und wo sie vorbeikamen, träumten die Menschen seltsam. Einige wachten auf mit Tränen, andere mit einem Lächeln, und keiner wusste, warum. Kinder schworen, sie hätten fünf Schatten im Schnee gesehen, Hand in
Hand, und Alte erzählten, sie hätten im Wind fünf Stimmen gehört – eine, die mahnte, eine, die lachte, eine, die brummte, eine, die zählte, und eine, die schwieg. Als die Sonne zurückkehrte, verschwanden sie – jeder in seine Welt. Niklos kehrte in den Rauch der Gedanken zurück, Klas in das Lachen der Kinder, Bartl in den Wurzelgrund der Berge, Piet in das Ticken der Gewissen, und Ruprecht in das stille Feuer hinter den Augen der Gerechten.
Doch einmal im Jahr, wenn die Dunkelheit am tiefsten ist und der Schnee noch kein Licht kennt, hört man sie wieder.
Nicht sehen – hören: Fünf Schritte. Fünf Atemzüge. Fünf Spiegel. Und irgendwo, weit oben im Winterhimmel, flackert ein leises, rauchiges Licht – die Pfeife von Krampus Niklos, angezündet von allen fünfen zugleich. Die Nacht der Krampusse Der Wind heulte durch die Gassen, als Niklos, Piet, Klas und Bartl sich durch den Nebel schoben. Sie hatten den Martinstag ausgesucht, die Nacht, bevor das Dorf in Laternenlicht getaucht würde. Kein Laut außer dem Knirschen ihrer schweren Stiefel im feuchten Gras. Ihr Ziel: Sankt Martin, bevor der Umzug
begann. Doch sie wussten, dass sie diesmal nicht ungestört bleiben würden. Knecht Ruprecht, der Wächter zwischen Licht und Schatten, beobachtete sie aus der Ferne, ein finsteres Lächeln unter dem Kapuzenrand. Die Krampusse glitten näher, und die Spannung zog sich wie ein seidenes Band durch die Nacht. Das Dorf schlief, doch die Welt zwischen Licht und Dunkelheit wachte. Und so begann das Spiel, ein Tanz aus Angst und Mut, der im Schatten der Laternen enden würde. Niklos schlich durch die Nebelschwaden, Piet folgte dicht, während Klas und Bartl die Seiten flankierten. Sie spürten das Herz des Dorfes, die Wärme der Häuser,
die flackernden Lichter in den Fenstern. Ihr Atem bildete kleine Nebelwölkchen in der kalten Luft. Ruprecht trat aus den Schatten, seinen Stab erhoben. Ein Windstoß erfasste die Krampusse, ließ ihre Umrisse flackern. „Hier endet euer Spiel“, sagte er mit tiefer Stimme. Die Krampusse hielten inne, die Augen glühten im Nebel. Es war ein Tanz zwischen Gestern und Heute, zwischen Schrecken und Schutz. Ruprecht bewegte sich wie ein Schatten, dessen Licht sich weigerte, erloschen zu werden. Niklos fauchte, Piet schlug die Flügel aus, Klas lachte, doch Bartl blieb stehen. Ein Schlag des Stabs – und der erste von ihnen verschwand in Rauch und
Schweigen. Die Nacht war nicht vorbei, doch das Gleichgewicht war wiederhergestellt. Der Nebel hatte sich verzogen. Von den vier Krampussen war nichts mehr zu sehen – nur schwache, schwarze Schlieren auf dem Kopfsteinpflaster. Ruprecht stand noch immer da, den Sack leer, den Rücken gebeugt. Er wusste, es war nicht vorbei. Das Böse stirbt nicht, es zieht sich zurück.
Lisa, die auf der Empore der Kirche stand, spürte die Schatten und ihre Stimmen. Sie sah Ruprecht und erkannte die Last, die er trug. Die Krampusse waren nicht tot, nur zurückgedrängt. Doch in dieser Nacht war etwas anderes
im Spiel. Das Licht des Heiligen Martin selbst griff in die Dunkelheit ein, und Ruprecht rief den Namen, der die Nacht teilen konnte. Ein Reiter, halb Licht, halb Schatten, erschien über dem Platz. Die Krampusse wichen zurück, schrien und lösten sich auf. Nur Niklos blieb kurz, bevor auch er verschwand. Stille senkte sich über das Dorf, und Ruprecht sank auf die Knie, erschöpft, aber siegreich.
Am Morgen war das Dorf still. Ruprecht lag auf dem Platz, nicht tot, aber erschöpft. Lisa kniete neben ihm. Sie spürte, dass die Nacht nicht umsonst gewesen war. Später, am Waldrand, stellte sie eine kleine Laterne auf den
Boden. Ruprecht erschien, jünger, klarer, ohne Sack, nur mit einem Stab. Er erklärte, dass die Krampusse schlafen würden, bis sie wieder gebraucht würden. Der Winter kam früh. Schnee bedeckte den Platz, das Dorf lebte weiter, die Kinder lachten. Lisa stellte jedes Jahr eine Laterne bei den weißen Pflanzen auf, die nach der Nacht gewachsen waren – die Ruprechtsblumen. Sie wusste: Licht leuchtet nur, wenn es die Dunkelheit kennt. Und manchmal, in den kalten Winternächten, konnte man das entfernte Läuten hören, das Echo alter Geschichten. Ein Ruf, ein Erinnern, dass der Wächter immer wacht.
Am Morgen lag das Dorf still da. Ein fahles Grau hing über den Dächern, und der Nebel war fort, als hätte ihn jemand fortgeatmet. Die Straßen waren leer. Nur auf dem Platz vor der Kirche stand noch der Geruch nach Rauch. Lisa war die Erste, die hinaustrat. Die Kinder schliefen in den Kirchenbänken, zusammengerollt wie Katzen, während das Kerzenlicht sie wärmte. Sie trat in den kalten Morgen, den Mantel eng um sich geschlagen. Ruprecht lag in der Mitte des Platzes, dort, wo der Rußkreis war. Nicht tot — das sah sie sofort.
Aber erschöpft, ausgehöhlt, wie ein Mensch, der zu lange in der Dunkelheit gestanden hat. Sie kniete sich neben ihn. Er atmete flach, die Augen halb geöffnet. Ein schwaches Lächeln zog über sein Gesicht. „Sie sind fort“, flüsterte sie. „Ja“, murmelte er. „Bis zum nächsten Mal.“ Ein kalter Wind zog durch die Gassen, wirbelte Asche auf. Ein paar Leute traten zögerlich aus den Häusern. Der Pfarrer kam, den Mantel umgelegt, den Blick voller Fragen, die er nicht zu stellen wagte.
„War es … ein Sturm?“ fragte er leise. Lisa sah ihn an. „Etwas Ähnliches“, sagte sie. Ruprecht öffnete die Augen. „Nennt es, wie ihr wollt. Aber dankt dem Licht. Es hat euch gesehen.“ Dann schloss er sie wieder. Am Abend brannten die Laternen erneut. Nicht zum Umzug — niemand wollte feiern, doch sie stellten sie an Fenster und auf Mauern, als stumme Zeichen.
Das Dorf war still, aber friedlich. Kinder spielten wieder, lachten, auch wenn sie ab und zu innehielten, als lauschten sie. Lisa stand am Waldrand, dort, wo der Nebel in der Nacht gelegen hatte.
Neben ihr eine kleine Laterne, die sie selbst gebaut hatte. Sie stellte sie auf den Boden. „Für dich“, sagte sie leise. Hinter ihr knackte ein Ast. Sie drehte sich um. Ruprecht stand da. Nicht so alt wie zuvor. Jünger fast, aufrecht. Der Bart kürzer, die Augen klarer. Er trug keinen Sack mehr. Nur einen Stab, an dessen Spitze ein kleines Eisenkreuz hing. „Ich dachte, du wärst fort“, sagte sie. „Bin ich“, antwortete er ruhig. „Aber manches kommt zurück, wenn’s gebraucht wird.“
„Und die Krampusse?“ „Sie schlafen. Tief. Vielleicht für Jahre, vielleicht für Tage. Sie sind nicht das Böse, Lisa. Nur das, was wir vergessen.“ Sie nickte, verstand halb, fühlte ganz. „Und du?“ Er lächelte. „Ich bin das Dazwischen. Immer schon.“ Er trat näher, legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Du hast das Licht gehalten. Das reicht.“
Dann wandte er sich ab. Ging in den Wald.
Sein Schritt war leicht, fast schwebend. Im Zwielicht sah sie, wie sich Nebel an seinen Füßen sammelte, als wolle er ihn zurückholen. „Ruprecht!“ rief sie.
Er drehte sich noch einmal um. „Wenn sie wiederkommen?“ fragte sie. Er nickte langsam. „Dann weißt du, wo ich bin.“ Dann verschwand er zwischen den Bäumen. Der Winter kam früh. Schnee fiel über das Tal, deckte den Platz zu, den Kreis aus Asche, die Spuren, die niemand erklären konnte.
Die Leute erzählten Geschichten – von einem Sturm, von einem Kurzschluss, von alten Bräuchen, die außer Kontrolle geraten waren. Nur Lisa schwieg. Sie unterrichtete weiter an der Schule, erzählte den Kindern von Sankt Martin –
aber als sie die Geschichte vom Mantel teilte, fügte sie still hinzu: „Und manchmal teilt man nicht nur den Mantel, sondern auch die Dunkelheit.“ Die Kinder nickten, ohne zu verstehen, doch in manchen Augen funkelte etwas – das stille Wissen, dass es mehr gibt als Licht und Schatten.
Eines Nachts, kurz vor Weihnachten, als das Dorf eingeschneit war und der Wind um die Dächer heulte, hörte Lisa es wieder: Ein dumpfes Läuten aus der Ferne, tief, alt, nicht von dieser Welt. Sie ging ans Fenster. Draußen, auf dem Hügel oberhalb des Waldes, bewegte sich eine Gestalt. Groß,
einsam, den Stab in der Hand. Ruprecht. Er sah hinunter zum Dorf, und als er den Kopf hob, glomm für einen Augenblick ein schwaches Licht an seiner Brust – als trüge er nun selbst die Laterne. Dann verschwand er in der Dunkelheit. Im Frühling wuchsen an der Stelle, wo er gestanden hatte, kleine, weißblühende Pflanzen. Niemand kannte ihren Namen. Aber sie leuchteten nachts leicht, als hielten sie winzige Glühlichter in ihren Kelchen. Die Kinder nannten sie „Ruprechtsblumen“. Und jedes Jahr, wenn der Martinstag kam, stellte Lisa eine Laterne neben sie.
Nicht aus Pflicht. Aus Erinnerung. Und weil sie wusste, dass Licht nur dann wirklich leuchtet, wenn es die Dunkelheit kennt. Der Himmel über dem Tal war in jenem Jahr besonders klar. Und wenn in der Nacht der Wind von den Bergen kam, konnte man manchmal ein fernes Klingen hören, als streifte eine Kette über Stein – nicht bedrohlich, eher wie das Echo einer alten Geschichte, die sich selbst erzählt. Manche sagten, es sei der Wind. Andere sagten, es sei der Ruf der Krampusse, die im Schlaf ihre Namen murmeln. Aber Lisa wusste es besser. Sie lächelte in die Dunkelheit und flüsterte: „Wach,
wenn’s wieder Zeit ist.“ Dann blies sie die Laterne aus. Und das letzte Licht glomm noch einen Moment nach, wie ein Herzschlag zwischen den Welten.